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Inhalt

Impressum

Danksagung

BILLY

26. Juli vormittags

26. Juli nachmittags

26. Juli abends

27. Juli nachmittags

29. Juli 04.02 Uhr

29. Juli gegen sechzehn Uhr

31. Juli vier Uhr

02. August

03. August gegen zwei Uhr morgens

04. August 09.30 Uhr

05. August 04.30 Uhr

06. August 09.30 Uhr

08. August 03.10 Uhr

09. August nach 13.00 Uhr

11. August 09.30 Uhr

12. August 08.30 Uhr

13. August 11.30 Uhr

14. August 11.30 Uhr

15. August 09.30 Uhr

Ein Tag zuvor, 16.10h

16. August 10.00 Uhr

19. August 14.30 Uhr

19. August 20.00 Uhr

20. August 09.00 Uhr

22. August 09.00 Uhr

23. August 18.10 Uhr

24. August 09.15 Uhr

26. August

28. August

29. August 09.30 Uhr

30. August

02. September 06.30 Uhr

04. September

05. September

06. September 21.30 Uhr

07. September

08. September

10. September

14. September

15. September

16. September

16. September 21.30 Uhr

18. September

20. September

19. September

20. September

21. September

27. September

28. September

2. Oktober

10. Oktober

Vier Stunden zuvor

11. Oktober

12. Oktober

16. Oktober

17. Oktober

18. Oktober

19. Oktober

20. Oktober

21. Oktober

22. Oktober

23. Oktober

24. Oktober

25. Oktober

28. Oktober

30. Oktober

31. Oktober

1. November

2. November

3. November

5. November

9. November

10. November

11. November vormittags

12. November

14. November gegen Mittag

15. November 16.00 Uhr

9. August vor zehn Jahren

17. November

19. November

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2019 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-903271-11-1

ISBN e-book: 978-3-903271-12-8

Lektorat: Tobias Keil

Umschlagfotos: Syda Productions, Mikhail Leonov | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Danksagung

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Meinem Lektor Tobias Keil bin ich für seine große Arbeit und wertvollen Anregungen verbunden. Ein ganz besonderer Dank geht auch an Frau Tanja Ferscha für ihre beispielhafte Betreuung. Einen speziellen Dank spreche ich wiederum dem Grafikteam und allen Mitarbeitern des Novum Verlags aus.

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BILLY

26. Juli vormittags

Der TGV, der mich, in weniger als vier Stunden, nach Paris-Marne la Vallée-Chessy bringen sollte, glitt nahezu geräuschlos und wie erhofft pünktlich um sechs Uhr elf aus dem kantonalen Bahnhof Genève-Cornavin. Obwohl sich mir die Reise in einem eher ungünstigen Moment aufdrängte und ich sie deshalb kurzfristig und in aller Hast buchen musste, hatte ich problemlos zwei Plätze auf meinen Namen vorbestellen können. Einen wie gewohnt in einem der vorderen Waggons und einen zweiten im rollenden Speisewagen. Wie üblich, wenn ich gut bei Kasse war, verwirklichte ich meine Absicht, die Bahnfahrt größtenteils in einem Abteil erster Klasse zurückzulegen. Ich verglich die Zeiger meiner „IWC“ mit jenen der Bahnhofsuhr, die, an einem breiten Mast hängend, das Ende des Fahrsteigs markierte. Ich hatte die edle Armbanduhr von meinem Vater für den erlangten Abschluss des Studiums erhalten. „Sekundengenaue Übereinstimmung!“, stellte ich mit einer zur Gewohnheit gewordenen Zufriedenheit fest. Ich war stolz auf Vaters Präsent, das, auch nach all den Jahren, nicht das geringste Zeichen von Altersschwäche zu erkennen gab. Aber ich trug auch Sorge zu dem handgefertigten Meisterstück; benutzte sie nur bei ganz besonderen Anlässen und brachte sie in regelmäßigen Abständen einem der besten Uhrmacher Genfs zur Revision. „Ist heute ein besonderer Anlass?“, fragte ich mich.

Die zweite Sitzgelegenheit wartete, wie erwähnt, im Waggon-Restaurant auf mich. Für gewöhnlich, wenn ich zu früher Stunde den Zug nach Paris bestieg, verpflegte ich mich dort. Das Frühstück war zu einer Art Ritual für mich geworden. Obzwar diesmal warnende Signale meines Magens ausblieben, entschied ich, nicht auf ein einfaches Morgenessen zu verzichten. Denn bis zum späten Abend würde es die einzige Mahlzeit sein, die ich mir und meinem Pansen gegebenenfalls gönnen durfte. Es war keine Frage des Geldes, obwohl ich zugeben musste, dass ich aktuell etwas knapp bei Kasse war. Nein, eine Frage des Schotters war es, wie schon erwähnt, ganz bestimmt nicht. Denn Liquides, so hoffte ich wenigstens, sollte ich in absehbarer Zeit wieder mehr als genug haben. Schließlich war das Honorar für den ersten Teil meines Manuskripts längst überfällig. Mein Verleger hätte es schon vor Wochen überweisen sollen. Eine nicht unbescheidene Summe, die es mir erlauben sollte, für die nächsten sechs Monate gut und sorglos über die Runden zu kommen. Der Grund für meine Überlegung mit dem Frühstück war, dass ich davon ausgehen konnte, dass mein kurzer Pariser Aufenthalt mit endlosen Sitzungen ausgelastet sein würde. Ich tat also gut daran, allfälliger kulinarischer Mangelerscheinungen vorzubeugen.

Ursprünglich hatte ich die Absicht, einige Tage bei meiner Schwester in Stockholm zu verbringen. Seit Claire in Schweden lebte, und das waren nun doch schon etliche Jahre, hatte ich sie, von einigen wenigen Skype-Sitzungen ausgenommen, nicht mehr gesehen. In welchem Kontinent sich unser biologischer Vater zurzeit aufhielt, war weder mir noch Claire bekannt. Aber das war nichts Beunruhigendes. Seit seiner Trennung von unserer Mutter hatten wir uns damit abgefunden, dass sich seine jährlichen Anrufe oder Besuche auf ein Minimum beschränkten. Man konnte sie leicht an einer Hand abzählen. Trotzdem, jedes Mal, wenn ich seine Stimme hörte oder ihn sogar sah, war ich bewegt. In der Vergangenheit gab es Momente, da fehlte er mir mehr, als ich es mir selber eingestehen wollte. Ob es Claire ebenso erging, entzog sich meiner Kenntnis. Wir hatten nie über das Thema gesprochen. Und seit unsere gemeinsame Mutter im Familiengrab lag, war die Materie sowieso tabu.

Aus meinem Vorhaben, Claire mit meinem Besuch zu überraschen, war nun, zu meinem großen Leidwesen, nichts geworden. Mein Verleger, Pierre Delessert, hatte mir die Entscheidung am Vortag eigenmächtig abgenommen. Ihm zu widersprechen, wäre einem unverzeihlichen Affront gleichgekommen. Mein momentaner Arbeitgeber hatte mich gestern, ausgerechnet zur Mittagsstunde, wie er das übrigens regelmäßig zu tun pflegte, anrufen lassen und mich zu einer Unterredung „unter vier Augen“ zu sich gebeten. Oder, um es noch präziser auszudrücken, ich wurde aufgefordert, mich unverzüglich bei ihm und seinem Pariser Verlag im Business-Viertel „La Défense“ zu melden. „Mich noch vor den Sommerferien zu treffen, komme höchste Priorität zu!“, hatte seine Telefonistin behauptet und eventuelle Einwände meinerseits, noch bevor ich sie hatte aussprechen können, im Keime ersticken lassen. Ich fand es befremdend, dass er sich nicht persönlich mit mir in Verbindung gesetzt hatte, maß dem Argument aber keine besondere Bedeutung zu. Ich kannte den alten Hasen und die Bipolarität seines Charakters.

Ich schob meine Reisetasche in den Stauraum unter meinem Sitz, vorsichtig bedacht, sie nicht über den Boden zu schleifen; ihr hässliche Kratzspuren zu ersparen. Es lag nicht nur daran, dass das Stück fast neu und aus diesem Grund besonders wertvoll für mich war. Ich gehe mit allen Dingen, die ich mein Eigen nenne, geflissentlich achtsam um. Den Aktenkoffer, in dem sich mein Laptop auf Arbeit sehnte, platzierte ich in unmittelbare Griffnähe. Im Moment machte es den Anschein, als ob ich heute das ganze Zugsabteil für mich allein beanspruchen durfte. Wenn ich etwas Glück hatte, würde niemand zusteigen, der mir die Vorfreude auf die Reise vergällen konnte.

Ich hatte mich kaum an die angenehme Vorstellung gewöhnen können, als unvermittelt eine ältere Dame die Schiebetüre öffnete. Sie zwängte ihren fülligen Körper durch die Luke und sah sich suchend um. Obwohl die unerwartete Belästigung mein Vorhaben, den Komfort des Alleinseins zu genießen, sich in nichts auflöste, konnte die Programmänderung meiner euphorischen Stimmung wenig anhaben. Entweder hatte die Frau meinen einladenden Gruß überhört oder sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, auf jeden Fall blieb meine Galanterie vergeblich. Leicht verwirrt konfrontierte die Dame die gedruckten Zahlen auf ihrer Fahrkarte mit jenen im Messing gestanzten Nummernschildchen über den Kopfstützen. Augenscheinlich erleichtert, aber schwer keuchend, ließ sie sich direkt mir gegenüber auf den Sitz plumpsen. Eine zufriedene Gelassenheit breitete sich auf ihrem rundlichen Gesicht aus. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich nicht allein im Abteil befand. Sie grüßte kurz und entschuldigte sich für ihre Unhöflichkeit. „Keine Ursache“, hörte ich mich versöhnend sagen.

Außer einer großen Stofftasche hatte sie kein Reisegepäck dabei. Sie stellte das Bündel auf den Boden, zog den Reißverschluss, der sich aber nur ein Stück weit bewegen ließ. Nach mehreren nervösen Versuchen gelang ihr doch noch das Vorhaben. Augenblicklich zwängte sich der Kopf einer französischen Bulldogge ins Freie. Vermutlich hatte ich als Erstes seine Aufmerksamkeit erregt, denn seine schwarzen Knopfaugen verfolgten von nun an argwöhnisch jede einzelne meiner Bewegungen. Seine hervorstehend unregelmäßigen Zähne hatten etwas gefährlich Aggressives an sich. Er schnaubte unüberhörbar, als gelte es Präsenz zu markieren. Ich versuchte, so gut es eben ging, den Hund zu ignorieren, indem ich durch das Fenster an meiner linken Seite die an mir vorbeiflitzende Landschaft betrachtete. Ab und zu warf ich dennoch einen neugierigen Blick auf das Tier, das mich, auch nicht für den Bruchteil einer Sekunde, aus den Augen ließ. Ich fühlte mich bedroht und wägte ab, ob ich der unangenehmen Situation ein Ende setzen oder mich hinter meinem Laptop verstecken sollte.

Früher als ursprünglich geplant, der Zug war erst vor zehn Minuten aus dem Bahnhof Cornavin gefahren, kehrte ich kurzentschlossen dem Abteil meinen Rücken zu. Ich durchlief mehrere Waggons, bis ich endlich auf die beschriftete Türe des Speisewagens stieß. Einmal mehr hatte man ihn nicht am üblichen Ort in die Zugskomposition integriert. Die Mappe mit meinem Laptop hatte ich mitgenommen. Ich trennte mich nur ungern, oder zumindest höchst selten, von ihm. Sogar nachts, wenn ich den Rechner nicht benutzte, pflegte ich ihn unter meiner Bettstätte aufzubewahren. Eine Marotte von mir.

Der beflissene Angestellte des fahrenden Restaurants, ein Tamile, erkannte mich, kaum hatte sich die letzte, automatische Tür zischend hinter mir zugetan.

„Guten Morgen Monsieur, schön Sie auch heute bei uns begrüßen zu dürfen“, sagte er sichtlich erfreut. Seine Zähne strahlten, als ginge es darum, Werbung für eine Zahnpasta zu machen. „Als ich Ihren Namen auf der Passagierliste entdeckte, habe ich sofort umdisponiert und Ihnen Ihren Lieblingstisch freigehalten“, versicherte er und ging mir voraus. Ich setzte mich dankend an meinen gewohnten Platz, der sich im hintersten Teil des Waggons befand.

Der Kellner hatte soeben ein frisches Tuch über das Tischchen gestülpt und mit farbigen Metallklammern befestigt, als sich ein ganz in Dunkel gekleideter Herr erkundigte, ob er sich auf den freien Platz gegenübersetzen dürfe. Die Kadenz in seiner Aussprache deutete auf eine ausländische Abstammung hin, obwohl er den Satz in perfektem Französisch formuliert hatte. „Bestimmt Engländer.“ Ich war mir meiner Sache beinahe sicher. Irgendwie kam mir der Klang seiner Stimme bekannt vor. Nur konnte ich mich weder an den Ort erinnern, noch zu welchem Zeitpunkt das gewesen war. Dem Angestellten des Speisewagens war mein flehender Blick nicht entgangen. Er hob bedauernd Schultern und Hände, als müsse er sich für das unvermeidbare Malheur entschuldigen. Ohne eine einladende Antwort abzuwarten, drängte sich der ungebetene Gast an ihm vorbei; ließ sich schwerfällig, dank- und grußlos auf die Bank fallen. Derweil er die Menükarte aus ihrem Halter nahm und sie eingehend studierte, musterte ich ihn diskret. Seine armseligen, künstlich gefärbten Haare waren nach hinten gekämmt. Eine markante Nase dominierte sein kantiges Gesicht. Die strenge, schwarzgefasste Brille mit ihren dicken Gläsern verriet ein ophthalmologisches Problem. Seine schmalen, leicht nach unten gezogenen Lippen waren meines Erachtens augenfällige Anzeichen eines zynischen Charakters. Es war schon eine Weile her, seit ich Freuds Bücher und Erkenntnisse verschlungen hatte, aber an die Beschreibung der verschiedenen Mundstellungen konnte ich mich noch sehr gut erinnern. Ab und zu bediente ich mich bei meinen schriftlichen Abhandlungen dem reichen Fundus, den er seiner Nachwelt hinterlassen hatte. Mein Blick fiel relativ spät auf seine Hände. Im Normalfall ist es das Organ, das mich bei einem Menschen als Erstes interessiert und in den Bann zieht, oder auch nicht. Eine weitere Marotte von mir. Eine Absonderlichkeit vielleicht, auf die ich mich aber bis anhin immer verlassen konnte. Es gibt Hände, die eine Faszination auf mich ausüben, dann gibt es solche, vor denen ich mich ekle, die mich abstoßen, bei deren Anblick ich augenblicklich Gänsehaut kriege. Nur schon der Gedanke, besagten Körperteil berühren zu müssen, bringt meinen Magen für gewöhnlich zur Rebellion. In derartigen Momenten fühle ich mich unwohl, habe das Gefühl, mich unvermeidlich übergeben zu müssen.

Und so verhielt es sich auch diesmal. Es lag nicht nur am sonderbaren Verhalten des Fremden. Nein, bestimmt nicht! Damit hatte meine Einschätzung nichts zu tun. In meinen Augen waren es hauptsächlich seine Hände, die keine Gnade bei mir fanden. Sie waren schwulstig, die Fingernägel ungepflegt, und für einen Mann trug er sie viel zu lang. Ich schätzte sein Alter auf etwa vierzig. Wobei ich anfügen muss, dass ich in solchen Dingen nicht sehr talentiert bin und mit meinem Kalkül ab und zu arg danebenliege.

Der ungebetene Gast, mit dem ich nun den Tisch notgedrungen teilen musste, steckte die Speisekarte wieder in den dafür vorgesehenen Metallständer. Er lehnte sich zurück. Seine stahlgrauen Augen, deren Fassungskraft durch die dicken Brillengläser noch an Volumen zunahm, waren streng auf mich gerichtet. Lange und ohne sich von mir abzuwenden, saß er ganz einfach da. Stumm und unbeweglich. Ich fühlte mich unbehaglich in seiner Gegenwart. Noch selten hatte mich jemand so unverblümt angestarrt. Ich versuchte seine, nach meinem Befinden, an Arroganz grenzende Taktlosigkeit zu ignorieren. „Zuerst der Hund in meinem Zugsabteil und nun dieser Mann!“ Etwas viel für einen einzigen Morgen. „Vielleicht ein Leser, der meine Fotographie auf der Rückseite eines meiner Bücher gesehen hat?“, versuchte ich meine Irritation zu vertreiben. Ich ließ meinen Blick aus dem Fenster schweifen, über die vorübereilenden Felder und den Horizont gleiten. Dass der Fremde mich weiterhin ungeniert fixierte, konnte ich unmissverständlich im Spiegelbild des Waggon-Fensters erkennen. Ein geradezu beängstigendes Gefühl! Minuten, die mir wie Stunden vorkamen, vergingen, ohne dass der Kerl den leisesten Versuch unternahm, seine Augen von mir abzuwenden. Langsam wurde mir das Ganze zu dumm. „Genug ist genug!“, fand ich. Ich spürte meine seit Tagen verlorengeglaubte Migräneanfälle zurückkehren. Waren sie einmal da, konnte ich sie für Stunden nicht mehr loswerden. Ich wollte soeben protestieren, dem Fremden unmissverständlich zu verstehen geben, dass ich mich durch sein aufdringliches Verhalten belästigt fühlte, als er mich von sich aus ansprach:

„Weshalb haben Sie Angelique umgebracht?“, fragte er in einem Tonfall, der das Blut in den Adern zum Kochen brachte. Seine Stimme war tief und von einer angsteinflößenden Härte, die mich zusammenfahren ließ. Er sprach fehlerloses Französisch, was ich bereits zuvor festgestellt hatte. Trotzdem gelang es ihm nicht, das fremdländische Kolorit seiner Sprache vollends zu kaschieren. „Wie bitte? Ich habe Sie vermutlich nicht richtig verstanden!“, fragte ich, ebenso überrascht wie verwirrt. „Kennen wir uns etwa?“

„Ob wir uns kennen oder nicht, tut nichts zur Sache!“, unterstrich der Unbekannte, ohne seinen Gletscherblick von mir abzuwenden. „Also beantworten Sie meine Frage und bringen wir die Sache hinter uns!“

„Ein Paranoiker!“, dachte ich entsetzt. „Ein Irrer, der vermutlich aus irgendeiner psychiatrischen Anstalt entwichen ist!“ Obwohl mich meine angeborene Neugier zwickte, nahm ich mir vor, nicht weiter auf seine impertinente Frage einzugehen. Ich beschloss, ihn und sein seltsames Gebaren zu ignorieren, in der stillen Hoffnung, er würde von selbst einsehen, dass er sich an den Falschen gewandt, sich in der Person getäuscht hatte.

Ich wendete mich von ihm ab, öffnete vorsichtig den Aktenkoffer, den ich auf den Sitz neben mir gelegt hatte, zog meinen Laptop aus dem Innenfutter und wollte ihn auf den Tisch vor mich hinstellen. Blitzschnell und ohne Vorwarnung packte mich mein Gegenüber am linken Unterarm; drückte ihn unsanft nach unten. Es hatte wenig gefehlt und ich hätte mein Arbeitsgerät auf den harten Belag des Tisches fallen lassen. Der Mann hatte sich dermaßen in meinen Arm verkrallt, dass ich jeden einzelnen seiner langen, ungepflegten Fingernägel zu spüren glaubte. „Was in aller Welt fällt Ihnen ein? Nehmen Sie augenblicklich Ihre Hände von mir!“, wollte ich entrüstet protestieren, aber noch bevor meine Worte den Rand meiner Lippen übersprangen, ließ sie der frostige Blick des Fremden im Ansatz ersticken. „Ich habe eine ganz präzise Frage an Sie gerichtet. Und ich erwarte eine ebenso explizite und unmissverständliche Antwort darauf!“ Während der Mann dies sagte, machte er keine Anstalten, seinen eisernen Griff auch nur einen Zoll weit zu lockern. Was sollte ich tun? Wie reagiert man auf die Attacke eines Verrückten, ohne dabei die Situation zu verschlimmern, zu riskieren, dass sie außer Kontrolle gerät? „Der Chef des Speisewagens“, überlegte ich, „er muss mir zu Hilfe kommen!“ Meine Augen suchten verzweifelt, aber der Angestellte der Eisenbahngesellschaft hielt sich, ausgerechnet jetzt und im ungünstigsten Zeitpunkt, in der Kombüse des Waggons auf. Ich hörte das Klappern der Teller; keine Chance, mit seinem sofortigen Beistand zu rechnen. Mein Arm begann unter dem Druck meines Widersachers und seiner Finger zu schmerzen. Ich fixierte die Personen am Nebentisch. In der Hoffnung, ihr Interesse auf mich zu lenken, nässte ich mit der Zunge die Finger meiner freien Hand. Mit meinem speichelfeuchten Zeigefinger fuhr ich leicht über den Rand meines zu einem Viertel gefüllten Wasserglases. Ein glockenähnlicher Ton erklang. Zu wenig laut, denn meine musikalische Einlage verflog sich unbemerkt.

Mittlerweile hatte das fahrende Restaurant seine Kapazität ausgeschöpft. Keine freien Plätze mehr auszumachen! Nur an unserem Tisch warteten noch zwei Sitzgelegenheiten auf Kunden. Aber niemand zeigte Interesse, sich mit uns zusammenzutun. Ich konzentrierte mich auf die übrigen Gäste. Schnell musste ich feststellen, dass jeder mit sich selbst beschäftigt war, bestimmt nicht erpicht, sich in irgendeine Geschichte hineinziehen zu lassen. Eine Sache, die sie im Grunde genommen auch gar nichts anging. „Ich bin auf mich allein gestellt, muss versuchen, die Angelegenheit ohne Hilfe Dritter in den Griff zu bekommen.“ Meine Lage wurde zusehends ungemütlicher. Ich hatte den Eindruck, mein Unterarm sei nur noch ein lebloses, blutleeres Ding, das gar nicht mir gehörte. Abgesehen von den höllischen Schmerzen, fühlte sich mein Antebrachium wie tot an. „Wo bleibt nur der verdammte Kellner?“

Mehr und mehr wuchs in mir die Überzeugung, dass ein vernünftiger Dialog mit meinem Gegenüber ein Ding der Unmöglichkeit war. Der Kerl war buchstäblich von Sinnen. Ich ging von der Voraussetzung aus, dass ihm sein ungelenker, aber unmissverständlicher Anbiederungsversuch Genuss bereitete. „So eine Art Droge, die er vermutlich braucht, um sein krankes Hirn funktionsfähig zu erhalten; ihm die erforderliche Menge an Nahrung zukommen zulassen?“ Trotzdem, ich konnte mir keinen Reim darauf machen, weshalb er ausgerechnet mich zu seinem Opfer auserkoren hatte. „Liegt es daran, dass genau in dem Moment, in dem er den Shit benötigte, niemand anders als ich zur Stelle war? Ein unglücklicher Zufall oder doch kaltblütige Berechnung, weil ausgerechnet ich der Typ von Mann bin, der ihn anmacht, den er für seine pathologischen Eskapaden braucht?“ Beängstigende Fragen, die mir wie Blitze durch den Kopf schossen, aber keine abschließende Antwort gebaren. Es war selbstredend, dass ich etwas unternehmen musste, bevor die Situation noch weiter eskalierte. Zudem, lange konnte ich die Schmerzen an meinem Unterarm nicht mehr aushalten. Aber allzu viele Möglichkeiten standen mir nicht offen! „Nur, wie geht man mit einem Geisteskranken um, ohne ihn zu brüskieren, ihn zu noch Schlimmerem zu verleiten?“

„Ich hätte nie gedacht, dass Sie so naiv sind!“, machte sich der Fremde wieder verbal bemerkbar. Ich wurde das eigentümliche Gefühl nicht los, dass er sich über mich lustig machte. Es war unvermeidlich, dass er meinen hilflosen Versuch, andere mit meinem gläsernen Glockenspiel auf mich und meine ungemütliche Lage aufmerksam zu machen, mitgekriegt hatte. Ein hämisches Grinsen in seinen nach unten gezogenen Mundwinkeln untermauerte meine Beurteilung. Und wieder dachte ich an Freud. „Haben Sie Angst?“, fragte er. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Was hätte ich ihm antworten sollen? Natürlich hatte ich Angst! „Ich kann es in Ihren Augen lesen: Sie haben Angst, fürchterliche Angst! Und das ist gut so. Sie sollen Angst haben, leiden, sich vor lauter Schiss in die Hosen machen! Aber Sie werden in der kurzen Zeit, die Sie noch zu leben haben, noch viel, viel mehr Angst bekommen, bis Sie am Schluss daran verrecken werden! Das, was Sie Angelique und meiner Familie angetan haben, verdient nichts Besseres!“

Es brauchte seine Zeit, bis ich mich auch nur halbwegs von meinem Schrecken erholt hatte. „Lassen Sie unverzüglich meinen Arm los, oder ich werde den Schaffner rufen!“ Ich war selbst erstaunt, dass ich meine Stimme wiedergefunden hatte, auch wenn sie kaum mehr als ein Bruchteil ihrer normalen Tonlage ausmachte. „Tun Sie das, wenn Sie denn Mumm dazu haben!“, höhnte der Fremde. „Weshalb regen Sie sich so auf? Es wäre für uns beide besser, wenn wir zur Sache kommen und Sie sich kooperativer als bis anhin verhalten würden. Ich habe eine simple Frage an Sie gerichtet und erwarte eine ebenso einfache Antwort darauf. Also, fangen wir nochmals von vorne an: Weshalb haben Sie Angelique umgebracht?“ „Angelique? Ich kenne niemanden, der auf diesen, seien wir ehrlich, doch eher seltenen Namen hört!“, gab ich hastig zur Antwort, obwohl ich zugeben musste, dass ich den Namen Angelique in der Vergangenheit schon einmal gehört haben musste. Nur gelang es mir in diesem Augenblick beim besten Willen nicht, ihn einem bestimmten Ereignis zuordnen.

„Wenn Sie jetzt die Güte hätten, unverzüglich meinen Arm loszulassen“, beharrte ich. Diesmal hatte meine Stimme wieder ihren gewohnt festen Klang gefunden.

Es geschah, womit ich schon nicht mehr gerechnet hatte: Der Fremde lockerte merklich seinen Griff, bis er meinen Arm schlussendlich ganz freigab. Gleichzeitig erhob er sich abrupt. Aber bevor er seinen Platz räumte, fixierte er mich mit seinem kalten Blick. „Sie schulden mir eine Antwort“, fauchte er. „Ich werde auf meine Frage zurückkommen! Es hat mich etliche Mühe gekostet Sie aufzuspüren. Aber jetzt, wo ich Sie gefunden habe, werde ich Sie nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Ich werde Sie im Auge behalten, Sie verfolgen, Sie wie ein Wildschwein hetzen und am Ende werden Sie für Ihre Tat büßen. Ich oder die Umstände werden Sie kaltmachen. Denn nur mit Ihrem Tod wird Angelique die Gerechtigkeit widerfahren, die ihr zusteht.“ Ohne weitere Worte zu verlieren, ging der Fremde zur Waggons-Tür, wartete, bis sie sich von selbst öffnete, und war plötzlich verschwunden. Eine Bestellung hatte er nicht aufgegeben.

Ich stülpte meinen Hemdsärmel zurück. Die Marter hatte blaurote, schmerzende Nagelspuren auf meinem Unterarm hinterlassen. Es würde seine Zeit brauchen, bis ich mich wieder ärmellos in der Öffentlichkeit zeigen konnte. „Und das ausgerechnet jetzt im Hochsommer!“, überlegte ich verärgert und trotzdem glücklich die unheilvolle Situation überstanden zu haben.

Das Ereignis hatte mich entschieden aus meiner gewohnten Bahn geworfen. Es beschäftigte mich in einer Weise, dass ich nur wenig Lust auf mein Frühstück verspürte; es dann aber dennoch, wenn auch pomadig, hinunterwürgte. Obwohl mir, wie schon zuvor erwähnt, der Vorname Angelique nicht vollkommen unbekannt war, konnte ich mich nach wie vor nicht mehr an ein weibliches Wesen erinnern, das diesen Namen trug. Ich war nicht geneigt, mich weiterhin mit dem Geschehen auseinanderzusetzen; versuchte mir einzureden, dass es sich um eine Verwechslung gehandelt haben musste. Ich ging auch nicht von der Annahme aus, dass der Unbekannte seine Warnung wahrmachen würde. „Vermutlich ist er gerade daran, sich an sein nächstes Opfer heranzumachen.“

***

Ich befand mich wieder in meinem Zugsabteil. Die ältere Dame schlief fest. Sie hatte ja nichts zu befürchten, schließlich hielt ihr Raubtier Wache. Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass das Tier mit seinen hervorquellenden Augen mich nicht mochte. Dennoch fand ich seinen Blick weitaus angenehmer als jenen, den mir der Fremde im Speisewagen mit auf den Weg gegeben hatte. „So schnell werde ich den Kerl nicht vergessen!“

26. Juli nachmittags

Der Verlag befand sich in einem der ersten, gesichtslosen Hochhäuser. Die Immobilie war 1955 im damals als fortschrittlich modern gewichteten Viertel „La Défense“ errichtet worden. Das Hervorstechende an der geografischen Lage war, dass sich das Gebäude direkt an der sich über einen Kilometer lang dahinziehenden Fußgängerzone befand. Hier standen überhaupt praktisch nur Hochhäuser. Das im Departement „Hauts-de-Seine“ gelegene Quartier galt, in der Zeit seiner Gestehung, als Europas größte, wenn auch architektonisch betrachtet wenig reüssierte Bürostadt.

Ich bestieg einen der sechs nebeneinanderliegenden, geräuschlos in ihren Schienen gleitenden Aufzüge und fuhr bis ins siebzehnte Stockwerk, wo Pierre Delessert seinen Verlag seit Jahren eingenistet hatte. „Nur provisorisch!“, wie er stets zu versichern pflegte. Aber aus dem anfänglich gedachten Übergangszustand war eine Dauerstätte geworden. Niemand zweifelte daran, dass sich auch in naher Zukunft nichts an dieser Tatsache ändern würde. Am wenigsten Pierre Delessert, obwohl er das selbstverständlich nie zugegeben hätte. Durch die mit goldfarbenen Lettern beschriftete Glastür erkannte ich Geraldine, Empfangsdame und Telefonistin in einer einzigen Person. Sie winkte mir aufgeregt und in einer Manier zu, die unmissverständlich besagte, dass ich mich beeilen sollte. „Heute ist der ‚Alte‘ gar nicht gut drauf! Er hat schon zwei Mal nach Ihnen gefragt“, sagte sie und küsste mich schnell und diskret auf beide Wangen. „Haben Sie ihn schon mal in einer vergnüglicheren Stimmung gesehen?“, konterte ich grinsend. Geraldine rollte ihre braunen Augen nach oben, bis nur noch das Weiße der Lederhaut zu sehen war. Was bedeuten sollte, dass Sie meine Ansicht durchaus teilte. Sie verlor keine Zeit: Über die interne Sprechanlage meldete sie meine Ankunft. „Nicht zu früh!“, ließ sich Delesserts Bassstimme gut hörbar vernehmen. „Ich habe mir den Empfang irgendwie anders vorgestellt“, bedauerte ich augenzwinkernd, obwohl meine Bemerkung überzählig war. Wer Delessert kannte, wusste, dass es eine verlorene Sache war, ihm bei guter Laune begegnen zu wollen.

Abgesehen von Delesserts privater Arbeitsräume gab es in diesem Betrieb nur rundum verglaste, abstrakt rechteckige Büros. Es machte den Anschein, als tummelten sich in den schaufensterähnlichen Zimmern ausschließlich lebensgroße Modepuppen. Aber es waren keine Kunststoff- oder Holzmodelle, die man da zur Schau stellte. Es waren Individuen wie du und ich. Menschen aus Fleisch und Blut, die in dieser widerlichen Konstellation wie Sklaven ihrer schlechtbezahlten Arbeit nachgingen. Ich bekundete Mühe mit dem Gedanken, in einem solch unpersönlichen Unternehmen meinen Arbeitstag abplacken zu müssen. Jedes Mal, wenn ich hierherkam, und das war nun glücklicherweise höchst selten der Fall, löste der Anblick ein an Klaustrophobie erinnerndes Angstgefühl in mir aus. Einmal mehr schätzte ich die unsäglichen Vorteile, die mir mein Job bot. Die unbegrenzte Freiheit! Ich konnte praktisch überall hinreisen und vor allem arbeiten, wo es mir gerade gefiel und ich Spaß daran hatte. Es gab nur wenige Flecken auf der Erde, die sich nicht als Schreibstube verwenden ließen. Dank meinem mobilen Schreibgerät war ich an jedem Ort einsatzbereit, außer vielleicht auf einer abgelegenen, stromlosen Insel. Aber vor allen Dingen war ich erreichbar, was für meinen Chef Delessert über allem Erstrebenswerten stand. Den Druck, den er in regelmäßigen Abständen in Gestalt enorm langwährender und mühsamer Telefongespräche auf mich ausübte, war eigentlich der einzige Mangel, den ich an meinem Beruf als Buchautor ausmachen konnte.

Ich betätigte den Anmeldeknopf neben der Tür zu Delesserts Heiligtum. Es verbrannte keine Sekunde, und das grüne Lämpchen gab mir den Weg ins Ungewisse frei. Pierre Delessert hatte sich nicht die Mühe gemacht, mich, der ich doch ein langjähriger externer Mitarbeiter seines Verlages war, mit einem warmen Händedruck zu empfangen. Er machte auch keine Anstalten, sich und seine gut Hundertzwanzig Kilo Lebendgewicht aus dem malträtierten Sessel zu hieven. „Es gibt eben Leute, an denen nichts von der guten Kinderstube hängengeblieben ist“, folgerte ich leicht eingeschnappt, ließ mir meine Gedanken jedoch nicht anmerken. „Guten Tag Monsieur Delessert“, begrüßte ich ihn dennoch wie gewohnt nonchalant, obschon in meiner Stimme jeglicher Enthusiasmus fehlte. Aber das war kein neues Phänomen. Es war jedes Mal so, wenn ich hier aufkreuzte. Es bestand eine gewisse Hemmschwelle, die ich, außer bei meinem ersten Treffen mit Delessert, nie mehr zu überschreiten imstande gewesen war. „Ich habe schönes Wetter aus der Schweiz mitgebracht“, fügte ich meinem Gruß hinzu, als ob das ein wichtiges, nicht zu unterschlagendes Argument wäre. Ich hatte den Spruch als eine Art diplomatischen Versuch betrachtet. Ein Beitrag, dem Vorfeld unseres Gesprächs eine Note der Unbeschwertheit aufzuzwingen. Aber ich hätte wissen sollen, dass Delessert die meteorologischen Verhältnisse meines Heimatlandes nicht im Geringsten interessierten.

„Ich habe Sie heute in der Früh erwartet! Und nicht erst jetzt zu dieser späten Uhrzeit! Weshalb haben Sie nicht den Nachtzug genommen?“, forschte er. Ich fühlte mich keiner Schuld bewusst. „Weil ich das nie tue!“, gab ich ungewollt gereizt zurück. Eines hatte ich gelernt, wollte man mit Delessert zurechtkommen, musste man bemüht sein, sich auf sein Niveau einzupendeln. „Und weshalb tun Sie das nie?“, fragte mein aktueller Brötchengeber sichtlich überrascht ob meiner Dreistigkeit. Ich genoss den Moment, war es mir doch offenbar gelungen, ihn mit meiner Schlagfertigkeit vorübergehend zu übertölpeln. „Erstens, weil ich im Zug keinen Schlaf finde, und zweitens, weil Sie mir nicht haben ausrichten lassen, dass Sie mich bereits zu früher Stunde erwarteten, was Sie zweifellos hätten tun sollen!“ Delessert ging nicht weiter auf meine aufmüpfigen Gegenargumente ein, sondern kam sofort zur Sache: „Verlieren wir keine Zeit mit Nebensächlichkeiten, an denen sich jetzt ohnehin nichts mehr ändern lässt“, entgegnete er bissig.

Beim Betreten seines Büros hatte ich mein Manuskript auf Delesserts Pult liegen sehen. „Ist das nun ein gutes oder schlechtes Omen?“ Delessert nahm es in die Hand, blätterte eine Weile zwischen den Seiten und schmetterte dann das Werk, „mein Werk!“, auf seinen aufgeräumten Schreibtisch. „Soll das Ihr Ernst sein?“, donnerte er. „Ich habe Ihnen eine großzügige Anzahlung zukommen lassen, in der Annahme, dass Sie mir etwas Brauchbares liefern. Ist Ihnen der Erfolg Ihres letzten Romans in den Kopf gestiegen, dass Sie mich nun mit einem Haufen mickriger Literatur abspeisen? Was sage ich Literatur? Hier haben wir es bestenfalls mit einer Lektüre für ins Alter gekommene Jungfrauen zu tun! Mensch Claude, was ist nur aus Ihnen und Ihrem Talent geworden? Sie haben mich bitter enttäuscht! Ich muss Ihnen wohl kaum in Erinnerung rufen, dass Sie es allein meiner Seelengröße zu verdanken haben, dass Sie es bis zu Ihrem ersten und bisher einzigen Bestseller gebracht haben. Ich ganz allein habe Sie zum Autor aufgebaut, zu dem gemacht, was Sie heute sind, weil ich von Anbeginn unserer Zusammenarbeit von Ihrer Begabung überzeugt gewesen war. Ein einmaliges Talent, das Sie offenbar verloren haben. Eine Begabung, die sich in nichts aufgelöst hat. Hätte ich sonst so ungeheuerlich viel Geld und Geduld in Sie investiert? Wenn Sie meinen, mit Ihrem letzten Erfolgsroman Ihre Zukunft gesichert zu haben, fahren Sie auf dem falschen Dampfer! Gute, ja was sage ich, ausgezeichnete Schriftsteller hat es beinahe so viele wie Sandkörner am Meer. Ein einziger Flop, eine einzige schlechte Kritik reichen aus, um von Ihrer Leserschaft wie eine faulgasige Kartoffel fallengelassen zu werden. Die Konkurrenz schläft nicht, mein Lieber! Aber Sie haben gepennt, sich auf Ihren Lorbeeren ausgeruht! Mensch Claude!“, wiederholte Delessert, „was ist nur aus Ihrer Naturgabe geworden?“

Ich war so vor den Kopf gestoßen, dass ich im ersten Moment nicht wusste, wie ich auf Delessert und seine gehässige Tirade reagieren sollte. Ganz unrecht hatte er ja nicht, das musste ich ihm zugestehen. Faktisch hatte ich mein neustes Werk nicht mit derselben Euphorie und Lust geschrieben, wie das bei meinem vorgängigen Buch der Fall gewesen war. Die Gründe dafür waren vielfältig, aber nicht entschuldbar: Ich hatte erst zwei Kapitel hingebracht, als mich eine schwere Lungenentzündung für zwei Monate aus der Bahn warf. Dazu kam, dass mich meine letzte Lebenspartnerin im Streit verlassen hatte. Und ob damit in meinem Dasein nicht schon genug Unheil angerichtet worden wäre, musste ich auch noch meinen Führerschein für ganze drei Monate bei der kantonalen Verkehrspolizei hinterlegen. Ein kleines Radarproblem hatte den Anstoß zur amtlichen Maßnahme gegeben. „Und da soll einer noch den Kopf bei der Arbeit haben!“

Ich versuchte zur Gegenwehr anzusetzen: „Und weshalb sagen Sie mir erst heute, nachdem gerade noch die letzten vierzig oder fünfzig Seiten meines Werkes fehlen, dass Sie meine Arbeit einen Haufen Mist finden?“ „Da muss ich Ihnen für einmal recht geben“, lenkte Delessert ein. „Anstatt mich selbst um Ihr Manuskript zu kümmern, habe ich unsere Lektorin, Frau Dr. Zehnder, damit beauftragt. Eine sträfliche Unterlassung, wie ich im Nachhinein feststellen muss! Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie mir einen solchen Bruch liefern würden. Ich habe mich dermaßen von Ihrem letzten Erfolg blenden lassen, dass ich nicht im schlimmsten Alptraum erwartet hätte, so von Ihnen getäuscht zu werden. Aber eines kann ich Ihnen jetzt schon verraten, so etwas wird mir mein Lebtag nicht mehr passieren!“ „Und was haben Sie jetzt vor?“, unterbrach ich seinen Wortschwall. „Soll das etwa bedeuten, dass Sie mir eine weitere Anzahlung verweigern, bevor ich mein Buch zu Ende geschrieben habe? Warten Sie doch zuerst ab, was ich Ihnen noch liefern werde. Vielleicht sind Sie am Schluss ja selbst überrascht, was ich aus dem Stoff noch herausholen kann. Ich muss zugeben, dass mich mehrere unlustige Gegebenheiten in meinem Privatbereich in letzter Zeit etwas aus dem Rhythmus geworfen haben; dass ich mein Manuskript nochmals überarbeiten muss. Aber Sie werden staunen, was ich noch zustande bringen werde. Ich kann Ihnen versichern, dass dieser Wälzer mein letztes Buch vielleicht sogar in den Schatten stellen wird.“ „Genau das wollte ich von Ihnen hören!“, ereiferte sich Delessert. „Mensch Claude, reißen Sie Ihre verdammten Hoden zusammen, falls sich darin noch etwas Brauchbares finden lässt. Schreiben Sie den Roman so zu Ende, dass Sie Ihre Leser wieder auf den Erfolgssockel heben werden! Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Ich nehme an, dass wir uns verstanden haben. Was die zweite Anzahlung betrifft, muss ich Sie auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten. Wenn Sie dem, was Sie bis jetzt geliefert haben, nicht den nötigen Pepp aufsetzen und mir das überarbeitete Manuskript innerhalb eines Monats zustellen, werden Sie keinen Euro mehr von meinem Verlag sehen. Ist das klar, oder soll ich für Sie eine Skizze anfertigen lassen?“

Delesserts Worte schmerzten. Auf diesen Ausgang unseres Gesprächs war ich nicht vorbereitet gewesen. Der Saldo meines Bankkontos lag gefährlich nahe am roten Bereich. Nichts Besorgniserregendes. Ein Zustand, an den meine Hausbank gewohnt war. Trotzdem, auf ein kurzfristiges Darlehen konnte ich wohl kaum hoffen. Beinahe alles, was vom Honorar meines ersten Bestsellers übrig geblieben war, hatte ich in mein Haus gesteckt. Ein wundervolles, aber teures Anwesen! Es war nicht so, dass weitere Zahlungen für die in diesem Jahr noch verkauften Bücher ausbleiben würden. Aber bis die Eingänge auf meinem Bankkonto verbucht sein würden, brauchte es Monate. Es gehörte zur Tradition des Verlages, die Honorare generell in einem einzigen Betrag und erst zu Beginn des nächstfolgenden Jahres zu überweisen.

„Ich will aufrichtig zu Ihnen sein“, versuchte ich Delessert am Ende unseres Gesprächs doch noch umzustimmen. „Ich befinde mich augenblicklich in einem finanziellen Engpass. Nicht, dass ich etwa die ganzen Honorare ausgegeben hätte. So blöd bin ich nun auch wieder nicht! Ich habe mein Einkommen vielmehr in ein Haus gesteckt, dessen Umbau und Renovation mich weitaus teurerer, als ursprünglich budgetiert, zu stehen gekommen sind. Ich bin mir bewusst, dass ich von Ihnen etwas verlange, Monsieur Delessert, das nicht vollauf mit den Grundprinzipien Ihrer Gesellschaft vereinbar ist. Aber wenn Sie für einmal eine Ausnahme machen und mir eine Teilzahlung auf die bereits in diesem Jahr geflossenen Erträge aus dem Verkauf meines letzten Buches überweisen könnten, wäre ich Ihnen außerordentlich dankbar.“ „Das können Sie vergessen!“, bellte Delessert lautstark. „Wo käme ich hin, wenn ich alle Sonderwünsche erfüllen würde. Was würden die anderen Hausautoren sagen, denen es finanziell vielleicht mieser als Ihnen geht, falls sie etwas von unserem außerordentlichen Deal erfahren sollten? Nein, schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Erst liefern Sie die Arbeit! Fällt sie zu meiner Zufriedenheit aus, werde ich Ihnen eine weitere Tranche für Ihr aktuelles Manuskript überweisen lassen. Und jetzt muss ich Sie bitten, das Terrain für einen Schriftsteller freizumachen, der diese Berufsbezeichnung auch wirklich verdient hat!“