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Table of Contents

Warum Japan, warum Kaiseki?

Zweimal einfach – Der Tee und das Kaiseki

Der unsichtbare Gastgeber

Die Schale

Der Hamo und das Potenzial der Dinge

Die Bambussprosse und der Geschmack des Frühlings

Der Reis und das Wesentliche

Wagashi – Süßes zum Tee

Zum Schluss – Eine Schale Tee

Rezept: Gedämpfter Reis

Rezept: Anko – Rote Bohnenpaste

Rezept: Der Matcha

Der Autor: Malte Härtig

Impressum

Warum Japan, warum Kaiseki?

"Handeln wir gerade so, wie es ist, dann ist es die wahre Tee-Kunst"

Sen no Rikyu

 

Vor ein paar Jahren machte ich mich auf die Suche nach mir selbst. Vor allem in kulinarischer Hinsicht. Bis dahin hatte ich in einem Berliner Sternerestaurant das Kochen gelernt, der Küchenchef kam aus der Oberpfalz und man kochte, wie es die Tester vom Michelin damals sehen wollten: französische Küche, hier allerdings mit regionalem Einschlag. Regional hieß damals auch rustikal, und so gab es in dem feinen Restaurant auch solche Dinge wie Blutwurst und Sauerkraut, welches durch Champagner etwas sanfter gemacht und dann Champagnerkraut genannt wurde.

Ich selbst komme aus dem Ruhrgebiet, das auf der kulinarischen Landkarte, sagen wir mal, noch eher unentdeckt ist. Meine Großmutter stellte regelmäßig den Sonntagsbraten auf den Tisch. Sie war in Hessen zur Welt gekommen und kochte eine Küche mit Zunge, Meerrettichsauce und Salzkartoffeln. Das hatte etwas von vornehmer Gesellschaft, und weil bei meinen Großeltern Kupferstiche und ein Familienwappen an der Wand hingen, hatte das Essen etwas Fernes, fast Adeliges.

Daheim schmorte am Wochenende eine Lammkeule im Bräter, mit viel Knofi, wie mein Vater immer sagte. Meine Mutter backte selber Brot und traf sich mit Gleichgesinnten in einer Garage, wo sie Bio-Gemüse direkt vom Händler kaufen konnte. Das war in den Achtzigern. Es hatte etwas von Dealen und fand irgendwie im Verborgenen statt. Körnerfresser und Öko – das waren damals gängige Begriffe. Heute sagt man eher Hipster und Bio. Wie sich die Zeiten wandeln.

Als ich ein paar Jahre nach meiner Lehre in einem Zwei-Sterne-Restaurant aß, das ist jetzt etwas mehr als zehn Jahre her, fing ich an, mich zu langweilen. Immer dieselben Saucen, Hauptzutaten und Geschmacksbilder. Es war irgendwie sehr eingefahren, was man unter feiner Küche verstand.

Ich war inzwischen in meinem Philosophiestudium fortgeschritten und hatte das diffuse Gefühl: Da geht noch mehr. Da muss es doch eine Küche geben, die auch fein ist, die aber ganz anders funktioniert. Sodass ich, wenn ich sie studiere, auch meine eigenen kulinarischen Grundlagen besser verstehe. Das Feine war bei uns lange Zeit das Französische. Wenn ich dem nun das Feine Japanische gegenüberstellte, würde ich sehen, was das Feine in beiden oder ganz allgemein das Feine ausmacht.

Ich würde dann womöglich besser verstehen, was das Essen meiner Oma mit den Pommes im Ruhrgebiet und einer Sterneküche mit französischer Basis und regionalen Traditionen aus Bayern und Berlin zu tun hat – oder eben auch nicht.

Es ging mir, kurz gesagt darum, zu ergründen, was meine eigene kulinarische Identität ausmacht.

So kam ich zur japanischen Küche. Um es gleich vorwegzunehmen: Sie hat mir gezeigt, wie feine Küche ohne Jus und Filet, ohne Trüffel, Crème fraîche und Schokolade geht. Sie hat mir jedoch keine Antwort auf die Frage nach meinen eigenen Wurzeln gegeben, mir dafür jedoch einige Dinge gezeigt, nach denen ich gar nicht gefragt hatte. Das weiß ich sehr zu schätzen, denn die japanische Küche ist eine weise Küche. Sie hält gute Tipps für das Leben parat. Die japanische Küche, könnte man kurz sagen, ist gekochte Philosophie und geschmeckte Lebensweisheit.

Ganz besonders gut kann man das am Kaiseki sehen.

Als ich einem japanischen Philosophen die Frage stellte: »Gibt es eine feine japanische Küche, also eine Art Äquivalent zur französischen Haute Cuisine?«, antwortete er mir: »Schauen Sie sich das Kaiseki an. Aber wenn Sie das wirklich verstehen wollen, müssen Sie sich auch mit dem Tee beschäftigen.« Und dann fügte er noch hinzu: »Gehen Sie nach Kyoto.«

Kaiseki? Tee? Kyoto? Das schien mir zunächst alles sehr rätselhaft. Ich bereitete gerade ein großes Projekt vor: Meine Promotion in Philosophie über die japanische Küche. Sie bildet die Grundlage für dieses Buch. Wer also tiefer einsteigen will, dem sei mein Buch »Einfachheit« empfohlen.

Ich hatte nach intensiven Studienjahren an der Verbindung zwischen Philosophie und Kochen gearbeitet. Jetzt war ich so weit und plante die Feldforschung vor Ort. Ich wollte nach Kyoto, um dieses mysteriöse Kaiseki kennenzulernen, über das außerhalb Japans damals nur wenig zu erfahren war.

Ich fühlte mich gut gerüstet. Mein Doktorvater hatte mir gesagt: »Sie sind kulinarisch und philosophisch geschult – machen Sie einfach das, was Sie für richtig halten.« Und so kam es dann auch. Meine Reise begann.

Kaiseki, auch das schon vorweg, ist tatsächlich die Hochküche Japans. Viele Kaiseki-Restaurants sind heute mit Sternen ausgezeichnet, auch wenn man in Japan zuerst eher verhalten auf den Michelin reagierte, als er 2010 begann, auch in Japan Restaurants zu bewerten. »Wie soll ein französischer Reifenhersteller eine Küche beurteilen, die sich über viele Jahrhunderte entwickelt hat?«, gab ein Kaiseki-Koch mir gegenüber damals skeptisch zu bedenken.

Formal wird im Kaiseki ein Menü aus zehn bis elf Gängen serviert, die saisonal variieren. Neben der Jahreszeit spielen auch der Ort, die umgebende Natur und das, was sie an kulinarischen Dingen bietet, eine wichtige Rolle. Saisonalität und Regionalität sind Konzepte, die dort seit Jahrhunderten gepflegt werden.

Mit der Jahreszeit wechseln die Menüs und mit ihnen das Geschirr. Im Sommer wird viel Glas verwendet, das einen kühlenden Eindruck vermittelt. Im Winter sind die Gefäße erdiger, Keramik und Lackschalen, mal bunt, mal schlicht, und speichern die Wärme.

Als ich 2010 zu meiner Forschung nach Kyoto aufbrach, servierten die meisten Köche in Europa noch unisono À-la-carte-Gerichte auf weißem Porzellan. Heute gibt es auch hierzulande in der Spitzenküche oft nur noch ein Menü, das mit den Jahreszeiten wechselt und das auf einer großen Bandbreite an Materialien, von der Baumrinde bis zur Keramikschale, hereingetragen wird. Ist das der Zeitgeist und hat er sich von Japan aus verbreitet? Oberflächlich betrachtet nähert sich die westliche Küche der japanischen an, doch wenn man dahinterschaut, auf das Kochen, die tägliche Praxis, die Haltung und das Denken des Kochs, dann ist die japanische Küche weiterhin sehr anders. Was sie auszeichnet, warum sie uns derzeit so sehr fasziniert und welche Weisheiten sie uns mitgibt – darum soll es nun gehen.

Ich greife hierfür die Struktur des Kaiseki-Menüs auf, in dem jedes Gericht für sich steht und zugleich alle gemeinsam einen kulturellen Zusammenhang bilden. Dieser ist denkbar lose und gleichzeitig dicht. Im Kaiseki wird die Verbindung geschaffen durch den Ort, die Jahreszeit und die Dinge, die sich gerade im optimalen Zustand befinden; in diesem Buch hier ist das Verbindende die Idee des Kaiseki selbst.

Alles beginnt mit dem Matcha, dem Tee der Teezeremonie. Wenn ihm in Japan ein Essen vorangestellt wird, dann heißt dies: Kaiseki. Warum es gleich zwei Kaiseki-Formen gibt – davon handelt das erste Kapitel. Weiter geht es mit etwas Unsichtbarem: Der kundigen Hand des Gastgebers, die das Essen arrangiert und die Atmosphäre gestaltet. Über die Betrachtung der Teeschale stellvertretend für das Geschirr im Kaiseki wird es dann kulinarisch: Exemplarisch für den Fisch verweilen wir bei einem Aal namens Hamo und beispielhaft für den Umgang mit Gemüse wird die Bambussprosse genauer in den Blick genommen. Jedes Kaiseki-Menü endet mit Reis, der viel mit der japanischen Identität zu tun hat. Nach dem Essen folgt etwas Süßes zum Tee. Die traditionellen japanischen Süßigkeiten mit dem Namen Wagashi leiten in der Teezeremonie den Matcha ein. Mit diesem schließt das Buch. Denn der Ursprungsgedanke des Kaiseki ist: Das Wesentliche ist nicht das Essen, sondern eine Schale mit Tee.

Zweimal einfach – Der Tee und das Kaiseki

Die Ursprünge des Kaiseki liegen in einer Schale Tee.

Als der japanische Philosoph mir sagte, ich müsse den Tee studieren, um Kaiseki zu verstehen, meinte er damit die traditionelle japanische Teezeremonie. Bei dieser sitzt man auf Reisstrohmatten in kleinen Hütten oder Räumen mit blassen Lehmwänden und sieht einem Teemeister dabei zu, wie er, etwa in einem nachtblauen Kimono, auf den Knien sitzend, mit stilvollen und fremd anmutenden Bewegungen grünes Teepulver in eine irdene Schale gibt, Wasser aus einem Kessel daraufgießt und mit einen kleinen Bambusbesen ein schaumiges Getränk herstellt, das er seinem Gast zusammen mit einer kleinen Süßigkeit serviert.

Dieser Tee heißt Matcha. Wir kennen ihn aufgrund seiner gesundheitlichen Wirkung bei uns eher als Superfood und mixen ihn in Smoothies wegen der grünen Farbe. In Japan findet man ihn auch in Süßigkeiten wie weißer Schokolade, Törtchen oder Eiscreme. Aber eigentlich ist er dort bis heute der Tee der Teezeremonie. Einen Matcha trinken – das ist etwas Besonderes und Zeremonielles.

Tatsächlich wird auch am Ende eines Kaiseki-Menüs fast immer ein Matcha serviert, ganz wie in der Teezeremonie, mit einer kleinen Süßigkeit vorweg. Die Teezeremonie und das Kaiseki-Menü scheinen also einen gemeinsamen Ursprung zu haben. Folgt man dieser Spur, tritt man eine Reise tief in die Vergangenheit Japans an – und man versteht, warum heute die Kaiseki-Restaurants Matcha-Tee servieren.

Wenn man diesen Fragen nachgeht, kommt man zum Zen-Buddhismus, der vor etwa tausend Jahren aus China nach Japan kam. Schon damals war der Matcha eine Art Superfood. Die Mönche Eisai und Kukai brachten den Tee, Camellia sinensis, von ihren Studienreisen aus den buddhistischen Klöstern Chinas mit. Der Matcha war damals mutmaßlich ein brauner, zu Ziegeln gepresster Tee, der, fein zermahlen und mit Gewürzen versetzt, aufgebrüht wurde. Er hatte damals wahrscheinlich noch nichts von dem leuchtenden Grün und der reinen, fein-herben Süße und Fülle, die die heutige Spitzenqualität auszeichnet.

Dieser Tee war lange Zeit dem Adel und den Klöstern vorbehalten. Die Mönche tranken ihn in einer Art Kommunion in Gedenken an einen wichtigen Patriarchen des Zen-Buddhismus, den Bodhidharma, aßen dazu ein paar Kleinigkeiten, es heißt, es seien süße Früchte, aber auch salzige Snacks gewesen, und nutzten seine belebende Wirkung, um während der Meditation die Konzentration aufrecht zu halten.

Matcha galt in den Klöstern als Medizin. Diese Ansicht hat sich, gerade beim Matcha, bei dem man das ganze Blatt fein vermahlen in sich aufnimmt, bis heute gehalten.

Um das 16. Jahrhundert begann die Zeit der großen Teemeister, die in unendlich vielen Varianten für jeden erdenklichen Anlass, für jede Tages- und Jahreszeit eine Teezeremonie schufen, mal sehr schlicht und fokussiert, mal sehr aufwendig mit Essen, Sake und Spaziergängen durch stilvolle Gärten mit taufunkelnden Moosflächen unter rot gefärbten Ahornbäumen rund ums Teehaus. Der Grundgedanke der Teezeremonien aber blieb derselbe wie im Kloster: in einer Art spirituellen Gemeinschaft wird ein Tee getrunken und vorweg eine Kleinigkeit gegessen.

Es war damals eine Zeit der Kriegswirren und Umbrüche. Die Teemeister ließen sich vom Zen-Buddhismus inspirieren und machten die Einfachheit und die Reduktion auf das Wesentliche zu ihrem Programm. Eine Hütte aus Bambus, kurzerhand zusammengebaut, im Wald, fernab der Stadt, aus dem, was vorhanden ist, um sich darin zu treffen und gemeinsam einen Tee zu trinken, das war ihr Ideal. Es ging ihnen um die Gemeinschaft beim Tee, um einen Moment der Zusammenkunft, der einmalig ist und so nie mehr wiederkehrt. Der japanische Ausdruck dafür ist Ichi-go ichi-e.

In Gedanken an den Rat des japanischen Philosophen habe ich das selbst ausprobiert, die Teezeremonie, und habe für ein Jahr den Kurs für Nicht-Japaner der berühmten Teeschule Urasenke in Kyoto besucht. Es gibt, trotz der vielfältigen Formen, einen solchen zeremoniellen Tee zuzubereiten, doch sehr klare, enge Grenzen, innerhalb derer man die Bewegungen ausführen sollte. Es fiel mir als Europäer nicht immer leicht, diese Regeln anzunehmen, denn Freizeitaktivitäten haben bei uns etwas mit Spaß, Freiheit, Erholung und Kreativität zu tun. In Japan haben Teezeremonie, Bogenschießen und ähnliche sogenannte Weg-Künste dagegen durchaus etwas Ernstes. Und sie geben klar vor, wie die Dinge zu sein haben. Man schult sich, indem man übt, indem man dieselben Handgriffe immer wieder wiederholt und so Schritt für Schritt perfektioniert. Beim Tee geht es etwa darum, das Tuch, welches zum Reinigen der Teeschale verwendet wird, akkurat zu falten und zu entfalten, über ihren Rand zu legen und in dreieinhalb flüssigen wie natürlich leichten, ästhetischen und irgendwie auch sehr pragmatischen Bewegungen, schwups, schwups, schwups, die Schale elegant hindurchzuziehen und gleichzeitig zu reinigen. Oder den Bambusbesen zweimal über der Schale anzuheben und wieder sinken zu lassen, ihn dabei einmal um seine Achse zu drehen, um sehr aufmerksam zu prüfen, ob auch alle feinen Stäbchen vorhanden sind. Natürlich war das schon Teil der Vorbereitung, aber nun wird die Prüfung vor dem Gast tatsächlich und symbolisch noch einmal wiederholt. Das ist eine Achtsamkeitsübung. Die Bewegungen sind klar vorgegeben und wirken für uns zunächst einmal eher ungewöhnlich, sodass sie bei einem Anfänger alles andere als flüssig und schön aussehen. Aber das kommt dann mit der Zeit, d. h. über die Jahre.

Es ging für mich also zunächst darum, mich darauf einzulassen.

Gerade weil die Vorgaben so streng sind, zeigen sich in der Ausführung die Stile der Gastgeber und Teemeister schon in den kleinsten Nuancen. Die Form ist also die Basis für einen unweigerlich hervortretenden eigenen Ausdruck. Und noch etwas passiert: Ich konnte im Laufe der Zeit merken, wie sich meine Wahrnehmung für die kleinen Dinge, die Zwischenräume und Unterschiede, schärfte, etwa wie ein leiser Wind durch die schattenspendenden Matten vor den offenen Türen des Teeraums den Herbst ankündigte oder wie im Spätwinter aus einem Zweig eine erste Knospe durchbricht. Das erlebt man in einer eher stillen Gemeinschaft. Das Wasser im Teekessel blubbert, feiner Rauch steigt aus ihm auf und dann trinkt man einen Tee, der in mehrfacher Hinsicht wach macht. Doch dazu später mehr.

In manchen Teehäusern des 16. Jahrhunderts waren die Türen so klein konstruiert, dass man nur umständlich hineinkam. Das hatte u. a. den Sinn, dass man sein Schwert davor ablegen musste. Die Teehütten und -häuser waren nicht nur der Treffpunkt für eine spirituell-asketische Kontemplation, sondern auch ein Ort des Friedens in kriegerischen Zeiten. Wenn ich nach einem Samstagnachmittag im Teeraum aus der manchmal etwas muffigen Dämmrigkeit wieder ans Tageslicht trat, dann fühlte ich mich klar und rein, wie nach einer gelungenen Meditation oder einem Waldspaziergang.