Serenade

Abendlied

 

 

Mystery-Thriller

von

Quistis Fall


Alle Rechte vorbehalten.

Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.

Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbilds ist nur mit Zustimmung des Verlags möglich.

 

Die Handlungen sind frei erfunden.

Evtl. Handlungsähnlichkeiten sind zufällig.

 

 

www.verlag-der-schatten.de

Erste Auflage 2019

© Quistis Fall

© Coverbilder: depositphotos carballo, Mcklog, maxterdesign

Covergestaltung: © Shadodex – Verlag der Schatten

© Bilder: depositphotos pauljune (Kreuz mit Flügeln), SusaZoom (Jubilee Clock), ncoulsa (Treppe), VadimVasenin (Kreuz), carballo (Turm), andreviegas (Bibliothek), charlos.ukr.net (Orchidee), sholas (Truhe), digitalsignal (Saint John’s Co Cathedral), shalumx13 (blutige Hände), albund (Gang Anstalt), Marsea (»Greyfriars«), HenningMarquardt (Teddy), lilkar (Nebel), Rangizz (Augen »Lucy«), ruzanna (Brunnen), biopsihoz@mail.ru (Zombie), exopixel (Smiley), fotoecho (Kristall), dundanim (Auge »Eule«), Garsya (Buch, Feder, Tinte), zeferli@gmail.com (Friedhof im Nebel), leolintang (Frau mit Messer), Fotolia nj_musik (Sternenhimmel), Wikipedia Boris Afremov (Bild Afremov)

 

Lektorat: Shadodex – Verlag der Schatten

© Shadodex – Verlag der Schatten, Bettina Ickelsheimer-Förster, Ruhefeld 16/1, 74594 Kreßberg-Mariäkappel

ISBN: 978-3-946381-69-3

 

 

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Sommerferien. Für Lucy immer eine Zeit des Glücks, die sie auf Green Hall verbringen kann – einem alten Schloss in Südengland, das sich im Besitz der Familie befindet.

Diesmal wird die Vorfreude jedoch vom Tod ihrer Tante überschattet.

Dass in dem Moment, in dem die Schlossherrin starb, ein alter Fluch von Lucys Familie Besitz ergriffen hat, ahnt zu dieser Zeit noch niemand. Auch nicht, dass er eine Blutspur nach sich ziehen wird, die Lucys Leben binnen weniger Tage komplett verändern soll. Denn danach wird nichts mehr so sein, wie es einst war.

 

Was aber hat das dunkle Familiengeheimnis, das Lucy lüften kann, damit zu tun?

Und was hat es mit der neuen Haushälterin auf sich?

 

Folgt uns ins Sanatorium der Stadt und erfahrt die bittere Wahrheit, denn nur dort findet ihr die Antworten auf eure

Fragen. Doch die werden euch schockieren …

 

Inhalt

 

Teil 1 – Zerbrochene Idylle

Zwischenwelt

Kapitel 1 – Ankunft

Kapitel 2 – Green Hall

Kapitel 3 – Das Kreuz in der Asche

Kapitel 4 – Carolines Turm

Kapitel 5 – Die Beerdigung

Kapitel 6 – Der Fall

 

Teil 2 – Schuld und Sühne

Zwischenwelt

Kapitel 1 – Trauer

Kapitel 2 – Das Tagebuch

Kapitel 3 – Panik

Kapitel 4 – Vollendung

 

Teil 3 – Lügen der Erinnerung

Zwischenwelt

Kapitel 1 – Stufe 5

Kapitel 2 – Greyfriars

Kapitel 3 – Infiltrierung

Kapitel 4 – Warten

Kapitel 5 – Überfall

Kapitel 6 – Der Brunnen

Kapitel 7 – Nachforschungen

Kapitel 8 – Selbstgespräch

Kapitel 9 – Grenzpunkt

 

Teil 4 – Scherben der Erinnerung

Zwischenwelt

Kapitel 1 – Erwacht

Kapitel 2 – Das Auge

Kapitel 3 – Midas’ Gold

Kapitel 4 – Schlafende Wut

Kapitel 5 – Wall of Pain

 

Lexikon der Totenwächter

Magische Mineralien/Kristalle und ihre Wirkung

 

Autorenvorstellung

 

 

 

Widmung

 

 

 

 

Für Maren und Tim.


Teil 1 – Zerbrochene Idylle

 

Zwischenwelt

 

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Es ist dunkel und still um mich herum. Sanft gleite ich durch die kalten Schichten der Einsamkeit. Sinke und sinke in die endlose Tiefe.

Hier, im Nichts, bin ich in Sicherheit. Zufrieden ruhe ich in mir selbst und sperre alles andere aus. Keine anderen Gefühle, keine Erinnerungen und vor allem kein Leben. Diese Leere ist das Einzige, was von mir übrig geblieben ist. Und ich bin dankbar.

Die Zeit steht still. Verschwindet bedeutungslos in der Unendlichkeit. Zumindest ist das meine Fantasie. Ein schöner Traum, aus dem ich nicht erwachen möchte.

Vier oder fünf Leben lang bin ich in dieser Starre. Vielleicht sind es sogar mehr. Viel mehr.

Schließlich bekommt meine Illusion Risse. Wie eine Eisfläche, die droht in tausend Teile zu zerbrechen. Der Grund dafür liegt in der Ferne. Außerhalb meines Seins. Es ist ein Versuch, mich zurückzuholen. Oder endgültig zu töten.

Ich vernehme den trostlosen Klang, der vermutlich schon immer da war, den ich aber nicht mehr ignorieren kann.

Ticktack …

Die Zeit beginnt mein Nichts zu zerstören. Wie mit unsichtbaren Fäusten, die im Rhythmus des dringlichen Geräuschs immer und immer wieder zuschlagen, durchbricht sie meine sichere Hülle. Das Eis zerbricht. Und die Scherben bringen … Blut.

Ticktack … ticktack …

Die Zeit wird schneller.

Kann Zeit schneller werden?

Mein klares Selbst zersplittert. Verschwindet in einem roten Nebel aus Trauer und Verzweiflung. Alles holt mich wieder ein. Die Unfähigkeit, mich dagegen zu behaupten, macht mich fast wahnsinnig.

Ticktack … ticktack … ticktack …

Die Bilder der Vergangenheit tanzen erneut um mich herum. Ich nehme den Geruch von Angst wahr. Es stinkt nach Schweiß und Erbrochenem. Irgendwie auch metallisch. Aber am stärksten liegt über allem eine blumige Note. Feuchte Erde, Orchideen, Lavendel … Süßlich, ekelerregend.

Ich kann mich nicht gegen diese Flut von Erinnerungen wehren. Es ist zu viel und zu heftig. Und so ist nicht mehr nur dieses furchtbare Ticken zu hören, sondern auch mein Schrei.


Kapitel 1 – Ankunft

 

13. Juli

20:44 Uhr

 

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England war schon immer meine zweite Heimat gewesen. So viele Male hatte ich meine Ferien hier verbracht. Unzählige glückliche Erinnerungen verbanden mich mit diesem Land. Jetzt war ich auf dieser Fähre und fürchtete mich praktisch davor, britischen Boden zu betreten.

Es schien völlig bizarr, dass sich all das Schöne plötzlich mit so viel Schlechtem vermischte, und ich hoffte, dieses schlimme Ereignis würde mir mein England – und all meine Pläne dort – nicht zerstören.

Ich stützte mich auf die Reling. Spürte die Kälte des Stahls durch meine gelbe Jacke und blickte nachdenklich hinab.

Das Meer war unruhig. Die Außenbeleuchtung der Fähre verursachte hektische Lichtreflexe auf der Wasseroberfläche. Jeden Augenblick wechselten sie die Position. Eine gold-schwarze Masse, die sich bedrohlich umherbewegte.

Der Wind blies mir tatkräftig ins Gesicht. Ich roch das Salz und diese unnachahmliche Frische in der Luft.

Schützend rückte ich meinen Schal zurecht. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war eine Grippe. Ich war diesen Weg angetreten, um zu helfen, und nicht, um als Belastung für alles und jeden zu enden.

Meine Finger spürten die dünne Silberkette, die sich irgendwo in dem Wirrwarr aus Stoff verfangen hatte. Erst jetzt fiel mir auf, dass es nicht mehr passend war, sie zu tragen. Ein ganzes Jahr lang hatte sie um meinen Hals gelegen. Es war so selbstverständlich geworden, dass es mir gar nicht in den Sinn gekommen wäre, sie nicht mehr umzutun. Nun hielt ich es auf einmal keine weitere Minute aus. Wir gehörten nicht zusammen – nicht mehr.

Der Kälte zum Trotz zog ich mir in einer schnellen Bewegung den Schal herunter, stopfte ihn in die linke Tasche meiner Jacke und löste den winzigen Verschluss.

Nachdem mein Hals wieder geschützt war, hielt ich mir die Kette vors Gesicht. Sie baumelte unruhig im Wind. War wohl auch unschlüssig, wohin sie gehörte.

Ich folgte mit meinen Fingern den feinen Erhebungen des Silbers nach unten. Schließlich erreichte ich den Anhänger. Es war ein kleiner Stern in einer Fassung aus Granatsteinen. Die Zacken lösten einen leichten Schmerz aus, als ich die Fingerkuppen sachte auf sie drückte.

Selbst im tristen Fährenlicht sah die Kette immer noch genauso schön aus wie an dem Tag, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte.

Wie kann etwas, das mich über so viele Monate begleitet hat, unverändert bleiben, wo doch alles andere in mir und um mich herum so anders geworden ist?, fragte ich mich traurig. Ich könnte sie ins Meer werfen. Einfach so. Dann müsste ich mich nicht mehr damit beschäftigen. Eine Sorge weniger. Fall abgeschlossen. Kein Grund mehr, einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden.

Die Silberkette glitt mir spielerisch durch die Finger.

Wenn ich sie den Tiefen des Meeres preisgebe und beobachte, wie sie im schwarzen Wasser versinkt, wäre das schön dramatisch. Wie in »Titanic«, schoss es mir spöttisch durch den Kopf. Doch das hier war kein Film. Der Anhänger kein millionenschwerer Klunker. Und es gab auch keinen jungen DiCaprio, dem ich nachtrauerte. Da waren nur ich und die Erinnerung an etwas, mit dem ich nicht mehr viel gemein hatte. Dem ich schlicht und einfach entwachsen war. Und die Kette loszuwerden würde meine Gefühle, den Verlust, nicht verschwinden lassen.

Jetzt will ich das Ding vielleicht nicht mehr haben, aber irgendwann … Wer weiß?

Endgültigkeit war nichts, womit ich momentan viel anfangen konnte. Also kam erneut meine Jackentasche zum Einsatz und löste vorläufig das Problem.

Damit werde ich mich später befassen.

»Lucy, komm rein! Wir legen gleich an«, hörte ich plötzlich meinen Vater auf dem bis dato stillen Deck rufen.

Ich drehte mich von der Reling weg und folgte seiner Stimme. Er stand ein paar Meter hinter mir und lehnte sich an die offene Schiffstür. Ich nickte ihm schnell zu und ging dann in seine Richtung. Dabei durchzuckten Schuldgefühle meinen Körper. Wie konnte ich hier nur die ganze Zeit über so eine Nebensächlichkeit nachdenken, wo der Grund für diese Reise doch unendlich schwerer wog?

 

»Wach auf, Engel, wir sind gleich da.«

Nur widerwillig erwachte ich aus meinem Schlaf. Es fiel mir schwer, die Augen zu öffnen. Am liebsten hätte ich Moms Worte ignoriert und wäre wieder in meiner Traumwelt versunken. Sie war beinahe noch mit den Händen zu greifen. Doch die Art, wie Mom sprach, hatte etwas so Dumpfes, dass ich gar nicht anders konnte, als mich zusammenzureißen. Ihre Stimme glich der eines Walkmans, bei dem die Batterien fast alle waren. Seit heute Mittag klangen selbst Wörter wie Milch oder Cornflakes aus ihrem Mund schwer und tragisch.

Wann sie wohl wieder normal reden wird?

»Willst du was trinken?«, fragte sie mich.

Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und sah vor mir eine Wasserflasche, die sie mit ihrer linken Hand hin und her schwang. Selbst das wirkte kraftlos.

»Ja … Äh, danke.« Schnell griff ich mir die kleine Plastikflasche.

Eigentlich hatte ich keinen Durst. Aber seit Mom in diesem Zustand war, versuchte ich ihr alles recht zu machen und verhielt mich so unauffällig wie möglich. Bloß nicht im Weg stehen, nicht mit irgendwelchen Sachen nerven und kurz und knapp antworten. Nach diesem Motto hatte ich die letzten Tage strikt gelebt. Na gut, ein Mal habe ich geschwächelt, und das endete prompt mit einem Tobsuchtsanfall ihrerseits. Seitdem hielt ich mich aus allem raus.

Ich nippte kurz an dem lauwarmen Wasser, sodass sie es sah, und ließ die Flasche dann irgendwo zwischen den aufeinandergestapelten Taschen neben mir verschwinden.

Als ich wieder halbwegs wach war, spürte ich die Schmerzen in Beinen und Nacken.

Autsch!

Träge versuchte ich meine steifen Gelenke zu bewegen. Doch das war in Dads neuem Auto kaum möglich. Neben den übervollen Taschen rechts lag zu meinen Füßen ein blauer Rucksack. Er schien fast aus allen Nähten zu platzen, schließlich beherbergte er all den Kram, den ich für die Fahrt brauchte: Skizzenblock, Unmengen von Stiften, Handy, Chips, meine fast schon heiliggesprochene Nintendo Switch – plus die dazugehörigen Spiele – und das Buch, wegen dem Mom und ich uns noch am Morgen in den Haaren lagen.

All das hätte die Fahrt nach Südengland eigentlich nicht langweilig machen dürfen.

Eigentlich …

Der Plan schien perfekt gewesen zu sein. Allerdings beinhaltete er nicht den Faktor: streitende Eltern.

Bereits am gestrigen Abend regte sich Dad darüber auf, weil Mom es kategorisch ablehnte, zu fliegen. Sie hatte schon immer Flugangst, und bis vor Kurzem war es auch kein Problem gewesen, lange Fahrten mit dem Auto zu unternehmen. Aber Dad wurde vor zwei Monaten in einen Autounfall verwickelt. Bis auf ein paar Schrammen war er unverletzt geblieben. Doch längere Strecken fuhr er seitdem nicht mehr gern. Ich vermutete, dass er Angst hatte, nach ein paar Stunden zu unkonzentriert zu sein, und dass dann wieder etwas passierte, das mit aufmerksameren Augen und Reflexen vermeidbar gewesen wäre. Den ganzen Abend redete er deshalb auf Mom ein, doch noch den Flug zu buchen.

»Du weißt, dass ich Flugangst habe! Sicher werde ich nicht in eines dieser Dinger steigen«, hatte sie gefaucht.

»Du machst es dir schön einfach, was? Du willst nicht fliegen, aber selbst fahren willst du auch nicht. Warum muss ich dann einknicken? Du tickst doch nicht mehr richtig!«

»Ich habe nun einmal nicht so einen Job wie du, bei dem ich so viel Freizeit habe, dass ich mal eben einen Führerschein machen könnte. Schon gar nicht über Nacht. That’s so ridiculous!«

Mom sprang gern zwischen Deutsch und Englisch hin und her, wenn sie sauer war.

Stundenlang ging es so zwischen den beiden, und ich musste von meinem Zimmer aus alles mit anhören.

Heute Morgen herrschte zwischen ihnen eisiges Schweigen. An gemeinsame Erledigungen bis zum Aufbruch, war nicht zu denken gewesen.

Dad fuhr dann zum Tanken. Mom ging mit mir in die Stadt. Wir deckten uns mit Lebensmitteln für die lange Fahrt ein. Danach beschwatzte sie mich noch, ein Buch für die Reise zu kaufen. In Green Hall gab es nicht viel zu tun, und ich war längst seelisch darauf eingestellt, dass ich viel Zeit dort mit mir allein verbringen müsste. Deshalb stimmte ich ihrem Vorschlag zu. Lesen war zwar noch nie mein Ding gewesen, aber ich sah ein, dass es nicht schaden könnte, für den Notfall ein Buch zu haben.

Man weiß nie, wann man eine Welt braucht, in die man flüchten kann.

Bedauerlicherweise nahm ich Moms Gereiztheit bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht sonderlich wahr. Als wir aber in einer kleinen Buchhandlung etwas abseits vom Alex waren, ging das große Theater los.

Ich hätte sie einfach ein Buch für mich aussuchen lassen sollen. Dann wäre es gar nicht so weit gekommen.

Ungewollt schleuderte die Erinnerung mich zu diesem Zeitpunkt zurück.

Ohne zu wissen, was mich gleich erwarten würde, folgte ich Mom in den Laden. Sofort gesellte sich eine übereifrige Buchhändlerin mit hellroten Haaren und Sommersprossen zu uns, und Mom erzählte ihr, dass wir ein Buch für mich suchten. Dann wurden mir zig Fragen entgegengeschleudert. Wie alt ich sei, was ich gern läse, welches Genre mir gefalle …

Ich druckste etwas rum und erwähnte dann »Die Tribute von Panem«, weil ich die Filme mochte, und »The Walking Dead«, obwohl ich nicht mal wusste, ob es dazu überhaupt Bücher gab. … Und das Drama nahm seinen Lauf.

Frau Schmidt, wie die Händlerin laut bunt kariertem Namensschild hieß, kam eine Minute später mit drei Büchern zurück: »Scythe«, »Überleben« und »Aufstieg der Toten«.

Das war Mom zu viel direkte und indirekte Anspielung auf den Tod. Sogar ich erkannte peinlich berührt, welche Richtung ich eingeschlagen hatte. Die Situation war für solche Art von Büchern unpassend, und ich bezweifelte nun selbst stark, ob ich so was in Green Hall lesen wollte.

Mom pflaumte dann Frau Schmidt an, obwohl die natürlich nichts von den besonderen Umständen wissen konnte. Doch noch war die Verkäuferin tapfer. Kam nach einer weiteren Minute mit einem neuen Buch zurück.

»Hier. Das ist wirklich großartig. Wie eine Chipstüte. Wenn du einmal damit anfängst, hörst du nicht mehr auf. Ist eine Endzeitgeschichte, in der die Welt einer Naturkatastrophe zum Opfer fällt und viele deshalb sterben müssen. Die Familie, um die es hier geht, versucht sich durch diese harte Zeit zu schlagen, während alles um sie herum langsam immer mehr zerfällt.«

Mom tickte auf einmal völlig aus. »Sagen Sie mal, haben Sie eigentlich ein Rad ab?« Sie schrie Frau Schmidt so heftig an, dass die übrigen Kunden unverhohlen zu gaffen begannen.

Daraufhin fuhr ich Mom an, mit dem Ziel, dass sie sich wieder einkriegte. Aber das machte sie nur noch wütender. Richtig wütend sogar.

Hysterisch warf sie mir ein paar Fünfeuroscheine vor die Füße. Das Papier segelte, unbeeindruckt von Moms immensem Kraftaufwand, friedlich auf den grauen Teppich. Dann schrie sie: »Kauf dir das fucking book doch, wenn du es unbedingt haben willst«, und stapfte weinend aus dem Laden.

Beschämt starrte ich Frau Schmidt an, die selbst so aussah, als ob sie gleich anfangen würde zu heulen. Ihr Kopf war puterrot und übertraf locker den Ton ihrer Haarfarbe.

Da ich nicht wissen wollte, was mir blühte, wenn ich diesen Laden ohne ein Buch verließe, schnappte ich mir dieses Endzeit-Ding und bezahlte zügig an der Kasse, ohne dabei irgendjemandem in die Augen zu blicken.

Nach diesem Zwischenfall war Mom wie ausgewechselt. Anstatt gereizt und wütend, war sie zu einem Häufchen Elend geworden und redete in ihrem Zombieton gerade noch das Nötigste. Auch Dad fiel das später auf. Aber anstatt vorsichtig mit ihr umzugehen, so wie ich es von dem Moment an tat, schien ihn das nur noch mehr zu provozieren.

Jetzt war ich also seit zig Stunden mit zwei vermeintlich Erwachsenen, die sich abwechselnd anschwiegen und stritten, auf dieser Fahrt gefangen. Wobei Dad eigentlich nur noch meckerte, während Mom dazu nickte und lustlos Kommentare vor sich hin murmelte.

Mit dieser Stimmung im Auto war es eine absolute Höllenfahrt. Und jede meiner wohldurchdachten Ablenkungen, die ich zu Hause noch für einen sicheren Schutz vor Langeweile gehalten hatte, ließen mich nacheinander im Stich.

Nachdem ich stundenlang über die Aufgabenstellung meiner Kunst-Hausaufgabe nachgedacht hatte, blieb die sonst immer schnell einsetzende Inspiration aus. Und je länger ich überlegte, desto weniger fiel mir natürlich ein.

Nach zwei Stunden war der Skizzenblock genauso leer wie zu Anfang. Doch selbst wenn mich die Inspiration wie eine Walze überrollt hätte, bei Dads Fahrstil könnte ich ohnehin keinen geraden Strich zeichnen.

Er fuhr so, wie er sich fühlte. Zum einen wütend wegen seiner Frau. Zum anderen ängstlich wegen des Unfalls. Beides zusammen ergab eine gefährliche Mischung aus hektischem und unsicherem Fahren. Ich rechnete schon damit, dass er spätestens in England einen Unfall bauen würde. Die Umstellung auf den Linksverkehr war ihm noch nie leichtgefallen.

Als wir eine größere Pause machten und ich meinen Block wieder in den Rucksack verbannte, sah ich meine Rettung vor der dicken Luft im Auto in meiner Playlist auf dem Handy.

Doch nachdem ich eine Stunde dem neuen Album von Daughter bei maximaler Lautstärke gelauscht hatte, um die Streitigkeiten vor mir zu übertönen, gerieten wir in einen Stau. Eine Stunde ging es weder vor noch zurück. Und mit jeder weiteren Minute Stillstand wurden wir nervöser. Ich wollte gar nicht wissen, was passiert wäre, wenn wir nicht pünktlich am Hafen in Frankreich eingetroffen wären. Gott sei Dank löste sich der Stau dann auf, und wir kamen rechtzeitig in Calais an, um die Fähre zu kriegen.

Etwa eine Stunde später trafen wir in England ein, und es schien doch noch so etwas wie Wunder zu geben. Die Stimmung im Auto entspannte sich merklich.

Ich beschloss, dass es Zeit für meine Switch wurde, aber die Enttäuschung folgte auf dem Fuß. Als ich sie einschalten wollte und der Bildschirm schwarz blieb, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, den Akku aufzuladen. So saß ich mit einem nutzlosen Stück Technik im Auto fest.

Mich über mich selbst ärgernd spielte ich halbherzig mit ein paar Handy-Apps. Nicht wirklich das Wahre. Und das Buch konnte mich auch nicht retten. Im Auto zu lesen brachte mir nichts anderes ein als Kopfschmerzen und Übelkeit. Danach starrte ich nur noch lustlos aus dem Fenster und beobachtete, wie die fremde und dunkle Landschaft an mir vorbeizog. Dabei schlief ich irgendwann ein. Doch jetzt, endlich, hatten wir unser Ziel fast erreicht.

Ich blickte auf meine blaue Armbanduhr. Erleichtert stellte ich fest, dass dieser Tag fast vorbei war. Allerdings fiel mir auch auf, dass ich schon wieder seit Stunden nur diese stickige Autoluft eingeatmet hatte.

Ich fuhr das Fenster zu meiner Linken hinunter und versuchte mich beim Hinausblicken zu orientieren.

Langsam muss mir doch irgendwas bekannt vorkommen …

Enttäuscht musste ich feststellen, dass dem nicht so war. Ich schloss die Augen und ließ den Wind, der an mir vorbeizog, über die Lider streichen. Viel zu kalt für Juli, aber diesmal fand ich ihn angenehmer als auf der Fähre. Er machte mich blitzartig wieder wach.

Weitere Minuten vergingen, dann erkannte ich endlich die Umgebung. Innerlich machte ich einen Luftsprung. Nur wenige Meter von uns entfernt stand die Jubilee-Clock hell erleuchtet.

 

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Ich begann zu lächeln. Mit dem Anblick dieser großen, bunten Uhr jagten viele Erinnerungen an die Sommertage, die ich hier jährlich verbrachte, durch meinen Kopf. Obwohl es dunkel war und die Temperatur nicht passte, spürte ich die Sommerhitze auf meiner Haut, hörte Bens Lachen und schmeckte eine Unmenge von Eissorten auf der Zunge. Doch dieser schöne Moment währte nur kurz.

Nachdem wir uns mit zügigem Tempo wieder von der Uhr entfernten und weiter Richtung Westen fuhren, verblassten die Erinnerungen an glücklichere Tage in Weymouth. Sorge und Unwohlsein breiteten sich urplötzlich in mir aus. Begannen mich zu umhüllen wie ein schweres Tuch. Es kam so überraschend, dass ich für einen Moment das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können.

So fühlt sich Mom wohl schon die ganze Zeit, dachte ich traurig.

Die Neuigkeit erwischte mich eiskalt, und der Schock hatte die Gefühle, die jetzt in mir hochkamen, für eine kurze Zeit erfolgreich verdrängt. Bis hierher konnte ich alles zum Großteil ignorieren. Doch jetzt, wo wir unserem Ziel so nahe waren, ging das nicht mehr. Nun war ich gezwungen, mich innerlich für das zu wappnen, was die nächsten Tage auf mich zukommen würde.

Auch Dads Stimmung wandelte sich. Sein Groll gegenüber Mom schien verflogen. Sanft legte er seine Hand auf ihr linkes Knie. Sie starrte kurz hinunter und platzierte dann ihre Hand auf seiner. Beide taten so, als hätte es die letzten Stunden gar nicht gegeben.

Verrückt. … Ihr seid beide echt irre.

So endete jede ihre Streitereien. Erst flogen die Fetzen, dass man dachte, sie stünden kurz vor der Trennung, und bald darauf war alles wieder im Lot. Keiner von beiden war jähzornig oder nachtragend, und das war, so vermutete ich zumindest, das höchste Gut in ihrer Ehe. Sie nahmen sich einfach selbst nicht so ernst. Ich dagegen war völlig anders, wie ich bereits aus der Beziehung mit Nick wusste. Doch diesen Gedanken schob ich schnell wieder beiseite. Was mit Nick war oder nicht war, tat momentan nichts zur Sache. Andere Dinge waren nun wichtig, und ich spürte, wie die Sorge weiter in mir wuchs. Zig Fragen schossen mir plötzlich durch den Kopf: Was wird bei unserer Ankunft geschehen? … Wer wird noch alles da sein? … Was wird gesagt werden? …

Doch diese Überlegungen kratzten nur an der Oberfläche. Wenn ich ehrlich zu mir war, beschäftigte mich ein regelrechter Wirrwarr aus Gefühlen und Befürchtungen. Ängste vor dem, was die nächsten Tage alles passieren würde. Sorge um Ben. Besonders Letzteres ließ mich unruhig auf dem Sitz herumzappeln.

Was ist jetzt mit Ben?

Ich wiederholte die Frage immer wieder in meinem Kopf.

Ben, mein lieber Onkel, bei dem ich schon so oft die Ferien verbracht hatte …

Wie wird er jetzt sein? Und was soll ich zu ihm sagen?

Besonders auf diese Frage fiel mir auf Anhieb keine Antwort ein.

Was will man in diesem Moment hören?

Nervös kratzte ich an meinem Nasenpiercing. Meine Unruhe wurde immer schlimmer. Die Gedanken überschlugen sich. Mein Hirn kramte alle Floskeln heraus, die ich für solche Anlässe schon mal gehört hatte. Aber nichts davon schien zu passen. Keine Wörter oder Gesten würde ausreichend sein.

Als wir kurze Zeit später vor dem Stahltor des Anwesens standen und darauf warteten, dass es sich öffnete, wusste ich immer noch nicht, was ich sagen sollte. Auch nicht, nachdem wir weiterfahren konnten und Dad neben Larrys schwarzem Cabrio parkte.

Ein Teil von mir bereute es plötzlich, mitgekommen zu sein. Ich hätte nein sagen können, als meine Eltern mich gefragt hatten, ob ich wirklich sicher sei, mitzuwollen. Jetzt war es zu spät. Nichts war mehr zu ändern.

Als ich zögerlich und etwas ungelenk aus dem Auto stieg, blickte ich eingeschüchtert zur Turmspitze des Schlosses hinauf, die hoch in den Nachthimmel ragte.

Green Hall Castle. Wir waren angekommen.

 

Kapitel 2 – Green Hall

 

14. Juli

00:03 Uhr

 

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Nur auf der linken Seite des Erdgeschosses brannte noch Licht. Trotz der dicken Vorhänge in der Bibliothek stahl sich die schwache Beleuchtung bis nach draußen durch.

Auch in dieser Dunkelheit wirkte das Schloss imposant. Es war 1703 mit Portland-Kalkstein gebaut worden. Der stammte aus einem Steinbruch ganz in der Nähe der Stadt. Sogar für den Buckingham Palace und die Saint Pauls Cathedral wurde derselbe helle Stein verwendet. Doch für mich würde niemals ein anderes Gebäude mit Green Hall Castle mithalten können.

Zum Großteil hatte es einen schlichten barocken Stil, doch was die Eingangshalle anging, war der damalige Architekt und späterer Eigentümer von Green Hall – Marcus Crane – seiner Zeit weit voraus gewesen. Der gesamte Eingangsbereich war aus Glas. Selbst das vordere Dach bestand aus Tausenden Buntglasscheiben in verschiedensten Grüntönen. Es hatte etwas von einer anderen Welt. Deshalb schien es fast wie ein schlechter Scherz, dass die Eingangstür klein und unscheinbar gehalten war, wo der Rest des Anwesens doch eher imposant wirkte.

Da man uns bereits durch das Tor gelassen hatte, klopfte Mom. Kurz darauf brannte im vorderen Teil der Halle Licht, und die Tür öffnete sich. Normalerweise war es Vinnys Aufgabe, Besuch zu empfangen. Zu der späten Stunde hatte die Haushälterin aber natürlich frei. Stattdessen öffnete uns Larry.

Er war Bens Zwillingsbruder, aber die beiden waren sich in keiner Weise ähnlich. Weder äußerlich noch vom Charakter. Larry hatte einen Bierbauch, einen weißen Bart und eine Halbglatze. Ständig schaute er verkniffen, außer er wollte irgendwen über irgendwas belehren. Dann kam seine Brille zum Einsatz, die er immer in der linken Hemdtasche bereithielt. Wenn er sie trug, fühlte er sich wie der weiseste Mann im Universum.

Ben dagegen war bisher nur etwas grau an den Schläfen. Ansonsten aber hochgewachsen und schlank. Seine Augen schauten nicht verkniffen. Niemals.

Mir war die Vorstellung mehr als einmal absurd erschienen, dass diese Männer Zwillinge sein sollten. Wenn man es auf das Kleinste herunterbrechen wollte, dann war Larry der Pragmatiker und Ben der Träumer. Oder auch Traumtänzer, um es mit Larrys Worten zu sagen.

»Da seid ihr ja!«, rief er erleichtert aus und begrüßte seine Schwester noch auf der Türschwelle mit einer Umarmung.

»Hi Larry«, sagte Mom erleichtert. Ihr Tonfall glich einem echten Fortschritt, wie ich fand.

»Na, kommt rein. Kommt rein.« Er zog Dad und mich in den Flur. »Was wollt ihr trinken? Und habt ihr Hunger?«

»Ehrlich gesagt möchte ich erst mal unser Gepäck reinholen«, sagte Dad und machte bereits Anstalten, zurück zum Wagen zu gehen. Doch Larry hielt ihn panisch mit seinen Wurstfingern an der Schulter fest.

»Fünf Minuten, Michael. Ben und ich schweigen uns seit Stunden in diesem verdammten Haus an. Ich ertrag das nicht mehr. Kommt jetzt!«

Ich hasste Larrys Befehlston. Er arbeitete, genau wie Mom, in einer Bank und war es gewohnt, ständig Leute herumzukommandieren.

Dad gab klein bei, was mich irgendwie ärgerte. Er hielt resignierend die Hände hoch, und augenblicklich breitete sich ein Lächeln auf Larrys Gesicht aus.

»Danke, Schwager. Du hast was gut.«

»Wie geht’s ihm denn?«, fragte Mom im Flüsterton, während sie sich die Jacke auszog.

»Sprich normal, Laura. Ben hockt nicht hinter der Tür«, wies Larry seine kleine Schwester zurecht.

Lag es an mir, oder war Larry heute tatsächlich besonders nervtötend?

»Wie gesagt, wir schweigen uns an. Die meiste Zeit sitzt er in der Bibliothek und starrt ins Leere. Zwischendurch schaut er sich die Bücherregale an und grummelt etwas vor sich hin. Das war’s. Jetzt kommt! Bevor er sich noch fragt, wo wir bleiben.« Hektisch schloss Larry die Tür und bedeutete uns, ihm zu folgen.

Während wir zur Bibliothek gingen, klackerten Moms Schuhe auf den weißen Fliesen unangenehm laut. Mein Blick ging durch die Halle. Auch wenn sie definitiv das Herzstück des Schlosses war, ohne Sonnenschein wirkte sie einfach nur düster und unscheinbar. Ich hoffte, dass morgen großartiges Wetter sei. Ich würde mich erst richtig willkommen fühlen, wenn Green Hall mir seine einzigartige Schönheit zum Gruß preisgegeben hatte.

Als wir ins Zimmer traten, stand Ben auf der anderen Seite des Raums von seinem Sessel in Kaminnähe auf. Ich war zwar darauf eingestellt, dass die letzten beiden Tage gerade bei ihm Spuren hinterlassen hatten, aber es versetzte mir dennoch einen Schlag in die Magengegend. Sein Gesicht war eingefallen und blass. Das Kaminfeuer schien das noch zu unterstreichen. Zeichnete die Furchen in Bens Gesicht noch deutlicher mit seinem Schattenspiel ab.

Das ist nicht mehr mein Ben.

Diese Erkenntnis löste eine seltsame Panik in mir aus. Doch der Moment war zu einnehmend, als dass ich mich genauer damit auseinandersetzen konnte. Meine Schritte wurden langsamer. Ich wagte es aber nicht, zu stoppen, und ich konnte auch nicht aufhören zu starren.

Er wirkt um zehn Jahre gealtert. Mindestens …

Ich fand es immer seltsam, wenn man sagte, jemand sehe so aus, als sei er um soundso viele Jahre gealtert, wenn etwas Schreckliches passiert war. Nun wurde mir bewusst, dass dieser Satz nicht der Ausschmückung beim Erzählen galt. Tatsächlich brachte er die Wahrheit genau auf den Punkt.

Ben kam humpelnd auf uns zu. Seit seiner Reitverletzung hatte er Probleme mit seinem linken Knie und dem Rücken. Mittlerweile brauchte er seine Krücke immer öfter. Mom lag ihm bei jedem ihrer Besuche in den Ohren, er solle sich endlich operieren lassen. Ohne Erfolg. Er hatte Angst vor Krankenhäusern. Und wenn es eins über die Familie Crane zu wissen gab, dann dass sie ihre Ängste in vollen Zügen auslebte, statt sie zu bekämpfen.

Schweigend umarmte Ben Mom, dann Dad und schließlich mich.

»Hallo mein Engel«, sagte er, und man spürte regelrecht, wie viel Mühe es ihn kostete, mir ein Lächeln zu schenken. Es war ein aufgesetztes und erreichte seine Augen nicht. Überhaupt schien er unseren Blicken auszuweichen. Dann wuschelte er mir durchs Haar, wie man es eigentlich nur bei Kleinkindern machte. So was hatte er vorher noch nie getan. Unter normalen Umständen hätte ich mich darüber aufgeregt. Immerhin war ich fast sechzehn. Aber ich riss mich zusammen und tat es als Zeichen seiner Unsicherheit ab. Schließlich wussten wir alle nicht, wie wir mit der Situation umgehen sollten. Ich am allerwenigsten. Deshalb folgte ich einem jähen Impuls, bevor der Moment vorbei war, und umarmte Ben fest.

»Es tut mir so leid«, flüsterte ich in sein linkes Ohr und hoffte, dass er meine Anteilnahme in diesen schlichten Worten spüren würde. Aber er nickte nur stumm und wandte sich dann wieder meinen Eltern zu. Ich hätte losheulen können.

»Kommt, setzt euch. Ihr seid sicher erledigt von der langen Reise, und wir haben noch etwas vom Mittagessen übrig. Ich bin sicher, Larry wird es schaffen, die Reste aufzuwärmen.«

Larry, der sich gerade gemütlich auf eine Couch gesetzt hatte und sich ohne Frage auf die Abwechslung mit uns freute, schien von der Idee seines Bruders nicht begeistert.

Wann hast du wohl das letzte Mal selbst gekocht, hm?, fragte ich mich, als er aufstand und in die Küche verschwand.

Mom hatte irgendwann erzählt, dass er nicht mal selbst seine Wäsche wusch und so gut wie jeden Tag zu Geschäftsessen ging. Larry arbeitete bei der DZ Bank London und bewohnte eines dieser typischen weißen Reihenhäuser in Kensington.

Es hatte ihn schon als Jugendlichen von hier weggezogen. Ein paar Jahre lebte er in Chicago, bevor er sich endgültig für London entschied. Im Vergleich zu diesen Großstädten war für ihn das Leben in Weymouth wohl zu abgeschieden. Er war eines dieser typischen Arbeitstiere, und das Leben in London war für ihn der Inbegriff von Elite, Kultur und Prestige. Weymouth war den kleinen Leuten und kulturfaulen Touristen vorbehalten, die sich lieber am Strand sonnten, als ausgewählte Bauwerke und Museen zu besuchen. So dachte er, und mir passte nichts davon.

Nachdem Larry in die Küche gegangen war, schwiegen wir vier uns an. Dad schien die Stille besonders nervös zu machen. Für solche Situationen war er nicht geschaffen. Mom bekam Mitleid, und mit einem kaum merklichen Nicken erlöste sie ihn. Er entschuldigte sich schnell bei Ben und trat den Weg zurück an. Ich machte Anstalten, auch aufzustehen, um Dad mit dem Gepäck zu helfen, aber sowohl er als auch Mom gaben mir Zeichen, sitzen zu bleiben.

Weitere Minuten des Schweigens, die vom prasselnden Feuer im alten Kamin begleitet wurden. Meine Blicke wanderten durch den Raum mit seinen hohen Wänden und gut gefüllten Bücherregalen. Schließlich blieb mein Blick an Mom hängen, und ich sah ihr an, dass sie krampfhaft nach einem Gesprächseinstieg suchte.

Sie fixierte einen Punkt am Boden, kräuselte ihre Lippen und spielte an der Kette mit dem Herzanhänger herum. So sah sie auch aus, wenn sie zu Hause die Einkaufsliste schrieb, obwohl sie nicht wusste, worauf sie Hunger hatte. Heute hielt sie das Herz wie einen Rettungsanker umklammert. Sie hatte diese Kette bereits seit Ewigkeiten. Zwei Buchstaben waren darin eingraviert. Ein M und ein L. Allerdings standen die Buchstaben nicht für Dads und ihre Initialen.

Schließlich machte Ben den ersten Schritt und fragte halbherzig nach der Schule. Ob ich immer noch so viel zeichnete, und wie es meinen Freunden ging.

Mich verunsicherten diese Fragen. Wenn jemand Fremdes sich danach erkundigen würde, wäre es eine harmlose Angelegenheit gewesen. Aber Ben kannte mich besser. Wusste alle Antworten, weil wir regelmäßig telefonierten und bei Whats-App schrieben. Doch natürlich griff ich nach jedem Strohhalm, der die Situation angenehmer machen konnte. Nur fiel es mir auch schwer, über so Alltägliches zu reden, wenn in allen Köpfen ganz andere Dinge den Platz einnahmen.

Wir reden um den heißen Brei.

Ich blieb daher ziemlich allgemein, aber trotzdem noch ausführlich genug, dass es nicht unhöflich wirkte. Hielt alles in einem neutralen Ton. Klang beinahe so roboterhaft wie Mom tagsüber heute.

Es ist fast so, als müsse man jedes einzelne Wort mit Bedacht wählen. Da ist diese seltsame Angst, dass etwas fröhlich Gesprochenes die Wände hier zum Einstürzen bringen könne.

Irgendwann brachte Mom ein paar andere Themen ins Gespräch ein. Aber Ben nickte nur und gab einsilbige Kommentare zu diesem und jenem. Zwischendurch hörten wir Geräusche aus der Küche oder der Halle. Das geschäftige Treiben von Larry und Dad brachte seltsamerweise mehr Leben ins Zimmer als unser Gespräch.

Nachdem das Gepäck in Treppennähe aufgestapelt war, Larry das Essen aufgewärmt und Tee gekocht hatte, saßen wir im grellen Licht des alten Kronleuchters im Esszimmer, das hinter der Bibliothek anschloss. Ich mochte es nicht sonderlich. Die Wände waren zum Teil mit alten und muffig riechenden Wandteppichen verhangen.

»Das ist der Geruch der Jahrhunderte, Lucy. Der Geruch von Geschichte und Tradition. Über so was rümpft man nicht die Nase. Es hat zu deinen Vorfahren gehört, und jetzt gehört es auch zu dir. Auf so was ist man stolz«, hatte Caroline mal zu mir gesagt.

Sie hatte auch etwas Ähnliches zu den Reitpokalen erzählt, die hier überall herumstanden und irgendwann im letzten Jahrhundert gewonnen wurden. Doch Carolines konkreter Wortlaut fiel mir nicht mehr ein.

Die Krönung im Esszimmer war das gruselige Portrait von Meredith Crane. Moms, Bens und Larrys Urgroßmutter. Das Bild war zwei Meter hoch und zeigte sie in einem weißen Spitzenkleid mit jeder Menge goldener Klunker an Hals, Händen und Ohren. Zu ihren Füßen saß eine dicke, schwarze Katze, die gerade dabei war, sich zu putzen. Doch am unheimlichsten war ihr fieser Blick, der die Familienähnlichkeit zu Larry unübersehbar machte.

Die Gelegenheiten, zu denen ich hier sitzen musste, konnte ich an einer Hand abzählen. Caroline nutzte diesen Raum nur für Feierlichkeiten. Wenn jemand Geburtstag hatte oder wichtiger Besuch von auswärts da war. Für mich war es immer ein toter Raum gewesen, den ich durchqueren musste, um in die Küche zu kommen. Unter diesen Umständen jetzt hier zu sitzen, verschaffte mir einen Knoten im Magen. Ich bekam kaum etwas vom Essen runter, obwohl es nur eine Gemüsesuppe war. Dazu hatte Larry uns leicht verbrannte Brötchen gereicht. Auch hiervon aß ich nicht viel.

Endgültig verging mir der Appetit, als Mom auf den Grund unseres Besuchs zu sprechen kam. Sie hatte wohl beschlossen, dass es sinnlos war, es noch weiter hinauszuzögern.

Ich sah kaum von meinem Platz auf und beschäftigte mich ausführlich damit, wie die äußere Struktur meines Brötchens aussah. Zeichnete dabei in Gedanken die Konturen mit einem Stift nach. Dem Gespräch lauschte ich daher erst nur mit einem Ohr. Unsicher, ob ich überhaupt alles wissen wollte.

Ben und Larry berichteten über das bisher Geschehene. Dabei übernahm Larry den Hauptteil. Ben unterbrach ihn nur, wenn sein Bruder irgendetwas vergessen hatte oder er die Dinge ungewollt verdrehte.

Larry begann beim grausigen Anfang: Carolines Herzinfarkt. Wie sie die Treppe in der Halle deshalb hinuntergestürzt war und niemand es bemerkt hatte. Ben war im Gewächshaus gewesen und Vinny, die sie fand, war zum Einkaufen fürs Abendessen in die Stadt gefahren. Als sie gegen fünfzehn Uhr das Schloss wieder betreten hatte, kam bereits jede Hilfe zu spät. Caroline war tot.

Ich hörte ein Schluchzen und blickte vom Brötchen auf. Zuerst dachte ich, dass es Mom sei, doch es war Ben, der um Fassung rang. Er musste sich schreckliche Vorwürfe machen. Überlegte vermutlich, ob die Sache anders ausgegangen wäre, wenn etwas ihn dazu verleitet hätte, früher ins Haus zurückzukehren. Vermutlich wäre es ihm sogar lieber gewesen, wenn er seine tote Frau gefunden hätte. Er war ein guter Kerl. Sicher der aufrichtigste und netteste Mensch, den ich kannte. Es war schlimm genug, dass ihn das Schicksal so eiskalt getroffen hatte, aber dass eine gute Bekannte der Familie auf jene Weise mit in dieses Unglück hineingezogen wurde, brach ihm vermutlich erst recht das Herz.

Meine Gedanken wanderten zu Vivian. Larry erzählte, dass sie heute wieder normal zur Arbeit gekommen sei. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.

Ist sie wirklich so tough oder nur eiskalt? Hätte ich eine Leiche gefunden …

Bei dem Gedanken begannen meine Hände leicht zu zittern, deshalb konzentrierte ich mich wieder mehr aufs Zuhören. Ich wollte in diesem Moment keine Schwäche zeigen. Stattdessen beweisen, dass ich dieser Situation gewachsen war. Besonders weil Mom und Dad meine Reife anzweifelten. Und auch wenn es gerade schrecklich war, hier sitzen zu müssen, war es eine Angelegenheit, die mich betraf, und ich wollte meine Familie unterstützen, ihr beistehen.

Die Erzählung endete, und die beiden listeten auf, was organisatorisch in den nächsten Tagen anstand. Da blendete ich das Geschehen um mich herum wieder fast völlig aus und beschäftigte mich mit meinem eigenen Gedankenchaos. Mom würde mir noch früh genug sagen, was ich zu tun hatte.

Nach dem Essen wurde es Zeit, das Gepäck hinaufzubringen. Doch als ich vom schier endlos langen Flur hin zur breiten Treppe blickte, schien eine unsichtbare Hürde mich keinen Schritt weitergehen lassen zu wollen.

Das ist er, dachte ich. Der Ort, an dem Caroline ihren letzten Atemzug getan hat. Ganz allein.

 

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Langsam bepackte ich mich mit zwei großen Taschen und meinem Rucksack und atmete tief durch. Je näher ich den Stufen kam, desto mehr begann es, unangenehm zu riechen. Erst jetzt fiel mir auf, dass der burgunderfarbene Treppenläufer verschwunden war. Der Geruch, der ihn stellvertretend ersetzte, war schneidend. Irgendwie chemisch und steril. Das verwirrte mich kurz, aber dann fiel mir ein, dass ein Mensch den Darmtrakt kurz nach seinem Tod entleerte. »Noch mal klar Schiff machen«, hatte mein Biolehrer gewitzelt, während die ganze Klasse vor Ekel aufstöhnte. Mir wurde speiübel bei der Vorstellung. Dann flitzte ich so schnell die Treppe hinauf, wie es mit den schweren Taschen ging.

Als ich vor meinem Zimmer im Ostflügel stand, atmete ich erleichtert aus.

Rauf wäre geschafft, aber irgendwann muss ich auch wieder runter. Ob ich je wieder diese Treppe benutzen kann, ohne das Bild von Caroline dabei direkt vor Augen zu haben?

Ich hoffte es inständig, und noch mehr hoffte ich, davon keine Albträume zu kriegen. Für derlei Dinge war ich leider anfällig. Viel zu anfällig. Manchmal kam es mir so vor, als würden sich die unzähligen kleinen und großen Erinnerungen des Lebens wie ein ständiger Regenschauer über mich ergießen und nach und nach ungefiltert in mein Unterbewusstsein einsickern. Für meine Kreativität waren diese ständigen Impulse ein Pluspunkt. Für meinen Schlaf dagegen weniger.

Nach einem beherzten Stoß gegen die Tür gab das alte Holz quietschend nach, und ich stolperte mit Sack und Pack in mein Zimmer.

Als Erstes fiel mir auf, dass die Luft überraschend frisch war. Irgendjemand hatte daran gedacht, vor unserer Ankunft zu lüften. Vermutlich war es Vinny gewesen.

Ich machte das Licht an und legte die Taschen in der Mitte des Raumes ab. Dann sah ich mich in Ruhe um.

Komisch. Die düstere Stimmung, die das gesamte Erdgeschoss einzunehmen scheint, ist hier oben nicht einmal im Ansatz spürbar.

Erleichterung durchströmte mich. Gerade dieses Zimmer war ein Stück Heimat, nach dem ich mich in Berlin hin und wieder sehnte. Selbst unter diesen Umständen ereilte mich das Gefühl, nie weggewesen zu sein. Alles stand an seinem Platz. Kein Staubkorn war zu sehen. Es hatte die Ruhe und Geborgenheit gehortet, welche im restlichen Schloss entschwunden waren. Na ja, zumindest die Geborgenheit, denn meine Eltern kamen gerade im Nebenzimmer an und veranstalteten einen Heidenlärm beim Auspacken. Unsere Schlafzimmer waren durch eine Zwischentür miteinander verbunden. Als Kind war ich deswegen froh gewesen. Mit sieben oder acht die Ferien in einem alten englischen Schloss zu verbringen, hatte mir nachts ziemlich Angst eingejagt, da ich mich vor Geistern fürchtete. Durch die Verbindungstür war aber immer die Möglichkeit gegeben, nach nebenan zu flüchten, ohne dabei hinaus auf den bösen, dunklen Flur zu müssen. In Moms und Dads Zimmer stand seit jeher ein Extrabett für solche Notfälle bereit, obgleich ich es seit Jahren nicht mehr in Anspruch nehmen musste.

Die Müdigkeit erwischte mich plötzlich eiskalt, als ich die ersten Klamotten aus den Taschen holte. Ich schaffte es nicht mal mehr, zu duschen. Kramte nur noch das Nötigste aus meinem Gepäck, schälte mich aus den Klamotten und zog mir mein Nachthemd über. Dann putzte ich schnell die Zähne, fischte mein Handy aus dem Rucksack und legte mich aufs Bett. Im Schein der Blumenlichterkette, die über meinem Bett hing, hörte ich ein paar Songs von Florence and the Machine und Banks. Gedankenverloren blickte ich über die vertraute Umgebung. Sah Moms alte Kommode, die Staffelei, den kleinen Fernseher gegenüber dem Bett, Poster von Kandinskys Werken an den Wänden und die Delle in der Badezimmertür, die Ben in Jugendzeiten verursacht hatte.

In diesem Moment kam ich tatsächlich zur Ruhe, und die Anstrengungen der letzten beiden Tage machten sich bemerkbar. Ich drehte mich zur Wand und weinte leise in die Kissen. Gründe für meine Tränen gab es genug. Da war der Verlust meiner Tante, Bens Verhalten und weil einfach alles in diesem Moment so furchtbar und schrecklich schien.

Zwischen den Songs »Long & Lost« und »Beggin for Thread« nickte ich kurz ein.

Als ich wieder erwachte, obwohl mein Geist zum Teil längst in eine andere Welt gewandert war, legte ich die Kopfhörer weg und schloss das Handy am Strom zum Laden an. Im Schloss waren bereits alle anderen Geräusche verstummt, außer das typische Knarzen von Holz, was alte Gebäude nun mal so an sich hatten. Und als ich die Lichterkette ausknipste, brach die Nacht endgültig über Green Hall Castle herein.

 

Kapitel 3 – Das Kreuz in der Asche

 

14. Juli

08:07 Uhr

 

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Der nächste Morgen kam schnell. Viel zu schnell. Als Mom leise an die Tür klopfte, dachte ich im ersten Moment, dass irgendetwas passiert sei. Kaum ein Sonnenstrahl stahl sich an den Seiten der Vorhänge durch, und vom Gefühl her war ich gerade erst eingeschlafen.

Nach einem kurzen Moment trat Mom leise ein und bat mich im Flüsterton darum, in einer halben Stunde runter zum Frühstück zu kommen.

Als die Tür zuschnappte, sah ich auf meinem Handy die Uhrzeit nach. Sieben nach acht. Ich rechnete schnell nach und schätzte meine Schlafzeit auf sechs Stunden.

Das muss wohl reichen für heute.

Schwerfällig setzte ich mich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Die Reise und der Stress hatten mich offenbar ziemlich mitgenommen. Ich fühlte mich völlig erledigt, und drei Stunden Schlaf wären problemlos noch drin gewesen.

Als ich kurz darauf unter der Dusche stand und das angenehm warme Wasser meinen Körper hinabströmte, fragte ich mich, wie ich den langen Tag durchstehen sollte. Kurz ging ich in Gedanken die anstehenden Erledigungen durch: Kirche, Florist, Rechtsanwalt, Bestatter … Und wer weiß, was sonst noch.

Bei dem Gedanken an diese lange Liste wäre ich am liebsten postwendend wieder ins kuschlige Bett gekrochen – auch ohne diese lähmende Müdigkeit. Die Stimmung des gestrigen Abends war drückend genug gewesen und steckte mir noch in den Knochen. Einen ganzen Tag, geschweige denn mehrere, so aushalten zu müssen, war ein niederschlagender Gedanke.

Ich musste mich bisher nie mit dem Tod auseinandersetzen. Zumindest war ich nie mit dem Verlust von jemandem, den ich wirklich kannte, in Berührung gekommen. Nicht mal das Dahinscheiden eines Haustiers war bei mir zu einem Thema geworden. Doch nun hatte der Tod überfallartig meiner Familie einen Besuch abgestattet. Da war keine Zeit gewesen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, einen geliebten Menschen bald nicht mehr um sich zu haben. Stattdessen änderte sich die Situation von heute auf morgen, und für jemanden wie mich, der gern alles durchplante und sich auf Absprachen und Regeln verließ, war das wie ein Messerstich in den Rücken. Ich fühlte mich verraten, konnte dafür aber keinen Schuldigen ausmachen.

Beim Haareföhnen überlegte ich, wie lange es wohl dauern würde, bis alles wieder im Alltagsmodus lief.

Wann ist meine Familie oder mein Leben wieder normal? Wann werde ich mich selbst wieder … na ja … typisch ich fühlen.

Dass mir dazu keine konkreten Antworten einfielen, machte meine Stimmung auch nicht besser.

Als ich fertig angezogen war, ging ich hinunter in die Küche. Nun gut, ich spurtete eher die Treppe hinab, als zu gehen. Lief dabei mit meiner rechten Schulter gegen die Engelsstatue neben der Treppe. Miranda Crane hatte sie in Auftrag gegeben, und seit über siebzig Jahren stand die weiße Statue mit den giftgrünen Verzierungen nun dort. Die Hände der Figur waren schützend ausgebreitet, aber das Gesicht strahlte nichts Warmherziges aus. Die Augen blickten sehnsüchtig zum Himmel, als warte sie auf etwas, das vielleicht niemals kommen würde.

Erleichtert stellte ich fest, dass alle diesmal in der Küche am runden Holztisch saßen, anstatt im ungemütlichen Esszimmer. Nebenher lief das Radio, was die Stimmung im ersten Moment um ein Vielfaches auflockerte. Doch die Freude währte nur kurz.

Alle saßen mit versteinerten Mienen am Tisch und nahmen schweigend ihre Mahlzeit ein. Bereiteten sich vermutlich innerlich auf den Tag vor – wie ich vorhin.

Vinny hat das furchtbare Erlebnis anscheinend doch nicht so gut weggesteckt, fiel mir auf. Es reichte ein Blick auf den Tisch, um zu wissen, dass die Haushälterin nicht da war. Wenn Gäste im Schloss waren, selbst Familienangehörige, dekorierte sie den Esstisch immer mit frischen Schnittblumen, und das Essen wurde besonders schön angerichtet. Dennoch gab es trotz der fehlenden Verzierungen alles, was das Herz begehrte. Der Tisch war reichlich gedeckt, aber die Portionen auf den Tellern rührte keiner richtig an. Alle stocherten nur mit ihrem Besteck darin herum. Dabei gab es eine Fülle von Leckereien. Rührei mit Speck, Toast, Unmengen von Vinnys selbst gemachten Marmeladen in kleinen Gläsern und andere Aufstriche. Dazu Tee, Milch und Kaffee. Alles roch großartig. Das war umso ärgerlicher, da ich nicht wirklich Hunger hatte. Erst mal goss ich mir nur eine Tasse schwarzen Tee ein, fügte Milch und Zucker hinzu und nippte langsam an dem heißen Getränk.