Über Eva und Erwin Strittmatter

Eva Strittmatter wurde 1930 in Neuruppin geboren. Sie studierte 1947 bis 1951 Germanistik in Berlin. 1951 bis 1953 Mitarbeiterin beim Deutschen Schriftstellerverband, seit 1954 freie Schriftstellerin. Sie veröffentlichte Kritiken, Kinderbücher, Gedichte, Prosa. Heinrich-Heine-Preis 1975, Walter-Bauer-Preis 1998. Sie starb am 3. Januar 2011 in Berlin.

Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Das Realgymnasium verließ er mit 17 Jahren, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von März 1941 bis Frühjahr 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an, war im Polizeigebirgsjäger-Regiment 18 an Einsätzen in Slowenien, Finnland und Griechenland beteiligt, seit 1942 Bataillonsschreiber und seit 1944 Kriegsberichter. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, ab 1952 in Berlin. 1954 verlegte er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee. Dort starb er am 31. Januar 1994.

Erwin Berner wurde 1953 als ältester Sohn von Eva und Erwin Strittmatter geboren. Er war ein vielbeschäftigter Bühnen- und Fernsehschauspieler, u. a. in »Adel im Untergang«, »Sonjas Rapport«, »Die Verführbaren (Ein ernstes Leben)«, »Ein altes Herz geht auf die Reise« und »Zur See«. Er lebt in Berlin und schreibt Stücke, Gedichte, Liedtexte und Prosa.

Ingrid Kirschey-Feix arbeitete als Redakteurin und Korrespondentin für Zeitungen und Zeitschriften, seit 1989 ist sie in verschiedenen Buchverlagen als Lektorin, Autorin und Herausgeberin tätig.

Informationen zum Buch

Eva und Erwin Strittmatter lernten sich im Februar 1952 kennen und kamen sich während einer Tagung der Jungen Autoren näher. Die 22-jährige Mitarbeiterin des Schriftstellerverbandes lebte in Berlin, der freiberufliche Schriftsteller in Spremberg, und so gingen Briefe zwischen den beiden hin und her. Ihr Briefwechsel aus den fünfziger Jahren ist fast vollständig erhalten und zeigt, wie einer im andern die Verwirklichung seiner Ideale sucht, erzählt von familiären und künstlerischen Krisen, von Begegnungen mit Kollegen, vom Leben in der DDR und von dem Ringen des Dichters Strittmatter um sein Werk.

Ich danke Dir, ich danke Dir und will es gern mit allem lohnen, was ich bin und was ich durch Dich noch werden kann.

Du bist mein zweites Ich.

Erwin Strittmatter an seine spätere Frau Eva, 15. Juni 1952

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Vorsatz

Eva Strittmatter
Erwin Strittmatter

Du bist mein zweites Ich

Der Briefwechsel

Herausgegeben
von Erwin Berner
und Ingrid Kirschey-Feix

Inhaltsübersicht

Über Eva und Erwin Strittmatter

Informationen zum Buch

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Vorwort

1952

1953

1954

1955

1956

1957

1958

Anhang

Anmerkungen

Kommentiertes Personenverzeichnis

Editorische Notiz

Bildteil

Impressum

Vorwort

Zufall oder Bestimmung? – Die Eltern konnten sich darüber nie einigen. Vater glaubte, es sei vorbestimmt gewesen, dass sie sich im Februar 1952 kennengelernt hatten. Es hatte für ihrer beider Leben so sein müssen. Mutter beharrte auf dem Zufall: Alles hätte auch anders kommen können … Dennoch wusste auch sie, ihre Begegnung mit dem Autor des »Ochsenkutschers« war lebensentscheidend. –

2005, bei einem Besuch an ihrem Krankenbett in Schulzenhof, erzählte Mutter von ihren literarischen Plänen. Sie würde ihre Erinnerungen »Im Garten der Amseln allein« schreiben, einen Gedichtband zusammenstellen und Vaters Tagebücher sowie ihren Briefwechsel mit ihm veröffentlichen. Mutter war hochgestimmt an jenem Tag, ja euphorisiert redete sie von ihrer literarischen Zukunft. In der Folgezeit ging es ihr gesundheitlich wieder schlechter, und sie sprach kaum noch von ihren Buchprojekten.

Nach Mutters Tod fanden sich die abgeschriebenen Briefe der Eltern im Schulzenhofer Archiv. Vaters Briefe hatte der Strittmatter-Biograph Günther Drommer, Mutters Briefe hatte Constanze Holtz-Baumert abgeschrieben. Zusätzlich fanden sich abgeschriebene Telegramme von Mutter und undatierte Nachrichten der Eltern, die sie in ihrer Berliner Wohnung füreinander hinterlassen hatten. Mutter hatte durch Constanze im Archiv anscheinend alles aufspüren lassen, was ihr als Beweis der großen Liebe der Eltern galt. Leider hatte sie die Briefabschriften nicht mehr durchgesehen. Und so entdeckte erst ich Fehler, Ungereimtheiten, in ihren Briefen. Mir schien, sie fielen, im Vergleich zu Vaters, stilistisch ab. Dann kamen mir Zweifel: Die Lyrikerin hätte wohl gemerkt, wenn ihre Briefe aus den fünfziger Jahren denen des Dichters unterlegen gewesen wären, und auf eine Veröffentlichung verzichtet. Das aber wollte sie: Die Strittmatter-Leser sollten erfahren, welch eine Ausnahmeliebe Eva und Erwin Strittmatter gelebt hatten und dass kein Vorher und kein Nachher an Liebe an sie heranreichte.

Ich bat Doktor Franka Köpp, die Archivarin des Strittmatter-Archivs in der Akademie der Künste, die die Nachlässe der Eltern übernommen hat, um Kopien von Mutters Originalbriefen, und als ich mich mit ihnen beschäftigte, zeigte sich, Constanze, Mutters emsige Mitarbeiterin während vieler Jahre, hatte Mutters Worte zuweilen falsch gedeutet – ein Umstand, der in erster Linie Mutters damaliger Handschrift anzulasten ist. Mutter hat ihre Handschrift im Laufe der Jahre mehrmals völlig verändert. Auch verfügte sie gleichzeitig über verschiedene Schreibweisen, wie die Briefe an ihre Mutter aus den fünfziger Jahren belegen. In den Briefen an Vater handelt es sich um eine für mich unergründliche Vermischung lateinischer und deutscher Buchstaben, die obendrein, wenn Mutter schnell schrieb, ineinanderflossen und sich als verkürzte Buchstabengruppen auf dem Papier finden. Vater hatte schon zu Anfang ihrer Beziehung Evas Schrift beanstandet, und sie hatte ihm zu Ostern 1952 eine bessere Handschrift versprochen, es aber nicht eingelöst.

Ich las mich über Monate in Mutters einstige »Geheimschrift« ein; zum Teil wurde es zusätzlich erschwert, weil Mutter die Briefe mit Bleistift und im Krankenbett, das Papier auf den Knien haltend, geschrieben hatte. Sei’s drum. Je mehr ich die Briefe enträtselte, desto deutlicher offenbarte sich mir, dass sie Vaters Briefen durchaus stilistisch gewachsen waren. Das beglückte mich, wenn auch einige Worte für immer im Dunkeln bleiben werden, für mich und für den Leser.

Erst als ich die Briefe der Eltern zeitlich geordnet hatte und sie in Reihenfolge lesen konnte, gewahrte ich, dass fünf Briefe von Mutter aus dem Jahr 1954 fehlen. Vater erwähnt sie in seinen Briefen, er nennt einen sogar »bettinisch«. Alles Suchen nach den Briefen im Akademie-Archiv war vergeblich. Schließlich entsann ich mich: Im Sommer 1970, als Vater ins neue Schulzenhofer Haus umzog, leerte ich für ihn den Verschlag neben der Stallstube, in der er bislang gelebt und gearbeitet hatte. In dem Verschlag zwischen Stube und Dachschräge, in den man nur kriechen kann, hatte Vater Briefordner gelagert. Da er ihn selten inspizierte, hatten sich in ihm Mäuse einnisten können. Zu jener Zeit gab es auf dem Pferdestallboden eine Mäuseplage. Überall standen Mäusefallen und Schalen mit rostrotem Mäusegift. Überall, nur nicht im Aktenverschlag. So konnten Mäuse ungestört Briefordner zerraspeln. Ich sehe mich an einem heißen Sommertag zerfetzte und übelriechende Briefordner zur Mülltonne tragen. Vielleicht war auch ein Ordner mit Briefen des Jahres 54 darunter … Dass Vater Mutters Briefe aus Versehen vernichtet hat – er, der, wie Mutter sagte, jeden Schnipsel aufhob, halte ich für ausgeschlossen. Mutter hatte Vaters Briefe in ihrem Zimmer im alten Haus aufbewahrt, und so wurden die schriftlichen Liebeszeugnisse des Dichters an seine Frau nicht von den Mäusen angenagt.

2015 schlug ich – im Einvernehmen mit meinem Bruder Jakob – der Aufbau-Lektorin Angela Drescher vor, die Briefe der Eltern zu veröffentlichen. Dem Verlag gefiel die Idee. Ich musste mich wegen der Fülle des Materials auf einen Zeitraum beschränken. Also wählte ich unter dem Titel »Du bist mein zweites Ich« die Jahre 1952 bis 1958 aus, als der Briefwechsel der Eltern am intensivsten war. Auch später haben sie sich Briefe geschrieben, doch in größeren zeitlichen Abständen, mal schrieb der eine und mal der andere, wenn er außer Landes war oder im Krankenhaus lag.

Hätte sich Mutter an der Herausgabe der Briefe noch beteiligen können, sie hätte den Band gewiss durch einige jener undatierten Nachrichten und Telegramme angereichert. Sie hätte zeitlich zuordnen können, was mir nicht möglich war. Mir blieb nur, in meinem Gedächtnis zu kramen und für Ingrid Kirschey-Feix’ Anmerkungen Informationen zu den frühen Berliner und Schulzenhofer Jahren der Eltern zur Verfügung zu stellen. Für die Briefe einer Liebe, die letztendlich schicksalhaft war.

Wer mehr wissen möchte über das Leben der Strittmatters nach 1958, der lese Vaters Tagebücher »Nachrichten aus meinem Leben« und »Der Zustand meiner Welt«, oder der lese Mutters »Briefe aus Schulzenhof«.

Erwin Berner

Juli 2018

Den Namen Erwin Strittmatter hörte die Studentin Eva Wernitz 1950 zum ersten Mal von einem Kommilitonen, der von dem gerade erschienenen Roman »Der Ochsenkutscher« schwärmte. Etwas später las sie in der Wochenzeitung »Sonntag« eine Geschichte des Autors und sah ein Foto von ihm. Als die 22-Jährige zunächst freiberuflich, dann fest angestellt beim Schriftstellerverband arbeitete, tauchte der 39-jährige Strittmatter Anfang 1952 im Büro auf und fragte – etwas unwirsch, wie sie fand – nach dem Sekretär. Abends nahmen beide an der Verbandstagung teil, und Strittmatter erkundigte sich bei Paul Wiens, der neben ihm saß, wer diese junge Frau sei. Sie war verheiratet, hatte ein Kind und wohnte, getrennt von ihrem Mann, in Berlin-Mahlsdorf. Er, zum zweiten Mal verheiratet, mit je zwei Söhnen aus jeder Ehe, lebte als freiberuflicher Schriftsteller in Spremberg und war nach seinem erfolgreichen Romandebüt in den Vorstand des Potsdamer Schriftstellerverbandes gewählt worden.

Drei Wochen darauf begegneten sie sich bei einer Tagung der Jungen Autoren in Potsdam wieder und kamen sich näher. So geschehen in der Nacht vom 23. zum 24. Februar 1952.

1952

Spremberg, d. 26. II. 52

Eva!

Ob ich Dir wirklich schreiben soll? Deine Zustimmung beim Abschied war nicht sehr ermunternd. Du suchst – und das habe ich gerade bevor wir uns trennten empfunden.

Schon jetzt könnte der Brief beendet sein, denn er soll Dir eigentlich nur sagen, daß ich an Dich denke. Ich fluche, weil’s mehr geschieht, als mir bei meiner Arbeit zuträglich ist.

Damit habe ich fast schon mehr verraten, als gut ist. Aber das kommt wohl ganz darauf an, in welche Hände so ein Geständnis gerät.

Freilich hast Du in jener eigenartigen Morgenstunde gehaucht: »Ich mag Dich«, aber da ich noch mit meinen Gedanken in Deinem Wesen umherirre, weiß ich nicht, wo ich dieses Bekenntnis hinlegen soll.

Und ich habe an jenem Morgen gefühlt, daß wir uns nah sind. Ich sagte das auch. Du freutest Dich darüber. Allerdings habe ich das am nächsten Tage von Dir aus nicht mehr so bestimmt gefühlt. Irre ich mich? Warst Du zu müde?

Wie gut wäre es jetzt, eine Stunde, eine Weile miteinander zu reden.

Wenn Dir dieser Gruß mißfällt, dann beantworte ihn nicht, laß ihn unerwähnt. Ich werde dann wissen. –

Viel Gutes

vom »großen Mann«

Berlin, 29. 2. 1952

Lieber Erwin!

Ob die Stärke eines Wunsches seine Erfüllung herbeizwingt?

Ich glaube es fast, denn nach nur an der Oberfläche bewegten, nur scheinbar erfüllten Tagen beglückte mich gestern spät abends Dein Brief.

Viele Fragen finde ich in ihm; aber eine Gewißheit: das Nahesein, das diesen schrecklichen Sonntag inmitten der Anderen überstanden hat.

Ich war nicht »zu müde«, ich war nicht verändert, aber ich versuchte, Deine Mahnung an die »Vertreterin des DSV« in meinem Verhalten zu berücksichtigen.

Du schreibst, daß Du noch in meinem Wesen umherirrst, nicht weißt, was Du aus meinem Verhalten ableiten, wie Du mich verstehen sollst.

Du hast Recht, wenn Du annimmst, daß ich suche. Es ist ein schweres, ernsthaftes, manchmal schon verzweifeltes Bemühen, irgendwo ein Echo, eine wirkliche Berührung zu finden. Ich sprach zu Dir davon.

Ich weiß von Dir nicht viel, ich kenne Dein Leben nicht, ich möchte es nur gern in einem Bild zusammenfassen. Aber es gelingt mir noch nicht. Ich weiß nur eines: daß Du traurig bist. Ich sehe Dich aber anders, in einer ganz anderen, möglichen Art.

Für mich habe ich in diesen wenigen Stunden eines herausgelesen, was mir so wohltat: Güte, Verstehen wollen.

Das was ich eigentlich suche: Wärme, die alle Spannungen zu lösen weiß.

Wenn Du in meinem Leben nicht mehr werden würdest, als diese Morgenstunden umschließen, hättest Du mich dennoch froh gemacht.

Ich kannte von Dir bis zu dieser Zeit nicht viel mehr als den Namen. Wundert es Dich, daß ich den Zugang zu Deinem Wesen suchte und zu dem Naheliegenden, zu Deinem Buch griff? Sicher nicht.

Ich habe es am Montag gelesen und habe die Nähe zu Dir gefunden, die ich mir wünschte. Ich möchte Dir viel dazu sagen, was einem starken Gefühl der Verbundenheit entspringt.

Aber ich kann es nicht jetzt. Eines nur weiß ich: daß hinter diesem bitteren Leben etwas Anderes als Möglichkeit, als Notwendigkeit steht. Die Sehnsucht, die in Lope steckt, findet in unserem Leben ihre Erfüllung; auch die menschlichen, die einfachsten Beziehungen werden schön. Und durch die Herbheit mancher Erlebnisse spüre ich Deine Liebe zu den Menschen, Deine Sehnsucht nach dem Anderssein, die gerade Dir die Fähigkeit gibt, das Neue zu gestalten. Sicher ist das schlecht gesagt; aber vielleicht fühlst Du doch, wie ich es meine.

Ich teile Deinen Wunsch nach einem guten Gespräch.

Ich wünschte, daß ich Dich bewegen würde, zu der Kommissionssitzung am Dienstag, 4. 3., zu der Du eingeladen wurdest, nach Berlin zu kommen.

Es wäre wahrscheinlich eine bessere Gelegenheit zu einem Treffen als Potsdam. Zu der nächsten Arbeitstagung am 15./16. 3. werde ich wieder dort sein.

Aber ich sehe Dich sicher bald?!

Ruhe zur Arbeit wünscht Dir

Eva

Berlin, 5. III. 52

Du Mädchen Eva!

Jetzt sitze ich hier wach und bereit wie eine Frühlingsknospe, die aufspringen möchte.

Das Mädchen Eva wußte doch mit den Tücken der Köpenicker S-Bahn nicht Bescheid. Schon um 1.30 h fuhr keine mehr. Straßenbahnbummel durch Berlin. – Nachtlinie. Jetzt gegen 3 h hier auf dem Ostbahnhof. Für Boris war es zu spät. Außerdem muß ich allein sein.

An Deiner Straßenbahn-Haltestelle habe ich mir vorzustellen versucht, wie das Mädchen jeden Morgen einsteigt. Die Nachtstimmung könnte auch 1885 gewesen sein. Gaslaterne beleuchtete das Firmenschild eines Schlächtermeisters. Die frühlingsbereiten Bäume. Eine O-Bus-Schachtel, oben und unten erleuchtet, fuhr vorüber. Ein einziger Fahrgast darin. Er schlief. Der Schaffner kontrollierte den Schlaf.

Ich war zum Jauchzen bereit. Allen Menschen hätte ich Liebes sagen können. Mit einem Betrunkenen schloß ich »feste« Freundschaft bis zur Schillingsbrücke. Unsere Zustände waren verwandt. Am liebsten hätt’ ich ihm vom Mädchen erzählt. Mir ist es zu allen Zeiten schwerer gewesen, mit Glück als mit Unglück allein zu sein. Ich wünsche mir, Irmgard käme morgen und begänne von Dir zu schwärmen, dann könnt’ ich sie still und innerlich dabei begleiten.

Weißt Du, wie es ist, wenn dunkle Wolken von Sonne angestrahlt werden? – Auf dem Tisch, an dem ich schreibe, liegen die schlafenden Köpfe zweier Männer. Wartesaal-Nachtstimmung. Wie können die Männer schlafen, wenn doch mein Herz so pocht!

Ich kann nur ahnen, wie Du schläfst. Sicher ist dann Dein Mund nicht so Spiegel innerer Unruhe und gleicht sich den Kinderaugen an. Dieser Mund aber auch!

Stammele ich? Laß mich stammeln! Ich möcht doch so gern wieder einmal ein ganzer Mensch sein. – Meine Umgebung verbraucht mich nur stückweis – ach!

Einen stillen, schönen Abend für Dich

Erwin

Berlin, 5. 3. 1952

Lieber Erwin!

Warum soll ich eigentlich auf Deinen Brief warten, um ihn dann zu beantworten? Es kann doch auch anders sein. Ich habe Dir auch von mir aus viel zu erzählen. Und nicht nur das:

Bevor ich diesen Tag, mit viel geplanter Arbeit, beginne, will ich all das Schöne, das mich bewegt, um das meine Gedanken seit dem Erwachen kreisen, in das ich mich mit aller möglichen Andacht versenke, so zusammennehmen, daß es wieder so aufklingt wie gestern abend.

Meine Worte kommen gar nicht an das heran, was ich ausdrücken möchte; aber da Du das Gefühl kennst – seit gestern weiß ich es sicher – wirst Du mich verstehen.

Warum mußt Du auch so weit und so lange fort sein – es ist so schwer, Gefühle in Worte umzusetzen. Man kann sie nur beschreiben und trifft es doch nie.

Wenn Du jetzt hier wärst, würden wir uns gemeinsam über diesen herrlichen Tag freuen, der vom Frühling vorhergeschickt zu sein scheint. Diese ersten sonnigen Stunden im neuen Jahr lassen für mich alle Möglichkeiten des erwachenden Sommers hervortreten. Es gibt für mich keine ähnliche Begeisterung wie die, die mich packt, wenn im April – Mai abends der Wind die Welt auszudehnen scheint. Er erzählt dann wirklich. Mir von süßen Sommertagen am Meer und langen Wanderungen durch dunkle Wälder und von Wegen, die durch Wiesen und Weiden in ein Dorf führen, vielleicht ein Fischerdorf auf Mönchgut. Wenn ich könnte (wenn nicht die »Verantwortung« wäre) würde ich am liebsten bald aus Berlin ausrücken. Aber es geht ja nicht!! Ich kann nur davon träumen und versuchen, in 18 abgezählten Urlaubstagen einen Teil davon zu verwirklichen.

Aber es gibt ja außerdem noch anderthalb Wochenendtage jede Woche, die man ausnutzen kann, und das werde ich in diesem Jahr bestimmt tun.

Als ich heute früh die Augen aufmachte, war sofort der vergangene Abend wieder da, und der sonnige Morgen, der mir ins Fenster lachte, paßte ausgezeichnet zu meiner Stimmung.

Dann habe ich erst einige Stunden ganz still verbracht, um nur nichts zu zerstören; am liebsten hätte ich nicht gearbeitet, sondern nur mit geschlossenen Augen zurückgedacht und »nach vorn« geträumt. Deshalb mußte ich Dir jetzt unbedingt erst schreiben. Ich hätte einfach nichts anderes anfangen können.

Ich bin mir nur selber böse, daß ich nicht in der Lage bin, auch nur einen kleinen Teil von dem in meine Worte zu legen, was mich bewegt. Ich glaube, ich habe noch nie einen so schlechten Brief geschrieben.

Wenn es nicht albern und dumm wäre, so würde ich jetzt – wie ein ABC Schütze auf seiner Schiefertafel – auf den Seiten dieses Briefes nur einen Satz immerzu wiederholen: »Ich freue mich, daß Du da bist.« Wenn auch in Spremberg – Du bist trotzdem »da«. Wie froh ich bin, weißt Du sicher. Denn ich weiß es ja auch von Dir, wenn Du es auch nicht sagst. Deine Augen und Deine Hände verstehen es so gut auszudrücken, daß Du keine Worte dazu brauchst.

Wie werden wir die langen Tage überstehen, bis wir uns wieder nahe sein können? Ich werde wohl nur träumen.

Es ist schön durch so bewegte Tage, wie wir sie haben, einen Traum ganz still vor sich hin zu tragen. Ich kenne Dich schon besser, aber Du bleibst »der große Mann«.

Ich warte und träume.

Eva

Spremberg, 5. III. 52

Mädchen Eva!

Es gab einmal eine Zeit, da schrieb ich Briefe an eine Frau, die es gar nicht gab, nur um meine unausgenutzten Gefühle unterzubringen. Heute weiß ich, daß ich mit diesem absurden Einfall nicht allein dastehe, denn auch Balzac hat so etwas ähnliches getan. – Nicht, daß meine Liebe um jene Zeit niemanden hatte, über den sie sich auszugießen vermochte, aber diese Wesen brachten eben niemals alle Saiten in mir zum Schwingen – Nur, wenn Du das bedenkst, kannst Du ermessen, wie weise und vorsichtig (das scheint fast ein Widerspruch zu sein) ich mit unserer Begegnung umzugehen gedenke, und wie bang ich deshalb in Dein Wesen hineinlausche.

Immer noch bin ich wach und durchschwungen vom gestrigen Windabend. Heute ist es mondig draußen. Die Luft scheint übers Eis gestrichen zu sein, ehe sie hier her kam. Wenn ich vor die Tür trete, stürmen die Hunde die Gartentreppe herauf. Das Mondlicht silbert ihre aufgerollten Schwänze, und sie legen ihre warmen Schnauzen in meine Hände.

Ob mein Brief, der Bote der gestrigen Nacht, schon bei Dir ist?

Kennst Du das – diesen Traumzustand – wenn man durch die Straßen geht, und es kommt einem immer nur das Wesen entgegen, mit dem man angefüllt ist? Eine Frau kommt Dir entgegen.

Eva – durchzuckt Dich’s, und das Gefühl des Streichelnwollens fährt in Deine Hände, – aber es ist vielleicht nur der Schimmer des Haares, der nach einem scheuen Hinsehen aus einer fremden Frau Eva machte.

Es macht so froh zu wissen, morgen wird wieder ein guter Tag sein, denn ganz bestimmte Gedanken werden Dich wieder begleiten. – Wenn viele Menschen empfinden, daß es sich jetzt gut mit mir leben läßt, dann sollten sie es Dir danken.

Gute Nacht, ihr Kinderaugen

Erwin

6. III. 52

Eva!

Geht’s Dir auch so: Plötzlich hält das jetzt zu Dir hinschlagende Herz sein Klopfen erstarrt zurück. Man liest in der Zeitung, wie Belojannis und seine Gefährten mit dem Faschismus um ihr Leben ringen. Dort unten in Griechenland geschieht das, wo jetzt der Frühling schon mehr daheim ist als bei uns. Draußen der Frühling in den Oliven- und Orangengärten. Sie in den dunklen Kerkern und ihre Hoffnung: Nicht der Frühling draußen, sondern der Frühling in den Hirnen der Menschen. Belojannis’ Mutter schrieb an Stalin. Und Stalin hörte die Stimme der alten Frau. Er rief die Welt auf – seine Welt. – Und jetzt warten sie voller Glauben auf das Gewicht und die Stimme dieser Welt in Sachen ihres Todes.

Wie nimmt unser Glück an Gewicht zu, wenn wir uns das vergegenwärtigen. Vielleicht ist einer unter den Gefährten, der, bevor er »gegriffen« wurde, seine griechische Eva eben erst zu deuten begann …

Aber wir werden uns sehen. Nach Tagen schon sehen, wiedersehen. – Kann man tief, tief glücklich sein, solange so etwas auf der Welt noch möglich ist? Ich werde damit nicht fertig. Wie wirst Du’s?

Sobald ich meine Augen aus der Arbeit nehme, in den Garten schaue, sind meine Gedanken schon bei Dir, aber dieser Gedanke an die griechischen Kämpfer geht mit zu Dir.

Es ist spät, und ich fürchte, ich konnte mich nicht so verständlich machen, wie ich’s gern getan hätte. Ich rechne damit, daß Du Dich langsam daran gewöhnst, auch mein Gestammel zu verstehen.

Oftmals wollen mir viel zu verfrühte Sätze aufs Papier fließen, aber ich wähne, man darf eine suchende Eva nicht damit erschrecken. –

Ich gesteh’s gern, weil ich’s lange nicht so hatte, ich warte auf ein Brieflein von Dir. Auch das ist schön, gerade weil es sich so gut mit den sonstigen Bitterkeiten mischen läßt.

Ob Du schon schläfst?

Erwin

Spremberg, 7. III. 52

Du!

Zwei gute Ereignisse zugleich heute: Dein Brief und die Nachricht, die griechische faschistische Regierung habe sich gespalten, die Pseudo-Justiz müsse dem Druck der Weltöffentlichkeit nachgeben und das Todesurteil gegen Belojannis und seine Gefährten aufheben.

Nie habe ich so deutlich gefühlt wie heute, daß unser Glück mit dem aller fortschrittlichen Menschen der Welt gekoppelt ist.

Dank für Deinen Brief. Dank doppelt, weil er nicht erst auf meinen wartete. Dieser Umstand war so verbindend. Die ABC-Stelle so lieb, daß mein Herz hüpfte.

Auch ich geh so umher wie Du: mit einem Traum im Herzwinkel versteckt. Manchmal meine ich allerdings, alle Welt müßte es mir ansehen. Und schon wieder will etwas auf’s Papier, was Dich erschrecken könnte. Erst mußt Du mich kennen, mehr kennen, denn ich bin ein Mensch, mit dem es sich schlecht leben läßt. Ein ausgesprochenes Talent, meine Umgebung unglücklich zu machen, nenne ich mein eigen.

Ich könnte stundenlang »Eva, Eva« schreien. Das ist ein so langvergessenes Gefühl in mir, daß ich mich fast davor zu fürchten beginne. – »Was kommt, was kommt?« frage ich mich.

Wie wird Dein Wochenende sein? Ich werde arbeiten. Seit langem ging’s nicht so gut bei mir. Die Gedanken fliegen mir zu, wie die weißen Pfautauben draußen vor meinem Fenster ihrem Schlag zufliegen. Stoff für zwanzig Geschichten wäre da, und ich komme kaum nach, ihn flüchtig zu skizzieren.

Und wie wird’s sein, wenn wir uns unter all den anderen Menschen, die zwar zum Teil verstehende Freunde sind, wiedersehen? Wird’s so sein wie in der S-Bahn das letzte Mal, wo ich mich auf der Rückfahrt von Potsdam wieder allein gelassen fühlte?

Nur schnell einmal Deine Hand drücken – das wäre schon viel für heute. Erwin

Berlin, 7. 3. 52

Lieber

Seit in meinem Leben wieder ein Mittelpunkt steht, habe ich zu mir selbst und zu meiner Umgebung auch die richtige Beziehung zurückgefunden. Alles findet wieder sein richtiges Maß. In den letzten Tagen habe ich mich völlig in mich zurückgezogen, in mich hineingehorcht; aber heute bin ich so weit, daß ich mit dem ersten Sonnenstrahl Kraft in mir aufsteigen fühlte, zu beginnen, die Stärke des Erlebens auch meiner Arbeit zuzuleiten.

Kennst Du die »Briefe aus meiner Mühle« von Alphonse Daudet?

Ich habe sie in einer französischen Ausgabe und begeistere mich oft an ihrer zauberhaften Sprache. So wie D. in der »Installation«(Einrichtung) seine Umgebung besichtigt und beschließt, mit ihr äußerst zufrieden zu sein, wie er die erste Freundschaft mit den Dingen schließt, so habe ich mich wieder meiner nächsten Umgebung zugewandt. Am liebsten würde ich überhaupt nicht mehr fortgehen, um nur nichts von meinem Glück entschlüpfen zu lassen. Ich will eifersüchtig darüber wachen, und deshalb brauche ich auch wieder einen Platz, an dem ich mich ganz diesem Glück hingeben kann. Bisher war ich nur zum Schlafen zu Hause, alles war so leer, daß ich mich vor meiner Wohnung fürchtete; das war aber nur, weil es in mir leer war und ich draußen verzweifelt suchte.

Jetzt ist alles anders.

Welch eine Fülle erregender Erlebnisse hast Du mir gestern gegeben.

Ich habe Dein Gedicht gelesen (ich bin Dir böse, daß Du darüber so spöttisch als »gesammeltes Werk« sprichst) und drei Erzählungen. »Der entminte Acker«, »Das Jahr der kleinen Kartoffeln«, »Die fünf Bananen (?)«. Ich kam gegen 18 Uhr nach Hause und – sicher ging mein so starkes Sehnen in Erfüllung – fand Deinen Brief. Ich war den ganzen Tag über unfähig zu der geringsten Handlung. Am Abend wollte ich arbeiten; aber als ich Deinen Brief gelesen hatte, mußte ich mich mit meinem Glück in den Traum zurückziehen. Ich stehe staunend wie vor einem Wunder vor dem plötzlichen Anbruch des Erlebnisses.

Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr mich jede Stunde, jedes Gespräch mit Dir verwandelt. Ich kann Dir im Einzelnen nicht sagen, woran es liegt. Wohl weiß ich vieles, was gut ist an Dir und nie gefunden vorher. Aber Du bist es im Ganzen. Es gibt nichts was abspringt. Deine Hände, Deine Stimme, Deine Augen – aber es ist Dein Wesen – Du bist einfach gut. Nur das kann es sein, was mich so löst, daß ich es Dir sagen kann. Du fühlst das auch, die Kraft in Dir. Sonst hättest Du nicht schreiben können: »folg mir …«

Weißt Du, daß das eigentlich alles Sehnen umschließt? Den Menschen zu finden, dem man folgen kann in Übereinstimmung, ist – so glaube ich – das stärkste Glück.

Das Gedicht hat mich so bedrängt, es läßt mich nicht los.

Ich weiß, daß die Unruhe in mir wachsen wird, bis wir wieder zusammen sind. Dann wirst Du mit Deiner ruhigen Stimme über mich hin streichen, ich werde Deine Hand fühlen, wir werden uns auch inmitten der Anderen nicht verlieren – und ich werde so sicher sein wie Du.

Ich stemme mich gegen die Gefahr, die Tage mir danach zu bemessen, ob sie endlich vorbei sind, und ob sie mich Dir näherbringen. Wenn Du mir sagst, daß Du es kannst, daß Du Dein Leben und die Arbeit trotzdem in Ordnung hast, dann werde ich es auch können.

Ich will doch nicht das Warten zum Rhythmus meines Lebens machen! (Und trotzdem wird es immer schlimmer werden.)

Sag mir, daß ich dumm bin, und daß Du mich nur liebst, wenn ich meine Pflichten erfülle!

Wir müssen in Potsdam Zeit finden, ich möchte mit Dir gern über Deine Erzählungen sprechen. Schreiben mag ich nicht.

Ach Potsdam! Noch acht Tage!

Aber bis dahin erreichen mich bestimmt noch neue Grüße von Dir, die mich so freuen, wenn ich auch ohne sie Deine Gedanken immer bei mir fühle –

Glückliche Tage für Dich!

Eva

Spremberg, 8. III. 52

Du Mädchenfrau!

Heute nachmittag – Irmgard war gerade in meinem Arbeitsstübchen und schwärmte von Dir – kam Dein zweiter Brief, meine Sonntagsfreude. Nun habe ich ihn schon mehrmals gelesen und trage ihn in der Tasche bei mir. Schon sein leises Knistern macht mich glücklich. Deshalb muß ich Dir den Schluß eines alten Gedichts hier nochmals hinschreiben. Ich sagte ihn Dir kürzlich:

… manchmal ist meine Tasche im Rocke,

die einen Brief und ein Bild warm umhüllt,

oder der handblanke Griff am Stocke,

etwas, was mich wie Heimat erfüllt …

Es stammt natürlich aus meinen Wanderjahren.

Deine Fragen: Daudets Mühlengeschichten kenne ich und habe sie – ich glaube im Kriege war’s – mit viel Freude gelesen. Schon liegt das Bändchen als Nachtlektüre auf meinem Tisch. Es soll nachher, nach der Arbeit, eine Brücke zu Dir schlagen. Diese mechanischen Hilfsmittel sind natürlich nicht vonnöten, aber es wird schön sein, sich an Wendungen zu erfreuen, die möglicherweise auch Dich erfreut haben. –

Weshalb über »Gesammeltes Werk« gespöttelt? Das tut oftmals gut, diese Selbstironie. Ich kam damals auch in einem anderen Zusammenhang darauf. Der Aufbau-Verlag schickte mir für das »Gesammelte Werk« eine Vierteljahresabrechnung von 12 (zwölf) Pfennigen. Im letzten Vierteljahr wurden 12 Exemplare verkauft. – Dieses pietätlosen Bürokratismus’ wegen begann ich darüber zu spotten. – Schließlich war gerade dieses Gedicht die Summe langjähriger Träume und Erfahrungen und das erste nach fünf Jahren Schreibverbot von Gedichten, das ich mir selbst auferlegte, weil’s zuvor bei mir doch »rilkte«. – Schließlich war es auch ein Hilferuf. Drei Instanzen haben sich darum gestritten, ehe es überhaupt gedruckt wurde. Die Kritik hat es geflissentlich totgeschwiegen. Erst in China kam es an. Ich erzählte ja. Und jetzt diese Rohlinge mit ihren zwölf Pfennigen. – Du verstehst.

Alles ist jetzt aber nicht mehr wichtig, da es Dich erreicht hat.

Eva!

Ich muß noch arbeiten. Morgen komme ich wieder.

Spremberg, 9. III. 52

Du Liebe, Du!

Ich soll Dir sagen, daß Du »dumm« bist, weil Du den Schwung eines Erlebnisses nicht in Arbeit umsetzen kannst? – Wie könnte ich! Diesem Vermögen geht ein Entwicklungsprozeß voraus, den man durch gute Ratschläge nur wenig verkürzen kann. Ich neige ja selbst noch zu Rückfällen. – Aber probier’s doch erst! Ich habe seit etwa drei Jahren nicht eine schöpferisch so gute Zeit gehabt wie augenblicklich. Schon dafür allein müßte ich Dir sehr, sehr dankbar sein. – Jeder schöpferische Mensch ist irgendwo in einer Herzkammer ein krasser Egoist um seines Werkes willen. Das wirst Du ja wissen. Gar zu gern möchte sich zuweilen das Werk als Geliebte Nr. 1 aufspielen. Es ist oftmals gar nicht leicht, die Harmonie in dieser Hinsicht herzustellen.

Ich sage Dir das, weil ich mich davor fürchte, daß Du meine »Güte« überschätzt. Was wäre ich für ein fader Mensch, wenn ich nur aus »Güte« bestehen würde. Freilich hat die Fülle meiner Erlebnisse und Erfahrungen manches in mir geglättet. – Ein See bei Windstille. – Bedenk, daß wir uns vorläufig nur mit Sonntagsgesichtern kennen.

Ich warne, weil mir unser eben beginnendes Glück so kostbar ist. Ich will’s schützen für Dich, für mich und nicht zuletzt für unsere Arbeit, die doch so schön verantwortungsvoll ist.

Was ist das heute für ein reicher Sonntag! Alles beginne und tue ich mit Dir zusammen. Gleich werde ich für eine Stunde mit den Hunden in den Wald gehen und Deinen Brief gleich mit zum Bahnhof nehmen. Der Birnbaum vor meinem Fenster steht mit seinen dicken Knospen sprungbereit. Noch muß er sich vom kalten Wind belecken lassen, aber schon morgen kann es anders sein. Der Himmel kann den Frühling nicht mehr verschweigen. Der Wind wirkt deshalb wie ein Prahlhans, der vom Winter erzählt.

Ich bin bei Dir, Eva.

Tiefer Blick

Erwin

Berlin, 9. 3. 52

Einen guten Sonntagmorgen!

Ich wollte diese frühe Stunde eigentlich nehmen, um einen langen Spaziergang in »meinem Wald zu meinem Flüßchen« zu machen. Aber nun will ich den Tag doch lieber beginnen, indem ich direkt mit Dir spreche. Der Ausflug wird in die warme Mittagsstunde verlegt.

Es ist recht herrlich und friedlich, um froh gestimmt zu sein. Die Sonne spielt auf meinem Brief herum, als wollte sie mir sagen: Einmal nicht so ernst, mach’s lustig!

Ich könnte es auch; aber nicht jetzt; denn da ist wieder Dein Brief, der mich gestern erreichte, für den ich Dir die reine Freude danken muß, die Du mir damit gegeben hast.

Aber er hat mich auch sehr ernst, nachdenklich und vielleicht ein wenig traurig gemacht.

Da steht ein Satz …, daß Du weise und vorsichtig mit unserer Begegnung umgehen willst, über den ich viel nachgedacht habe.

Warum willst Du Dich nicht offen und ohne Vorbehalte dem Gefühl hingeben?

Wenn die Möglichkeit für eine Harmonie da ist, wenn das, was Du in mir siehst, indem Du in mich hineinsiehst, vorhanden ist, dann klingt es auch, wenn aus Deinem Wesen die Aufforderung fällt, auf und zusammen; dann wird »aus zwei Saiten eine Stimme gezogen«.

Ich habe es mir immer so gewünscht, wie ich es jetzt finde. Nicht krampfhaft nach neuen Zügen, neuen Seiten des anderen Menschen zu suchen, nicht nur die eigenen Erwartungen in ihm gespiegelt zu sehen, sondern bei jeder Begegnung, bei jedem Brief, jeder Zeile, sich beglückt zu verhalten, staunend zu stehen, weil einem ein Ungeahntes, Schönes zufällt. Und dabei möchte ich noch viel, viel mehr von Dir wissen: Ich möchte Dich auskennen und dabei doch nie ans Ende kommen.

Ich möchte gerade jetzt gern wissen, ob Du Musik liebst und welche?

In meinem Leben ist sie das Schönste. Nichts, kein Brief, kein Gedicht reicht an die Musik heran.

Weißt Du, was mein Maßstab für das Glücklichsein ist?

Woher soll man eigentlich wissen, daß es noch mehr Glück als das schon erreichte geben muß? Ich weiß es aus der Musik.

Wenn ich das Beethoven-Violinkonzert höre oder das von Bruch oder die Kanzonetta aus Tschaikowskis, dann weiß ich, daß das das Glück ist. Darüber gibt es nichts. So gelöst, so hingegeben wie an die Musik, so völlig befriedet, so beschenkt wie von ihr möchte ich von einem Menschen sein.

Und das gibt es, kann es jedenfalls geben. Ich weiß es sicher. Ohne diesen Glauben könnte ich einfach nicht leben.

Wenn ich dann nachdenke, wie dieser Mensch sein muß, dann scheinen es die selbstverständlichsten und alltäglichsten Eigenschaften zu sein, die ich mir an ihm wünsche: Er soll einfach und klar sein und sich auch so empfinden. Nur nicht »kompliziert«; ohne Winkelzüge und geliebte Leiden, einer persönlichen Aufgabe hingegeben, die der allgemeinen dient; diese soll er so ernst nehmen, daß nichts ihn von ihrer Verwirklichung trennen kann. Immer in der Entwicklung, mit einer Leidenschaft für das Leben, für alle seine Schönheiten, die ihn zu jeder Aufnahme fähig macht. So soll er sein, daß ich folgen kann mit eigenem Willen und eigenen Schritten; nur folgen; es darf keinen Zweifel über die Führung auf dem Wege geben.

Ich fühle mich für mich allein stark genug, meine Schwächen zu überwinden; aber die eines anderen dauernd zu tragen, nicht. Das hat nichts zu tun, mit dem Festen-Halt-Bieten für eine Zeit des Suchens; das immer; durch den Glauben an die nur unterbrochene Kraft des anderen.

Wenn man so sucht, dann kommen eben keine Menschen in Frage, an denen einem dieses oder jenes gefällt. Vielleicht hat einer lachende Augen, die man so liebt; aber die können oft lügen und dahinter ist Schwäche. Oder die ernste Auffassung vom Leben scheint sich in vielen Gesprächen zu beweisen, und dahinter steht doch Ratlosigkeit. Oder einem anderen springt die Fähigkeit zum frischen Losstürmen aus den Zügen, dieser Schwung, der einen so begeistert, – und nachher bleibt er nach kurzem Wege stehen. – Man wird also genau hinsehen müssen, ob das Ganze da ist und wo es sich bewiesen hat; wie der Weg gemacht wurde bis hierher. Und das ist schwer; weniger, das zu prüfen, als das eigene Eingeständnis, daß die Gleichung nicht stimmt./Was sollst Du damit an einem sonnigen Sonntagmorgen? Verzeih mir bitte; daß ich nicht zu Dir direkt gesprochen habe! Ich werde es bald tun! Ich bin immerzu bei Dir;

Eva

Spremberg, 12. III. 52

Mädchenfrau!

Schön, daß Du einen Wald und ein Bächlein hast, und doch sieh, ich kann mir Dich nicht vorstellen, wie Du da allein einhergehst. So entscheidend und zäh wollen einem oftmals die ersten Eindrücke ein Bild aufhalsen.

Heute kam Dein »weiser« Brief. Weshalb soll ich nicht gestehen, daß ich seit Montag jungenhaft auf ihn wartete. Und da schiebt sich schon die Frage ein: Warte ich nicht zu sehr auf Deine Zeilen? Darf ich Dich schon so in mein Leben einbeziehen?

Ah, da schon wieder die »weise Vorsicht« – es ist ein Kreuz mit dem Kerl, wirst Du sagen.

Weißt Du, Eva, was ich empfand, als ich Deinen heutigen Brief las? – Du hast meinem tastenden »Du« ein ziemlich bestimmtes gegenübergestellt. So bestimmt, daß ich für Augenblicke erschrak. Es war die Ausschließlichkeit – eine ein wenig lebensfremde Ausschließlichkeit, die mich daraus ansprang. Du erinnerst Dich unseres Gesprächs: Man darf nicht mit dem Lineal an die Menschen herangehen, es rauflegen und dann abhacken wollen, was über die Linealkante hinausreicht. – Nun, – Du weißt, was ich meine.

Denk nicht, daß ich ein fürchterlich komplizierter Mensch sei, der seine »Leiden liebt«. Nein, denk nicht, daß ich deshalb Einschränkungen des Bildes von »Deinem« Menschen heische.

Es hat mich vielleicht mehr in Verlegenheit gebracht, daß ich an Deinem ungestümen Wunschbild, das so voll Jugend war, ermaß, wie alt ich eigentlich schon bin.

Auch in mir west der Wunsch noch recht stark, so zu sein, wie Du Dir Deinen Menschen vorstellst, aber da sind doch die Verwicklungen und Verflechtungen eines vierzigjährigen Lebens (oft, ach, so verschrobenen und durch die Umwelt komplizierten Lebens) durch die man hindurchwachsen muß.

Wollte ich nicht hindurchwachsen, wollte ich nicht eines Tages doch damit fertig werden, wie wären meine Augen da auf Dich gefallen?

Ich will damit nicht um Geduld oder Rücksicht für mich plädieren, sondern nur ganz leise darauf aufmerksam machen, daß einem das »fertige« Ideal wohl kaum eines Tages entgegenspringt. – Vielleicht verstehst Du mich, wenn ich behaupte, daß die Zeit des Aneinander-Reifens sogar sehr beglückend und ersprießlich sein kann. Vorausgesetzt natürlich, es ist von Anfang an die für eine Entwicklung nötige Substanz vorhanden.

Beginne ich heute zu dozieren? Ich will nicht auf Deine einzelnen »Forderungen« eingehen, aber schnell ein Beispiel: Wie kann jemand aus dem Tatendrang, der in seinem Gesicht steht, Tat machen, wenn ihm noch Motive dazu fehlen. Muß er sie nicht aus der Umwelt holen?

Ich merke, ich kann mich heute nicht so verständlich machen, wie ich gern möchte.

Das ist nun mein letzter Brief vor dem Wiedersehen, dem ich jetzt eigentlich etwas bang entgegensehe. Wird nicht jeder Deiner Blicke Dein »Ideal« meinen, und ich mit all meinen aufgewühlten Gefühlen sitz’ da wie ein »schön Getäuschter«?

Wenn ich Dich jetzt sehen könnte, wüßte ich mehr, wäre ich froher. Dein Brief, in dem es heißt, daß wir uns am Sonnabend/Sonntag trotz der anderen nahe sein werden, meint es so gut.

Ich werde schon am Freitag hier abgeholt. Lese am Abend bei der FDJ im Oderbruch und fahre von dort aus nachts nach Potsdam. Da kann ich mich nachts im Auto so schön vorfreuen.

Eigentlich werde ich das Gefühl nicht los, daß wir uns schon lange kennen. Und wenn Du am Sonnabend/Sonntag nicht kommen würdest, säße ich wahrscheinlich da wie die schlechtere Hälfte meines Ich’s.

Ich arbeite an einer Kindergeschichte aus der Wuhlheide für das Jahrbuch des Kinderbuchverlags. Allerdings werde ich bis zum Sonnabend noch nicht so weit sein, sie mit Dir durchsprechen zu können.

Jetzt kann man schon die Stunden zählen. Gib mir Deine Hand!

Erwin

Potsdam, 15. III. 52

Eva, Eva!

Ich bin mehr als die halbe Nacht unterwegs gewesen und habe viel an Dich (und über uns) gedacht. Sag Du mir heute, daß ich dumm bin. Ich meine damit auch meinen letzten Brief mit seinen »Befürchtungen«.

Jetzt klopft mein Herz, weil ich Dich gleich sehen darf. Ich freue mich. Die Sonne meint’s gut mit unseren Tagen.

Ganz bei Dir

Der Mann

Spremberg, 17. III. 52

Eva, Mädchenfrau!

Bevor ich wieder in meine Erzählung kriechen kann, muß ich Dir schnell sagen, wie ich fühle.

Ein halber Mensch sitzt hier. Die Hälfte eines Menschen – wie jener »Kleine«, den Du nicht magst. Vor meinem Fenster streichelt die Sonne die Birnbaumknospen. Ich bin heute eifersüchtig auf die Sonne, daß sie streicheln darf, was sie liebt. –

Kein Handgriff, seit ich heute hoch bin, (es war schon sehr zeitig), geschieht ohne Dich. Ganz vollgesogen bin ich von Deiner Nähe. Jede Zelle in mir möchte Mund sein und Deinen Namen in allen Schattierungen hinausschreien. Jedes Wort, was ich heute schreiben werde, wird ein kleiner Gruß sein, der Dich erreichen und beglücken will.

Am liebsten hätt’ ich den Pionieren heute von Dir (von uns) erzählen mögen. Sie werden ohnehin merken, daß ich ein Veränderter bin. Kinder und Hunde fühlen in dieser Hinsicht besser als manche Verwachsene.

Ich bin verzankt mit dem Schlaf, den ich früher oftmals als wohltuend Enthebenden begrüßte. Jetzt nenn’ ich ihn einen Dieb, weil er meine Wachstunden bestiehlt, in denen ich staunend um den Berg des Glückes stehe, der sich plötzlich auf meinem Wege zu erheben begann.

Ich denke an alle guten und schönen Plätze Europas, die ich sah und fand. Alle möcht’ ich Dir zeigen, um das einstige Erleben an ihnen mit Dir zu verdoppeln. Ein verschütteter Blutquell ist in mir aufgebrochen, und wer ihn wieder zuschütten wollte, würde zum Mörder werden.

Der ganze Morgen ist voll von Musik. Würd’ ich die Notenschrift besser beherrschen, würdest Du wahrscheinlich Lieder von mir erhalten. – Gerade daran merke ich, wie jung Du mich machst. Es gibt solche Lieder aus der Zeit meiner ungeklärten Jugend. – Aber die geklärte Jugend ist schöner.

Wie wünsche ich, daß ich mich nicht verfühlen möge, wenn ich fühle: Die Zeit, auf die ich seit zwölf, dreizehn Jahren warte, ist angebrochen. Alles, was ich inzwischen schaffte, kam aus der eigenen Substanz, und mählich wurde ich ein liebesarmer Mann.

Ach, wie provozierend sich die Pfautauben auf der Gartenlaube küssen. – Ich will nach der Arbeit im Garten hantieren, graben, den Erdduft einatmen und erfühlen, wie Du dazu paßt.

Neidisch bin ich auf alle Menschen, die Dich im hastigen Berlin sehen dürfen, denn die Nachtstunden am Heiligen See durchrieseln mich noch. Wie doch alles in mir zu Dir hin wollte!

Du, ich muß ja arbeiten. Ich bin ja so geneigt, mich zu verträumen. Wie könnt’ ich Dir Beispiel sein, wenn ich’s tun würde!

Bleib mir gut!

Ich komme bald wieder.

Ich kann meinen Namen nicht hier her schreiben. Du bist zu groß in mir,

Eva,

Mädchenfrau!

Berlin, Montag abend [17. 3. 1952]

Einen schönen Wochenbeginn und einen guten Abend!

Ich habe mich gestern Abend bezwungen und mein umgewühltes Innere, das nur ein einziger Schrei war, nicht zu Dir geschickt.

Du weißt, was war. Es war zu viel, es ging bis zum Rande des Ertragbaren. Alles in mir klagte, klagte an, wollte Sturm laufen, die Widerstände einreißen. Aber wen anklagen, wen überrennen? Die Zeit?

Nein, wir müssen sie gehen lassen, ihr die Prüfung unseres Glaubens zugestehen, die Gewißheit nur von ihrer Bestätigung erwarten.

Ich weiß, daß es, so wie es mit uns ist, schwer ist. Der Hindernisse, der riesigen Berge sind so viele. Sind es vielleicht zu viele?

Du sprachst an unserem Abend von Deiner Befürchtung, daß für mich alles nur ein Strohfeuer sei.

Ich habe gestern darum gefleht, daß es vorübergeht. Wäre es nicht leichter? Wir sind in so zahlreiche Bindungen verstrickt, ganze Wälder von vergangenen Gefühlen strecken uns ihre trockenen Äste doch immer wieder entgegen. Sie wollen nicht weichen. Ich denke mehr an Dich als an mich, denn ich bin ja so jung.

Ach, weißt Du denn, wie ich um Dich bin mit all meinen Gedanken und Gefühlen? Du sollst einem anderen Menschen kein Wort, kein Lächeln geben, weil es doch mir gehört. Ich fühle doch, daß »ich es bin«, sein muß.

Weißt Du denn, wie ich träume? Daß Du im Mittelpunkt meiner Tage stehst, daß keine Zukunft ohne Dich entsteht?

Wenn Deine Hände, die ich liebe wie etwas nie Gefühltes, vor mir auftauchen, beginne ich zu zittern. Was möchte ich ihnen Gutes tun – und sie sind in Spremberg!

Es wird wohl keinen Ort geben, den ich so hasse – und doch auch liebe – wie Spremberg!

Ich möchte Dich mit meinem Willen in meine Arme zwingen – aber er versagt an Dir. Gestern, spät abends, wachte ich auf, ich hatte von Dir geträumt, Du hattest geklopft, ich wußte meinem Zittern nicht zu begegnen, Ewigkeiten lag ich mit verhaltenem Atem in der gespannten Stille. Dann fiel ich in mich zurück.

Wie ich mich verwünsche, daß ich Dich am Sonnabend gelassen habe!

Unwiederbringliche Stunden, die uns gehören konnten, sind verloren.

Ich kann kaum noch schreiben, weil die ganze Qual des vergangenen Tages mir in die Feder will. Meine Hand zittert; sie wehrt sich, Dir alles zu schreiben.

Was ich wünsche, was mein Sehnen umschließt, ach, wenn ich es Dir sagen könnte!

Du mußt bald kommen und mich ruhig machen. Willst Du?

Am nächsten Donnerstag mußt Du zur Sitzung nach Berlin, laß mir den Tag!

Deine Arbeit wird ihn mir schenken können!

Bis dahin bin ich bereit, mich einzuspannen in den Alltag wie ich nur kann. Ich habe heute gearbeitet wie wild. Nur nicht die Gedanken an Dich, die schlafenden Gefühle aufpeitschen lassen!

Ich weiß, daß Du die gleichen Qualen leidest wie ich. In Spremberg sind die Hände, die ich nur in Gedanken fassen kann, genau so leer wie meine hier, die Dich nur fühlen wollen.

Bewahre sie für mich, wie ich mich mit jedem Gedanken und jedem Gefühl nur für Dich bereite.