Über Jürgen Trimborn

Jürgen Trimborn, geboren 1971, Studium der Theater- und Filmwissenschaften, Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie. 1997 Promotion. 1995-2000 Lehrbeauftragter insbesondere zum Film des Dritten Reichs an der Universität zu Köln. Seine Biographie »Riefenstahl. Eine deutsche Karriere« wurde 2003 für den Deutschen Bücherpreis nominiert. Ebenfalls im Aufbau-Verlag erschienen sind seine Biographien zu Arno Breker und Johannes Heesters.

Informationen zum Buch

Leni Riefenstahl (1902–2003) gehörte zu den populärsten, aber auch zu den umstrittensten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Mit ihren Propagandafilmen »Sieg des Glaubens«, »Triumph des Willens« und »Olympia« prägte sie das Bild des Nationalsozialismus und wies doch nach 1945 jede moralische Schuld weit von sich. Nicht zuletzt deshalb ist die Einstellung der Deutschen zu Leni Riefenstahl nach wie vor problembeladen, während sie in den USA bereits seit Jahrzehnten als bahnbrechende Künstlerin verehrt wird. Jürgen Trimborn untersucht neben Riefenstahls Karriere als Tänzerin und Schauspielerin im Berlin der zwanziger Jahre und ihrer Arbeit als Fotografin in der Nachkriegszeit vor allem ihre Sonderstellung im Dritten Reich, ihr persönliches Verhältnis zu Hitler und Goebbels sowie die Entstehungsgeschichte der wichtigsten Filme dieser Zeit. Darüber hinaus sucht er aber auch nach Erklärungen für die unterschiedlichen Bilder und Urteile, die vor allem in Deutschland mit Hitlers Filmemacherin bis in die Gegenwart verbunden werden und die, so seine These, auch Ausdruck der Verdrängung eigener Schuld sind.

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Jürgen Trimborn

Riefenstahl

Eine deutsche Karriere

Biographie

Inhaltsübersicht

Über Jürgen Trimborn

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Annäherung an einen Mythos

Der Aufstieg

1. Das Berlin der Kaiserzeit
Kindheit und Jugend

»In meiner Jugend war ich ein glücklicher Mensch«

2. Erste Karriereschritte
Aufstieg zur Solotänzerin

Eine ernüchternde Erfahrung

Debüt als Tänzerin

Vom Tanz zum Film

3. Star des Bergfilms
Schauspielerin bei Arnold Fanck

Der Entdecker

Der Weg zum Bergfilm

»Körperkultur-Phantasien«

Affären

Die weiße Hölle vom Piz Palü

Rätsel um den Blauen Engel

Stürme über dem Montblanc

Abenteuer im ewigen Eis

»Höhenmenschentum und Edelblond«

4. Aufbruch zu neuen Karriereufern
Regiedebüt Das blaue Licht

»Aus meinen Träumen entstanden Bilder«

Ein »innerlich kranker Film«?

Ein nicht immer willkommener Mitarbeiter

Der Ruhm

5. »Ich war infiziert«
Leni Riefenstahl und Adolf Hitler

Hitler und die Frauen

Gerüchte

Der »Führer« und seine Künstler

6. Die »Filmemacherin des Führers«
Vorzeigekünstlerin des Dritten Reichs

Wie hat Propaganda auszusehen?

Karriereplanung

Der vermeintliche Todfeind

7. Wechsel zum Dokumentarfilm
Der Parteitagsfilm Der Sieg des Glaubens

Warum Riefenstahl?

Intrigen

Neue Herausforderungen

Ein unerwünschter Film

8. Riefenstahl prägt das Gesicht des Dritten Reichs
Triumph des Willens und Tag der Freiheit!

Der »Reichsparteitag der Einheit und Stärke«

Ruttmann und der verhinderte Prolog

Neue Machtfülle

Die Zeremonienmeisterin

Ein unbequemes Buch

Propaganda und Gegenpropaganda

Militärisches Intermezzo: Der Kurzfilm Tag der Freiheit! – Unsere Wehrmacht!

9. Perfekte Körper
Olympia. Fest der Völker/Fest der Schönheit

Standards der Sportberichterstattung

»Diese Frau war meine Feindin!«

Streit im Olympia-Stadion

Welturaufführung an »Führers Geburtstag«

Riefenstahl in Amerika

10. Privilegien einer Staatskünstlerin

Künstlerischer Lebenstraum: »Penthesilea«

Riefenstahls Filmgelände

Der Fall

11. Ein verschwiegenes Filmprojekt
September 1939 an der polnischen Front

Krieg

Hitlers Geheimauftrag

Die »Läuterung«

12. Flucht ins vermeintlich Unpolitische
Das Endlosprojekt Tiefland

»Im Auftrag und auf Wunsch des Führers«

Höhenflüge

Ein langes Nachspiel: Zigeuner für Riefenstahl

Die Kulturfilmproduzentin

Privates Glück und Unglück

Die letzten Kriegsmonate

13. Doch nicht immun?
Riefenstahl und der Antisemitismus

»Hier hast Du Deinen Himmel gefunden« Riefenstahl und Julius Streicher

Nichts gewusst?

Der Neubeginn

14. Zusammenbruch und Neuanfang 1945
Prozesse und gescheiterte Hoffnungen

»Rechtlos und meiner Freiheit beraubt«

Szenen einer Ehe

»Nicht belastet«?

Verführte oder Verführerin?

Prozesse um Recht und Ehre

Gescheiterte Filmprojekte

Sehnsucht Afrika

15. Riefenstahl entdeckt eine neue Welt
Leben bei den Nuba

Die erste Sudan-Expedition

Die Jagd nach dem Bild

Die Nuba von Kau

Ein Film über die Nuba

Letzter Besuch

Faszinierender Faschismus?

Unbelehrbare Propagandistin oder geniale Künstlerin?

16. Die vorläufig letzte Karriere
Ikone des Alters

Spätes Glück

Epilog

Riefenstahl-Renaissance

Die Wiederentdeckung Riefenstahls in Amerika

Die Riefenstahl-Rezeption in Europa und Japan

Riefenstahl und die Deutschen

Von der Schwierigkeit, einen Film über Leni Riefenstahl zu drehen

Allerletztes Comeback

Von der Renaissance zur Rehabilitation

Anhang

Anmerkungen

Zeittafel

Filmographie

Literaturverzeichnis

Personenregister

Dank

Impressum

Prolog

Annäherung an einen Mythos

Leni Riefenstahl, mit verzücktem Gesichtsausdruck exaltierte Bewegungen ausführend – die Tänzerin. Leni Riefenstahl, barfuß und unerschrocken eine steile Gebirgswand hinaufkletternd – der Bergfilmstar. Leni Riefenstahl, die selbstbewusst einem Heer von Kameramännern Anweisungen gibt – die Regisseurin. Leni Riefenstahl bei Dreharbeiten, lachend neben Adolf Hitler – die Karrieristin. Leni Riefenstahl, wild gestikulierend bei einem Gerichtsprozess in der Nachkriegszeit – die Angeklagte. Leni Riefenstahl mit einer Fotokamera an der Seite eines hochgewachsenen Nuba-Kriegers – die Fotografin. Leni Riefenstahl, die als älteste Tiefseetaucherin der Welt dem Indischen Ozean entsteigt – die Ikone. Leni Riefenstahl, hochbetagt, bei der Eröffnung einer ihr gewidmeten Retrospektive in Rom, Tokio oder Potsdam – der Mythos.

Viele, sehr disparate Bilder drängen sich auf, wenn man sich das Leben Leni Riefenstahls vergegenwärtigt. Zu verschieden sind die Rollen, die sie in ihrem langen Leben gespielt hat. Zu widersprüchlich die Bilder, die entstanden sind, seit die Tänzerin, Schauspielerin, Regisseurin und Fotografin im Rampenlicht steht.

Den einen gilt Leni Riefenstahl als geniale Filmschaffende, den anderen als Künstlerin, die sich durch ihre Arbeiten für Hitler auf einen Pakt mit dem Bösen eingelassen hat. In ihren letzten Lebensjahren wurde sie zunehmend als Ikone ihrer eigenen Altersvitalität wahrgenommen, der man schon aus Respekt vor ihrem hohen Alter die von ihr und ihren Apologeten lange geforderte Absolution erteilen müsse. Als sie für ihren 100. Geburtstag im August 2002 die Präsentation eines neuen Filmes ankündigte und damit die längste Regiekarriere der Filmgeschichte vorweisen konnte, geriet sie erneut in die Schlagzeilen. Keine andere Filmregisseurin hat jemals so viel Beachtung gefunden und zugleich so viel Kritik auf sich gezogen wie diese Frau, deren Popularität international nach wie vor ungebrochen ist.

Wer war Leni Riefenstahl? Je länger ich mich mit dieser Frage auseinandersetzte, desto stärker wurde mir bewusst, dass Riefenstahl selbst am wenigsten dazu beitragen kann, das Rätsel um ihre Person zu lösen. Mit ihrer geschönten, korrigierten Version der eigenen Lebensgeschichte, an der sie seit 1945 konsequent festhält, hat sie vielmehr den Grundstein für dieses Rätsel gelegt. Mittels Schutzbehauptungen und Unterlassungsklagen hat sie alles daran gesetzt, ihre Sicht der Dinge als die einzig gültige zu zementieren. Auch wenn ihr dies nicht gänzlich gelungen ist, auch wenn immer wieder Kritiker und Zweifler auf den Plan traten, die versuchten, Riefenstahl mit der Wahrheit zu konfrontieren, auch wenn längst Dokumente vorgelegt wurden, die ihre Version widerlegen, spielt das von der Künstlerin festgeschriebene Bild ihres Lebens und ihrer Karriere auch heute noch eine nicht unwesentliche Rolle, wenn es darum geht, über Riefenstahls Platz in der Geschichte zu diskutieren. Längst ist die selbstkonstruierte, von allen unangenehmen Implikationen bereinigte Vergangenheit, die sie seit Jahrzehnten immer und immer wieder erzählt, zu ihrer Realität geworden. Sogar Riefenstahl-Kritiker behandeln heute viele der von ihr selbst geschaffenen Mythen und Legenden als Tatsachen.

Aber nicht nur das Selbstbild Riefenstahls, auch viele unabhängig von ihren Aussagen kursierende Gerüchte und Spekulationen, die die emotionalisierte Diskussion um ihr Werk und ihr Leben prägen, verstellen den Zugang zu ihr. Die Tatsache, dass nur die wenigsten ihre Arbeiten aus der Zeit des Dritten Reichs aus eigener Anschauung kennen und sich so selbst ein Urteil darüber bilden können, macht das Sprechen über Riefenstahl noch immer schwierig.

Deshalb scheiden sich an Riefenstahl, der letzten Überlebenden aus dem engen Umkreis Hitlers, bis heute die Geister. Eine sachliche, vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit ihr war bisher kaum möglich, dominierten doch stets die stark vorurteilsbeladenen Argumente den Streit um die »Filmemacherin des Führers« und die »Macht ihrer Bilder«. Einig ist man sich nur darüber, dass sie als umstrittenste Regisseurin der Filmgeschichte anzusehen ist, aber auch eine der wichtigsten Filmkünstlerinnen des 20. Jahrhunderts war. Zwar ist man noch nicht zu einer abschließenden Meinung gekommen, dennoch beginnt man zunehmend, sich jenseits der einst so schnell gefällten Urteile mit dem Leben Riefenstahls zu beschäftigen. Den Menschen hinter diesem Wust von Vorurteilen, Anekdoten und Gerüchten zu entdecken wird zunehmend als reizvoll empfunden.

Am Anfang meines Interesses für Leni Riefenstahl stand zweifellos die Faszination für ein außergewöhnliches Leben, das Interesse an ihren Filmen, aber auch an der Frau, die diese geschaffen hat. Die Gerüchte, der Klatsch um sie machten sie noch interessanter. Noch bevor ich ihre nur schwer zugänglichen Filme sah, las ich ihre Memoiren. Was mich anfangs für sie einnahm, war, wie unumwunden sie ihre einstige Begeisterung für Hitler zugab, eine Seltenheit für Deutsche dieser Generation. Dass dies nur Teil eines weitverzweigten Erklärungsmodells war, mit dem sie die wahren Tatsachen ihrer Biographie verschleierte, konnte ich damals allenfalls ahnen. Je mehr ich mich mit dem Leben und der Karriere Riefenstahls auseinandersetzte, desto zahlreicher wurden die Fragen, die ich an die Schöpferin von Triumph des Willens und Olympia hatte.

Über Jahre besorgte ich mir möglichst alles, was über Leni Riefenstahl und ihre Filme veröffentlicht worden war. Bücher, Artikel, Aufsätze, Ausstellungskataloge aus aller Welt. Je mehr ich las, desto klarer wurde mir, wie wenig man tatsächlich über den Menschen Leni Riefenstahl weiß. Zwei Fragen waren es, die mich insbesondere fesselten und die in mir das Bedürfnis wachsen ließen, mich tiefergehend mit Leni Riefenstahl zu beschäftigen. Was ist wahr an der Lebensgeschichte, die sie erzählt, wie vielfältig sind die Korrekturen, die sie vorgenommen hat, um ein bestimmtes Bild von sich zu zeichnen? Und: Warum gestaltet sich das Verhältnis der Deutschen zu Leni Riefenstahl auch so viele Jahrzehnte nach Kriegsende noch so höchst problematisch?

Bald schon wurde mir bewusst, dass es in der Diskussion über Riefenstahl nach 1945 viel stärker um deutsche Befindlichkeiten, um das Hadern mit einer lange Zeit verdrängten, nicht aufgearbeiteten Vergangenheit ging als darum, einen neuen, objektiven Zugang zu ihrer Person zu finden.

Über Jahrzehnte, so schien es mir, beschränkte sich jede Auseinandersetzung mit Riefenstahl darauf, sie leichtfertig als Unperson zu brandmarken oder aber sie in völlig unreflektierter Weise als große Künstlerin, als geniale Regisseurin zu feiern, die mit normalmenschlichen Maßstäben nicht zu messen sei und deren Werk man mehr oder weniger entpolitisiert betrachten müsse. Beides hat indes wenig mit dem zu tun, wofür Riefenstahl wirklich stand, was ihr Leben und ihre Arbeit tatsächlich ausmachte. Gerade da im Windschatten der stark emotionalisierten Diskussion eine ernsthafte Annäherung an den Menschen Leni Riefenstahl ausgeblieben war, setzte ich es mir zum Ziel, jenseits aller Vorurteile, aber auch jenseits von Riefenstahls Selbstbild quasi »bei Null« anzufangen und mich so objektiv wie möglich diesem Leben zu nähern.

Wenn man beginnt, sich intensiv mit dem Leben eines Menschen auseinanderzusetzen, ist man – so dieser Mensch noch lebt – beinahe zwangsläufig versucht, Kontakt zum Objekt seines Forschens aufzunehmen. Man erhofft sich Auskünfte und Informationen, womöglich unveröffentlichte. Und nicht zuletzt hofft man darauf, durch den persönlichen Kontakt, im Gespräch und durch den Einblick in die Privatsphäre, jenseits der kursierenden Bilder einen Zugang zu der Person zu finden, über die man schreibt. Wenn in einem solchen Fall Kooperationsbereitschaft signalisiert wird, stellt dies den Schreibenden vor ein zentrales Problem. Denn zumeist ist diese Zusammenarbeit an bestimmte, teils akzeptable, teils aber auch weitreichende Bedingungen geknüpft. Zu groß ist die Versuchung für den Portraitierten, Einfluss auf die Darstellung des eigenen Lebens zu nehmen. Zu groß ist in einem solchen Fall andererseits aber auch die Versuchung für den Biographen, diese Einflussnahme zumindest in Grenzen zuzulassen, weil man sonst den persönlichen Zugang leicht wieder verliert.

Im Mai 1997, wenige Monate vor ihrem 95. Geburtstag, traf ich Leni Riefenstahl zu einem längeren Gespräch. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich bereits sechs Jahre sehr intensiv mit ihrem Leben und Werk auseinandergesetzt und auch über meine Absicht, eine Biographie über sie zu schreiben, mit ihr korrespondiert. Ich wusste, dass Riefenstahl nur selten persönliche Interviews gewährte und Buchprojekte über sie bisher nie unterstützt hatte, und war deshalb überrascht, dass sie den Wunsch äußerte, mich kennenlernen zu wollen. Die Regisseurin empfing mich in ihrer Villa am Starnberger See, und ich erlebte eine ausgesprochen freundliche und ernsthaft interessierte Gesprächspartnerin, eine Frau, die auch in hohem Alter noch eine enorme Ausstrahlung besaß, voller Pläne steckte und voll mitreißender Begeisterungsfähigkeit von ihrer Arbeit zu berichten wusste, niemals jedoch, ohne ihre Legende, ihre Version der eigenen Vita aus den Augen zu verlieren. In den Stunden intensiver Gespräche gewann ich den Eindruck, dass Riefenstahl längst an ihren eigenen Mythos glaubte, nur in kurzen Momenten schien es so, dass sie die Widersprüche zwischen ihrem Leben und ihrer Lebensschilderung überhaupt noch spürte, ohne jedoch auf sie einzugehen. Wir sprachen über ihre Filme, über aktuelle Projekte, ihre Reisen, über die positive Aufnahme ihrer Memoiren in Amerika, über die ihr gewidmeten Retrospektiven im Ausland und über die Riefenstahl-Renaissance, die damals langsam in Europa und auch in Deutschland ihren Anfang nahm.

Überraschenderweise war es Riefenstahl selbst, die das Gespräch immer wieder auch auf die umstrittenen Kapitel ihrer Biographie brachte, auf die Punkte in ihrem Leben, für die sie nach 1945 immer wieder angegriffen wurde und die in ihrem Sinne richtigzustellen auch in hohem Alter noch ihr vielleicht wichtigstes Anliegen zu sein scheint. Ich hatte in diesem Moment noch die Hoffnung, dass mit Riefenstahl gemeinsam eine Annäherung an ihr Leben, und an die Hintergründe ihrer außerordentlichen Karriere möglich sein könnte. Bald jedoch sollte ich eines Besseren belehrt werden.

In der Korrespondenz und in Telefonaten, die auf das Zusammentreffen folgten, wurde schnell offensichtlich, dass ich von Leni Riefenstahl selbst am wenigsten einen Beitrag erwarten konnte, der zu einem ausgewogenen, möglichst objektiven Urteil führte. Auch wenn sie immer wieder betonte, dass es ihr nur um die »volle Wahrheit«1 ginge, war schnell klar, dass sie allein ihre persönliche Wahrheit durchsetzen wollte, auch wenn diese teils schon längst zweifelsfrei widerlegt war oder mir nach eingehender Beschäftigung unwahrscheinlich erschien. Zwar wurde ich aus dem Privatarchiv Riefenstahls2 mit Artikeln und Schriftstücken versorgt, in denen die Künstlerin sich selbst gut getroffen fühlte; darauf zu hoffen, von ihr Zugang zu Dokumenten zu bekommen, die neue Aspekte über ihr Leben und ihre Karriere enthüllten, war jedoch illusorisch.

Kritische Fragen wurden mit dem Hinweis auf ihre Memoiren beantwortet,3 die »der letzte und endgültige Beweis ihrer Unschuld«4 seien, die jedoch in Wirklichkeit als historisches Dokument wertlos sind und nur als Leitfaden und Korrektiv einer Biographie über Riefenstahl dienen können.

Da ich im Zuge meiner zehnjährigen Recherchen ein völlig anderes Bild von Riefenstahls Biographie gewonnen hatte, war es offensichtlich, dass hier keine Basis für eine weitere Zusammenarbeit gegeben war. Wenn ich neue Erkenntnisse gewinnen wollte, so war dies nur möglich, ohne in irgend einer Weise von Riefenstahl abhängig zu sein, von ihr beeinflusst zu werden oder mir von ihr die Perspektiven vorgeben zu lassen. Sonst wäre das Ergebnis nichts weiter als eine Hagiographie gewesen.

Da mir aber der freie Zugang zu Riefenstahls Privatarchiv ebensowenig wie anderen Autoren oder Journalisten gestattet wurde, musste ich auf andere Quellen zurückgreifen, um die Fragen zu beantworten, die ich an Riefenstahls Leben hatte. Leider existieren zu vielen Abschnitten ihres Lebens außer ihren eigenen Bekundungen keine verlässlichen Aussagen, auf die man sich stützen kann, um ihre Selbstdarstellung zu verifizieren, so etwa, was ihre Kindheit und Jugend angeht. Auch bei der Recherche zu Riefenstahls Karriere im Dritten Reich haben sich immer wieder Schwierigkeiten ergeben, nicht zuletzt, weil Riefenstahl ihre Pläne und Projekte unter vier Augen mit Hitler besprach, so dass hier vielfach keine Dokumente vorliegen, mit denen sich ihre Aussagen überprüfen lassen.

Die Literatur zu Leni Riefenstahl war für meine Recherchen zwar ein Ausgangspunkt, Antworten auf die Fragen, die mich interessierten, fand ich hier jedoch selten. Neben einer kaum überschaubaren Flut journalistischer und wissenschaftlicher Veröffentlichungen – allein über einhundert Dissertationen liegen mittlerweile weltweit über die Filmemacherin vor –, die jedoch zum Großteil aufeinander rekurrieren und insofern wenig Neues bringen, gibt es eine Reihe von Büchern, die sich entweder den Filmen5 oder der Karriere Riefenstahls widmen, zumeist jedoch ohne das Thema biographisch anzugehen.6

Der Blick auf die Literaturlage hat mich also darin bestätigt, wie dringend erforderlich es ist, den Fall Riefenstahl neu aufzurollen. Bereits bekannte, aber auch bislang noch unveröffentlichte Quellen widerlegen in vielfacher Hinsicht die Darstellungen der Künstlerin, die nach den intensiven Nachforschungen teils signifikanten Korrekturen unterzogen werden müssen. Dabei soll die Diskrepanz zwischen dem, was sich tatsächlich ereignet hat, und dem, was die Legende um die Person Leni Riefenstahl ausmacht, offengelegt werden. Der Mythos, der sich um die Filmemacherin Hitlers rankt, sowie das Bild, das Riefenstahl selbst von ihrem Leben zu zeichnen versucht, sind mindestens ebenso aufschlussreich wie die ermittelten Tatsachen, da sie in einem bislang unentwirrten Knäuel miteinander verbunden sind.

Je intensiver ich mich mit Riefenstahl beschäftigte, desto mehr erstaunte es mich, dass bestimmte Fragen, denen die Regisseurin in ihren Memoiren konsequent ausweicht, noch nie gestellt worden sind. So etwa die Frage nach Riefenstahls Antisemitismus oder nach den Gründen für ihren Aufenthalt an der polnischen Front im September 1939. Aber auch scheinbar längst beantwortete Fragen, die etwa ihr Verhältnis zu Hitler und Goebbels sowie anderen Parteifunktionären betreffen, wollte ich neu aufwerfen.

Bislang wurde Riefenstahl noch nie in erster Linie als Karrieristin begriffen, der es bis zu ihrem Tod am 8. September 2003 einzig und allein um ihre künstlerischen Obsessionen, um Ruhm und Anerkennung und um die Kontrolle des Bildes gegangen ist, das von ihr in der Öffentlichkeit kursierte. Eine große Karriere zu machen, der sie bereitwillig alles opferte und für die sie durch ihren Pakt mit Hitler schließlich einen hohen Preis zahlen musste, war der Hauptantrieb ihres Lebens und Schaffens. Und gerade hier vermutete ich den Schlüssel zum Charakter Riefenstahls. Durch ihre persönliche Freundschaft zu Hitler hat Leni Riefenstahl eine Karriere gemacht, deren Höhen und Tiefen, deren Brüche und Widersprüche, nicht untypisch sind für das Deutschland des 20. Jahrhunderts. Eine deutsche Karriere.

Der Aufstieg

1.
Das Berlin der Kaiserzeit
Kindheit und Jugend

Im Jahre 1871 war Berlin mit der Ausrufung des preußischen Königs Wilhelm I. zum deutschen Kaiser zur politischen Machtzentrale aufgestiegen. Die Spreemetropole wurde zum wirtschaftlichen, sozialen, insbesondere aber auch gesellschaftlichen und kulturellen Zentrum mit drei Millionen Einwohnern. Berlin war um die Jahrhundertwende durch ein ausgesprochen weltstädtisches Flair geprägt, wenn auch die restriktive Politik des Wilhelminismus modernen Entwicklungen und avantgardistischen Strömungen immer wieder Einhalt gebot. Aber das tat der Faszination, die von Berlin ausging, letztlich keinen Abbruch. Gäste aus dem In- und Ausland flanierten auf der vielbestaunten Prachtstraße Unter den Linden, vorbei an der pompösprotzigen Architektur, den steinernen Huldigungen für die Hohenzollernherrscher. Sie besuchten die reich bestückten Warenhäuser, die opulent ausgestatteten Opern, die glanzvollen Revuepaläste, die gefeierten Theater Max Reinhardts, und tauchten in die Welten des gründerzeitlichen Berlins ein, das sich im Licht seiner neuen Bedeutsamkeit sonnte.

Die Politik, die im kaiserlichen Berlin, der »schnellsten Stadt der Welt«, betrieben wurde, stellte die Weichen für den Weg, den das Deutsche Reich in den kommenden Jahrzehnten nehmen sollte. Der für seine operettenhaften Kostümierungen und seine theatralische Rhetorik bekannte Kaiser Wilhelm II. hatte, bejubelt vom Adel wie vom Bürgertum, das Motto ausgegeben, auch Deutschland brauche einen »Platz an der Sonne«. Die daraufhin betriebene Jagd nach Kolonien, die der willfährige Reichstag bereitwillig mittrug, sollte erst 1914 bis 1918 im Ersten Weltkrieg ihr vorläufiges Ende finden.

Im Berlin der Jahrhundertwende florierte die Wirtschaft. Die Stadt war von einem geradezu euphorischen Gründungsfieber erfasst worden. Im Zuge des Baubooms gründeten und etablierten sich zahlreiche aufstrebende Unternehmen. Auch Alfred Theodor Paul Riefenstahl, gelernter Installateurmeister, schloss sich der allgemeinen Aufbruchstimmung an.

Am 30. Oktober 1878 in Berlin als Sohn des Schlossergesellen Gustav Hermann Theodor Riefenstahl und seiner Frau Amalie geboren und mit zwei Brüdern und einer Schwester aufgewachsen, verließ er als Kaufmann das Handwerksmilieu seiner Vorfahren und machte sich selbständig. Schon bald nach seiner Meisterprüfung übernahm er ein gutgehendes Installationsgeschäft, das er mit praktischem Verstand und geschäftlichem Weitblick führte. Seine Tochter Leni schilderte ihn später als großen, kräftigen Mann mit blondem Haar und blauen Augen. Zeitgenössische Fotos zeigen einen gutgekleideten, auf sein Äußeres bedachten und Respekt einflößenden Mann, der stolz auf den gesellschaftlichen Aufstieg zu sein scheint, der ihm aus eigener Kraft gelungen war. Alfred Riefenstahl hatte einen ausgesprochen starken Charakter, stets war ihm daran gelegen, alles fest im Griff zu haben und sich Autorität zu verschaffen. Er war lebensfroh und temperamentvoll, neigte aber auch zu Jähzorn, wenn sich jemand seinen Zielen entgegenzustellen wagte – ob im geschäftlichen oder privaten Bereich. Nur selten duldete er Widerspruch. Seine Freizeit verbrachte er auf der Jagd in den Wäldern um Berlin, beim Skat oder auf den Galopprennbahnen im Grunewald und in Hoppegarten.

Seine spätere Frau, Bertha Ida Scherlach, wurde am 9. Oktober 1880 im polnischen Woclawick als Tochter deutscher Eltern geboren. Ihr Vater Karl Ludwig Ferdinand Scherlach, ein aus Westpreußen stammender Zimmermann (in Riefenstahls Memoiren wird er zum »Baumeister« befördert1), hatte im benachbarten Polen Arbeit gefunden und sich dort auch niedergelassen. Gemeinsam mit seiner ostpreußischen Frau Ottilie zeugte er siebzehn Kinder. Bei der Geburt Berthas, des achtzehnten Kindes, starb Ottilie, und der achtunddreißigjährige Witwer stand plötzlich allein mit seinen Sprösslingen da. Schon kurz nach dem Tod seiner Gattin ehelichte er die Frau, die zuvor im Hause der Scherlachs als Erzieherin der Kinder angestellt gewesen war und die ihm in den folgenden Jahren weitere drei Kinder gebären sollte.

Als er sich entschloss, mit seiner Familie nach Berlin überzusiedeln, war er bereits zu alt, um noch eine neue Anstellung zu finden. So mussten die Kinder, auch seine Tochter Bertha, zum Unterhalt der Familie beitragen. Bertha hatte eine Ausbildung zur Näherin absolviert und fand, als Spross einer Großfamilie von klein auf ans Arbeiten gewöhnt, schnell eine Anstellung in der Reichshauptstadt. Auch wenn sie sich so selbst finanzieren konnte, war sie gezwungen, ein sehr bescheidenes Leben zu führen, da sie den erwerbslosen Vater und die jüngeren Geschwister unterstützen musste.

Erst als der stattliche Geschäftsmann Alfred Riefenstahl in ihr Leben trat, war ihr gesellschaftlicher Aufstieg gesichert. Den heimlichen Jugendtraum, Schauspielerin zu werden, musste sie jedoch mit ihrer Hochzeit endgültig begraben. Bertha Scherlach lernte den zwei Jahre älteren Alfred Riefenstahl 1900 auf einem Kostümfest kennen. Dass man zusammenbleiben würde, war schnell zur Gewissheit geworden, ein langes Werben gab es nicht – nicht zuletzt, weil Bertha schon bald ihr erstes Kind erwartete. Die Hochzeit fand am 5. April 1902 in Berlin statt.

Die Beziehung zwischen Alfred und Bertha Riefenstahl war eine schwierige, aber für die damalige Zeit nicht untypische Konstellation. Auf der einen Seite stand der Autorität in jeglichen Fragen beanspruchende Mann, auf der anderen Seite die kaum zum Widerspruch bereite und wohl auch nicht fähige Frau. Diese hatte sich, den gesellschaftlichen Spielregeln der Wilhelminischen Gesellschaft entsprechend, den Vorstellungen ihres Mannes unterzuordnen. Die beiden richteten sich in der kleinbürgerlichen Welt ein, in der die junge Familie schon bald fest verwurzelt war.

Am 22. August 1902 wurde die Geburt von Helene Bertha Amalia Riefenstahl im Berliner Standesamt XIII gemeldet. Die Geburt hatte, wie damals üblich, zu Hause stattgefunden, in einer einfachen, bescheidenen Wohnung in der Prinz-Eugen-Straße im Arbeiterbezirk Wedding. Hier verbrachte das Kind auch die ersten Jahre seines Lebens. »Leni«, wie sie von Kindesbeinen an gerufen wurde, sollte später auch ihr Künstlername werden, unter dem sie weltweiten Ruhm erlangte.

Leni Riefenstahl verlebte eine wohlbehütete und von materiellen Sorgen freie Kindheit. Langsam arbeitete sich die Familie vom kleinbürgerlichen Milieu in den Mittelstand empor. Alfred Riefenstahl hatte es mit seiner in der Kurfürstenstraße ansässigen Firma für Heizungs- und Lüftungsanlagen schnell zu einem gewissen Wohlstand gebracht – wobei er jedoch wohl mehr Glück hatte, als dass sich die Erfolge auf wirtschaftliches Kalkül zurückführen ließen. Um die Jahrhundertwende expandierte sein Geschäft, da aufgrund der zahllosen Neubauvorhaben und Modernisierungen alter Häuser zahlreiche Aufträge für das Installationsunternehmen eingingen. So ergaben sich gute Verdienstmöglichkeiten, die den Lebensstandard der Familie sicherten.

Alfred Riefenstahl erwartete von seiner Tochter ebenso wie von seiner Frau Disziplin und absoluten Gehorsam. Er war dazu erzogen worden, seine Familie mit fester Hand zu führen und keine Widerworte zu dulden. Das, was ihm sein eigener Vater einst vorgelebt hatte, betrachtete er nun auch als Ideal für die eigene Familie. In Familienangelegenheiten war er bald so kompromisslos wie in geschäftlichen Dingen. Es wurde für ihn zu einer Selbstverständlichkeit, seiner Frau und seinem Kind die eigenen Lebensregeln aufzuzwingen. Ständige Meinungsverschiedenheiten waren so vorprogrammiert. Schon die geringsten Störungen seines Tagesablaufs brachten ihn zur Raserei. So konnte er »wie ein Elefant trampeln, wenn sich am gestärkten Kragen seines Hemdes der Knopf nicht aufmachen ließ«.2

Wenn die Tochter, die sich insgeheim einen zärtlichen und liebevollen Vater wünschte, aus der harten Führung des eigentümlich kalten Alfred Riefenstahl auszubrechen versuchte und gegen die Rolle der folgsamen Tochter aufbegehrte, die dieser ihr zugedacht hatte, reagierte er mit jähen Wutausbrüchen, die das Klima in der Familie nachhaltig beeinträchtigten. So schreckte der Patriarch auch nicht davor zurück, seine Tochter bei geringsten Vergehen zu verprügeln, zu demütigen und einzusperren oder mit wochenlangem Schweigen zu bestrafen: »Als ich einmal dabei erwischt wurde [Äpfel zu stehlen, d. A.] und mein Vater davon erfuhr, verprügelte er mich fürchterlich und sperrte mich einen ganzen Tag lang in ein dunkles Zimmer. Auch bei anderen Gelegenheiten bekam ich seine Strenge zu spüren.«3

Die Tochter litt unter der Gefühlskälte des Vaters und versuchte diesem ihre ganze Kindheit lang einen Liebesbeweis abzuringen, stieß aber immer nur auf erbitterte Ablehnung oder unterkühlte Distanz.4

Dennoch musste der Vater schnell registrieren, dass in Leni ein Geschöpf heranwuchs, das den Dickkopf seines Vaters geerbt hatte und mit zunehmendem Alter auch dazu bereit war, den Kampf mit der väterlichen Autorität aufzunehmen. Immer häufiger traf sie Entscheidungen, ohne zuvor die Genehmigung ihres Vaters einzuholen, versuchte diese jedoch möglichst geheimzuhalten.5 Das schwierige Verhältnis zwischen Vater und Tochter drohte ständig zu eskalieren, das harmloseste Ereignis konnte zur Belastungsprobe werden: »[…] es war oft sehr schwierig, mit ihm auszukommen. Er spielte gern mit mir Schach – aber ich musste ihn immer gewinnen lassen. Als ich ihn einmal matt gesetzt hatte, wurde er so zornig, dass er mir den Besuch eines Kostümfests verbot, auf das ich mich so gefreut hatte.«6

Bertha Riefenstahl befand sich als Mutter und Ehefrau bei den Auseinandersetzungen zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter oftmals zwischen den Fronten. Auch wenn sie gefühlsmäßig meist auf seiten der Tochter war, wagte sie nicht, gegen ihren Mann aufzubegehren. So versuchte sie in der Regel zu vermitteln und lief dabei Gefahr, selbst ins Schussfeld familiärer Auseinandersetzungen zu geraten, sobald sie sich einmal auf die eine oder andere Seite schlug.

Auch die Geburt des zweiten Kindes, die Alfred Riefenstahl 1905 endlich den erwünschten und auf den Namen Heinz getauften Sohn bescherte, lockerte die Atmosphäre im Hause nicht. Sie entspannte sich erst dann, wenn der Vater außer Haus war, in seinem Geschäft weilte oder sich in der Freizeit mit seinen Freunden vergnügte: »Zum Glück war mein Vater oft auf der Jagd, und wenn er dorthin fuhr, dann fühlten wir uns zu Hause endlich frei.«7

Zwischen den Geschwistern und der Mutter entstand so etwas wie eine verschworene Gemeinschaft. Man freute sich, bei Abwesenheit des Vaters unbeeinträchtigt all den Beschäftigungen nachgehen zu können, die von diesem nicht gern gesehen oder schlicht untersagt wurden. Zu ihrem drei Jahre jüngeren Bruder entwickelte Leni schnell ein sehr herzliches Verhältnis. Sie fühlte sich zeitlebens sehr eng mit ihm verbunden, auch wenn dieser sich völlig von seiner aufgeweckten und vorlauten Schwester unterschied und einen wesentlich zurückhaltenderen und schüchterneren Charakter hatte.

Nach außen hin verkörperten die Riefenstahls das Bild einer glücklichen Familie. Die familiären Spannungen hinter den Kulissen gingen niemanden etwas an. Schließlich wollte man die Erwartungen, die an eine junge Familie der aufstrebenden Mittelschicht gestellt wurden, voll und ganz erfüllen. Eine Fotografie zeigt die beiden Kinder in ihrer sonntäglichen Marinemode, mit der man damals nicht nur den Stolz auf die kaiserliche Flotte, sondern auch die Zugehörigkeit zur »besseren Gesellschaft« demonstrierte.

Die florierenden Geschäfte Alfred Riefenstahls verlangten nach einer Anpassung des Lebensstandards. Leni Riefenstahls Kindheit war deshalb durch häufige Umzüge und Ortswechsel geprägt. Immer wieder musste sie sich neu einleben. Vom Wedding zog man zunächst an den Hermannplatz in Berlin-Neukölln, später dann in die Yorckstraße nach Schöneberg und anschließend nach Wilmersdorf, bis die Familie sich 1921 vorübergehend südöstlich vor den Toren Berlins, im märkischen Rauchfangswerder, niederließ.

»In meiner Jugend war ich ein glücklicher Mensch«

Schon vor der Übersiedlung nach Rauchfangswerder, das auf einer Halbinsel des Zeuthener Sees liegt, spielte der Aufenthalt im Grünen eine wichtige Rolle im Leben der Familie. Leni Riefenstahl hat in Darstellungen ihrer Kindheit stets hervorgehoben, wie wichtig ihr bereits in jungen Jahren die Natur gewesen sei. Die zu Wohlstand gekommene Familie besaß früh ein Wochenendhäuschen in einem kleinen Dorf, das Riefenstahl in ihren Memoiren als »Petz« benennt und mit dem vermutlich der Ort Pätz am Pätzer Vordersee in der Nähe der kleinen brandenburgischen Stadt Bestensee gemeint ist. In dem eine Zugstunde von Berlin gelegenen Ort verbrachten die Riefenstahls nahezu jedes Wochenende mit ihren Kindern, um vor der hektischen Großstadt zu fliehen. Leni Riefenstahl wuchs nach eigenem Bekunden zu einem wahren »Naturkind« heran, »unter Bäumen und Sträuchern, mit Pflanzen und Insekten, behütet und abgeschirmt«.8 Der Aufenthalt im Freien wurde ihr zu einer unverzichtbaren Notwendigkeit.

Als die Familie sich dann später in Rauchfangswerder niederließ, begrüßte die von klein auf ans Landleben gewöhnte Tochter dies, auch wenn der tägliche anderthalbstündige Weg nach Berlin zeitraubend und anstrengend war. Das ständige Leben auf dem Land und in einer idyllischen Umgebung erschien ihr wichtiger als die Bequemlichkeiten der Stadt. Das Grundstück der Riefenstahls umfasste eine große, verwilderte Wiese zum Wasser hin, die von alten Trauerweiden gesäumt wurde, deren Äste sich bis in den See neigten. Die Familie besaß ein eigenes Ruderboot, machte Ausflüge zum nahegelegenen Wald und zu den Wiesen. Das nicht immer einfache Familienleben entspannte sich in dieser Idylle merklich. Selbst der wochentags zu Temperaments- und Wutausbrüchen neigende Vater zeigte sich hier, fernab seiner Geschäfte und dem Lärm der Großstadt, friedfertiger. Er konnte stundenlang am Ufer des Sees sitzen und angeln oder im kleinen Nutzgarten arbeiten, in dem die Familie Obst und Gemüse für den Eigenbedarf anbaute.

Die Suche nach dem in der Kindheit erlebten Naturidyll sollte Riefenstahl zeit ihres Lebens prägen. Der Aufenthalt in der Natur und im Einklang mit ihr erschien ihr als wichtiger und unverzichtbarer Kraftquell. Insbesondere die Zurückgezogenheit und Beschäftigung mit sich selbst waren dem jungen Mädchen sehr wichtig. Natürlich spielte Leni Riefenstahl mit den Kindern aus der Nachbarschaft, kletterte auf Bäumen herum und veranstaltete Wettrennen und Wettschwimmen: »Nichts war mir zu hoch, zu steil oder zu gefährlich.«9 Immer wieder jedoch zog sie sich, so stellt sie es zumindest im Rückblick dar, zurück und verbrachte ganze Stunden und Tage in ihren Traumwelten. So war es ihr von frühester Kindheit an immer wieder ein Bedürfnis, sich zeitweise von Spielkameraden sowie vom familiären Leben zurückzuziehen, etwa in eine kleine, von riesigen Sonnenblumen umstandene Bretterbude, die der Vater eigens für sie im Garten als Refugium gebaut hatte. Dort genoss sie die Abgeschiedenheit von der Welt und den Müßiggang, der ihr von den Eltern anscheinend kritiklos zugestanden wurde: »An diesem Platz habe ich viel geträumt.«10

Die harmonisierende Verklärung der Vergangenheit bildet einen Leitfaden in allen Selbstzeugnissen Leni Riefenstahls. Trotz der starken Belastungen des familiären Lebens, die es durch den jähzornigen und autoritären Vater gab und die sie teils auch selbst in ihren Memoiren schildert, obgleich sie ihre Kindheit und Jugend in der Zeit des Ersten Weltkriegs und der revolutionären Unruhen in Berlin verlebt hat, laufen Riefenstahls Beschreibungen des Familienlebens auf die Schilderung eines zeitenthobenen Idylls hinaus. Keine Passage findet sich, die von materieller Not, den allerorts herrschenden Existenzängsten oder gar einer wirklichen Auseinandersetzung mit den politischen Geschehnissen handelt. Statt dessen das schlichte Bekenntnis: »In meiner Jugend war ich ein glücklicher Mensch.«11

1908 wurde Leni Riefenstahl in Berlin-Neukölln eingeschult. Den Lehrern fiel sie als ein wissbegieriges und aufgewecktes Mädchen auf, das sehr reif für sein Alter war. Sie empfand die Schule nicht als angstbesetzte Institution, sondern als einen Ort, an dem sie ihren Wissensdurst, der sich auf die unterschiedlichsten Gebiete erstreckte, wenigstens zum Teil befriedigen konnte. Jedoch verhielten sich ihre Spontaneität und Vitalität nicht immer ganz konform zum strengen preußischen Schulsystem, das beharrlich auf Zucht und Ordnung pochte. Die Schülerin gab sich oftmals nicht mit dem verordneten Lernstoff zufrieden, sondern bestürmte die Lehrer penetrant mit unzähligen, darüber hinausgehenden Zwischenfragen, was ihr so manche schlechte Note im Betragen einbrachte.

Schon in der Schulzeit scheint sich demnach eine ihr ganzes Leben bestimmende Charaktereigenschaft herausgebildet zu haben: Wenn etwas ihr Interesse fesselte, gab sie sich nicht eher zufrieden, als bis ihr Wissensdurst restlos gestillt war. Nach der Volksschule besuchte sie das Kollmorgensche Lyzeum, eine reine Mädchenschule, die sie bis zum Realschulabschluss mit Erfolg absolvierte. In ihren Lieblingsfächern, zu denen Turnen, Zeichnen und Mathematik gehörten, soll sie sogar Klassenbeste gewesen sein.

Noch bevor Riefenstahl, die protestantisch erzogen worden war, Ostern 1918 konfirmiert wurde, veränderte sich das Deutschland, in das sie hineingeboren wurde, dramatisch. 1914, Leni war gerade zwölf Jahre alt, brach in Europa der Erste Weltkrieg aus, an dessen Ende der Untergang des Kaiserreichs, eine Zeit der politischen Wirren und die Ausrufung der Weimarer Republik stehen sollten. Soldaten zogen von Berlin aus mit strahlenden Gesichtern und voller Siegesgewissheit in den Krieg. Die Stimmung im gesamten Reich und quer durch alle Schichten war politisch aufgeheizt, unzählige hurra-patriotische Schriften zum Krieg erschienen, und auch von den Kirchenkanzeln hörte man kämpferische und chauvinistische Parolen.

Schon bald jedoch sollte der Krieg massive Auswirkungen auch auf das Alltagsleben haben. Durch die Blockade der Alliierten war es bereits 1916 zu einer ernst zu nehmenden Lebensmittelknappheit gekommen, alle Nahrungsmittel waren rationiert. Viele Menschen hungerten. In den letzten beiden Kriegswintern wurde in den Schulen nicht mehr geheizt. Auch die sich ab 1917 häufenden Streiks der Berliner Arbeiterschaft beeinträchtigten das Leben.

Der Krieg endete 1918 mit einer als nationale Niederlage empfundenen Kapitulation, der Abdankung des Kaisers und der Ausrufung der Republik. In den Berliner Straßen tobte zu dieser Zeit ein blutiger Bürgerkrieg, immer wieder gab es Protestmärsche der Arbeiter sowie brutale Gegenmaßnahmen durch die Regierung Friedrich Eberts.

Die Revolution erschütterte die Grundfesten der Gesellschaft. Die Straßen und Plätze Berlins waren von zahlreichen Entwurzelten bevölkert, die allerorten spürbare Unruhe der Verhältnisse trug zur Verunsicherung der Menschen bei. Das große Maß an Orientierungslosigkeit wussten viele auszunutzen, so dass die politisch Unzufriedenen immer stärker und selbstbewusster ihre revanchistischen Forderungen skandierten. »Die Dolchstoßlegende«, die die angeblich im Feld unbesiegt gebliebenen deutschen Truppen zum Opfer des »Verrats an der Heimatfront« machte, fand immer größere Verbreitung. Die Inflation, die gerade viele Menschen aus den unteren Schichten ans Existenzminimum führte, verschärfte die politische Instabilität der jungen Republik.

Nur ganz am Rande nahm Leni Riefenstahl die Auswirkungen der Unruhen, der Streiks, des überall sichtbar werdenden Elends wahr, wandte sich jedoch sogleich mit einer »Gänsehaut« ab: »Dass der Weltkrieg inzwischen beendet war, dass wir ihn verloren hatten, dass eine Revolution stattfand, es keinen Kaiser und keinen König mehr gab, dies alles erlebte ich nur wie im Nebel. Mein Bewusstsein kreiste um eine kleine winzige Welt.«12

In der Zeit der Adoleszenz war die junge Riefenstahl völlig darauf konzentriert, ihre eigenen Ziele und Interessen dem Vater gegenüber durchzusetzen, sich nach und nach dessen diktatorischem Zugriff zu entziehen. Sie entdeckte neue Leidenschaften. Neben der Poesie war es nicht so sehr die Musik, die sie in dieser Zeit prägte, sondern viel stärker die Malerei. Zwar absolvierte sie auf Wunsch des Vaters fünf Jahre lang zwei Mal wöchentlich ihren Klavierunterricht bei einer privaten Lehrerin in der Genthiner Straße, aber sie tat es nur ungern: »Ich muss gestehen, ich hatte keine Freude an diesen Stunden, für die ich auch nur ungern geübt hatte, obgleich ich Musik so liebte.«13 Mit wirklicher Leidenschaft sollte sie sich erst kurze Zeit später in ein anderes Hobby stürzen: das Tanzen.

1918, Leni Riefenstahl war sechzehn Jahre alt, wurde sie nach der Mittleren Reife aus dem Kollmorgenschen Lyzeum entlassen. Mit den Plänen des Vaters, seine Tochter zunächst in eine Haushaltsschule, später in ein Pensionat zu schicken, um sie von ihren Träumereien in die Wirklichkeit des Lebens zurückzuholen, konnte sie sich nicht anfreunden: »Dorthin zu gehen, war mir ein unerträglicher Gedanke.«14 Sie überredete ihren Vater, die Kurse an der Staatlichen Kunstgewerbeschule in der Prinz-Albrecht-Straße besuchen zu dürfen, was die Mutter zu der Hoffnung verleitete, ihre Tochter werde einmal eine bedeutende Malerin. Aber die Malerei blieb nicht die einzige Leidenschaft der Riefenstahl.

Schon während ihrer Schulzeit hatte sie eine besondere Leidenschaft für Gymnastik und Sport entwickelt. Lange bevor in den zwanziger Jahren die Körperertüchtigung und der Sport zur Ideologie erhoben wurden (eine Entwicklung, die darin enden sollte, dass die Nazis den sportlich gestählten Körper zum Idealbild des »arischen Menschen« verklärten), begann Leni Riefenstahl regelmäßig und mit großem Engagement Sport zu treiben, was sie auch bis ins hohe Alter niemals aufgeben sollte. Hier stieß sie ausnahmsweise einmal nicht auf Gegenwehr, sondern fand die volle Unterstützung ihres sportbegeisterten Vaters, der den damals schon populären, wenn auch von den Intellektuellen belächelten Turnvater Jahn als Idol verehrte. Er brachte seiner Tochter bei den Aufenthalten im Berliner Umland im Alter von fünf Jahren mit einer aus Schilf gebastelten Schwimmweste das Schwimmen bei, wobei sie einmal beinahe ertrunken wäre, weil sie zuviel Wasser geschluckt hatte: »Merkwürdigerweise habe ich dabei keine Angst empfunden – es ging alles so schnell, bis ich bewusstlos wurde. Ich habe das noch genau in Erinnerung, und seitdem war mir das Wasser vertraut.«15 Im Alter von zwölf Jahren durfte sie mit Genehmigung des Vaters dem Schwimmclub »Nixe« beitreten und auch an kleineren Schwimmwettkämpfen teilnehmen, bei denen sie oftmals Preise gewann.

Aber mit dem Schwimmen allein war die frühe Begeisterung Leni Riefenstahls für sportliche und körperliche Betätigung nicht befriedigt. Während der Schulzeit trat sie einem Turnverein bei und entdeckte so ihre große Leidenschaft fürs Geräteturnen. Niemals zeigte sie Angst oder ließ sich durch sportliche Rückschläge entmutigen. Selbst Verletzungen, etwa durch einen missglückten Sprung vom Fünfmeterbrett beim Schwimmen oder den Sturz von den Ringen, der eine Gehirnerschütterung zur Folge hatte, konnten sie nicht davon abhalten, sich auch weiterhin mit großer Begeisterung ihren sportlichen Aktivitäten zu widmen. Und immer wieder kamen neue Möglichkeiten der körperlichen Betätigung hinzu, so schon bald auch das Rollschuh- und Schlittschuhlaufen.

Eine weitere große Leidenschaft ihrer Jugend war das Theater und – natürlich – der Film. Schon ihr erstes Theatererlebnis, eine Schneewittchen-Aufführung auf einer Berliner Bühne, die sie im Alter von vier oder fünf Jahren sah, hatte sie nachhaltig beeindruckt: »Das Theater, die geheimnisvolle Welt hinter dem Vorhang, die ›Bösen‹ vor allem, die da ihr Wesen trieben, haben mir seit diesem Erlebnis keine Ruhe mehr gelassen. Ich wuchs zu einem schrecklich wissbegierigen Kind heran, das alle, die irgendwie mit dem Theater zu tun hatten, unaufhörlich mit tausend Fragen belästigte.«16 Schon bald verspürte sie die Berufung, selbst auf der Bühne zu stehen.

Obwohl es ihr wichtig war, sich immer wieder in ihre Traumwelten zu flüchten, und sie sich in ihrer Sonderrolle gefiel, empfand sie auch schon immer die Sehnsucht nach öffentlicher Anerkennung und Selbstdarstellung. Bereits als Kind verbrachte sie nach Schulschluss Stunden im Tiergarten, »wo ich mit meinen Rollschuhkünsten das Publikum anlockte, bis die Polizei erschien und ich Reißaus nahm«.17 Auch als sie die Möglichkeit hatte, ein Hauskonzert des Pianisten Ferruccio Busoni zu besuchen, nutzte sie die Möglichkeit, ihren narzisstischen Hunger zu stillen, tanzte den versammelten Zuhörern etwas vor – beglückt über den spontanen Applaus der Anwesenden und die aufmunternden Worte des Musikers. Je häufiger sie mit ihren Eltern ins Theater, in die Oper oder ins Ballett ging, desto stärker wurde ihr Wunsch, selbst im Rampenlicht der Bühne zu stehen.

Während jedoch die künstlerischen Leidenschaften der Riefenstahl sowie ihre zunehmende Begeisterung für den Sport von den Eltern gefördert oder doch zumindest mit Wohlwollen betrachtet wurden, und die Eltern ihre Tochter bei entsprechenden Gelegenheiten nicht ohne Stolz als »Wunderkind« vorführten, stieß sie mit dem Wunsch, zur Bühne oder zum Film zu gehen, auf strikte Ablehnung. Zwar hegten beide Elternteile eine besondere Faszination fürs Theater. Alfred Riefenstahl hatte in seiner Jugend selbst, wenn auch als Amateur und Laienschauspieler, auf der Bühne gestanden und verehrte die schöne Fritzi Massary, den umjubelten Operettenstar jener Jahre, zutiefst, »aber Schauspieler, besonders Schauspielerinnen, waren für ihn ›Halbseidene‹, wenn nicht sogar ›Halbwelt‹«18 – als berufliche Zukunft für seine Tochter demnach völlig indiskutabel.

Leni Riefenstahl jedoch ließ sich durch die strikte Ablehnung der Eltern nicht von ihrem neuen Ziel abbringen und bewarb sich 1918 heimlich und mehr aus Neugier als aus Überzeugung, um eine kleine Komparsenrolle. In der »B. Z. am Mittag« hatte sie eine Annonce entdeckt, mit der für den Film Opium