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Über dieses Buch:

Frankfurt am Main, 1683: Falsche Anschuldigungen zwingen die 17-jährige Anna und ihren Vater, Hals über Kopf aus ihrer Heimat zu fliehen. Doch auf ihrer atemlosen Flucht nach Amerika werden die beiden getrennt. Um ihren Vater wiederzufinden, beginnt für Anna eine Irrfahrt um die halbe Welt – bis sie eines Tages dem geheimnisvollen Schiffsjungen Nick begegnet. Er bietet ihr seine Hilfe an und schmuggelt sie auf ein Handelsschiff nach Amerika. Doch als Piraten sie auf hoher See angreifen, wird Anna im Chaos von Nick getrennt und muss sich alleine auf einem fremden Kontinent behaupten. Wird sie Nick und ihren Vater jemals wiedersehen?

Über den Autor:

Thomas Jeier wuchs in Frankfurt am Main auf, lebt heute bei München und »on the road« in den USA und Kanada. Seit seiner Jugend zieht es ihn nach Nordamerika, immer auf der Suche nach interessanten Begegnungen und neuen Abenteuern, die er in seinen Romanen verarbeitet. Seine über 100 Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.

Bei jumpbooks erscheinen auch:

Biberfrau

Die Tochter des Schamanen

Das Lied der Cheyenne

Die abenteuerliche Reise der Clara Wynn

Die Sterne über Vietnam

Flucht durch die Wildnis

Weitere Titel sind in Vorbereitung.

Die Website des Autors: www.jeier.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/thomas.jeier

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eBook-Neuausgabe Juli 2018

Copyright © der Originalausgabe 1999 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2018 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/new_extra, Hunter Bliss und Dark Bird

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96053-228-6

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Thomas Jeier

Die Reise zum Ende des Regenbogens

Roman

jumpbooks

Für Rainer M. Schröder,
einen lieben Freund und Weggefährten,
der sein Ende des Regenbogens
schon gefunden hat.

EUROPA (1683)

oder
Wie ich von meinem Vater getrennt wurde und mit zwielichtigen Komödianten den Rhein hinauffuhr

Kapitel 1

Nie werde ich die Worte meines Vaters vergessen, die er während unseres Osterspaziergangs im Jahre 1683 zu mir sagte. Wir standen auf der Mainbrücke, oberhalb der kleinen Insel, und der Blick meines Vaters verlor sich in der untergehenden Sonne über dem Fluss. »Eines Tages fahren wir zum Ende des Regenbogens«, sagte er, »wir gehen an Bord eines großen Schiffes und überqueren den Ozean! In dem fernen Land, das sie Amerika nennen, gründen wir eine neue Existenz! Dort finden wir die Gewissensfreiheit, die uns in der Heimat versagt bleibt!« Ich hatte den sehnsuchtsvollen Ausdruck in seinen Augen oft gesehen und wusste, wie er fortfahren würde: »Jenseits des Meeres gibt es keinen Leopold, dort hat unser Kaiser nichts zu sagen! In der Neuen Welt wird ein Mann nach seinem Charakter und seiner Tatkraft beurteilt! Sein gesellschaftlicher Stand zählt nicht und vor den Augen unseres Gottes hat nur Bestand, was man mit seinen eigenen Händen oder seinem Geist erschaffen hat! Glaube mir, meine liebe Anna, eines Tages werden wir gehen!«

Mein Vater träumte seit einigen Jahren von Amerika. Jeder Gulden, der nicht für das tägliche Leben gebraucht oder von der Steuer vereinnahmt wurde, wanderte in die Ledertasche unter seiner Werkbank, sehr zum Leidwesen meiner Stiefmutter, die für die Träumereien ihres Mannes nichts übrighatte. »Du bist ein Narr«, schalt sie ihn, »nach Amerika gehen nur die Reichen! Patrizier wie dieser von Merlau und die Mitglieder der Frankfurter Kompanie, die genug Geld haben, um Land in den Kolonien zu kaufen! Was willst du dort überhaupt? In Amerika herrscht der englische König, und der soll noch strenger sein als Leopold! Nein, Jakob, ich bin dafür, dass wir hierbleiben! Die Reise ist viel zu gefährlich! Ich habe gehört, dass viele Menschen während der Überfahrt sterben, weil auf den Schiffen ansteckende Krankheiten ausbrechen! Und in Amerika soll es schreckliche Wilde geben, die Frauen und Kinder entführen! Ich will nicht nach Amerika fahren!«

Wenn ich heute darüber nachdenke, muss ich zugeben, dass meine Eltern überhaupt nicht zusammenpassten. Jakob Fromm, mein Vater, war ein unternehmungslustiger Mann, der nach dem blutigen Krieg auf einem einsamen Bauernhof geboren wurde und es schaffte, ein Bürger der Freien Reichsstadt zu werden. In Frankfurt, der großen Stadt am Main, war man nur dem Kaiser unseres Reiches unterstellt und die Kaufleute und Handwerker verdienten besser als die armen Menschen auf dem Lande. Mein Vater verdingte sich bei einem Schmied und wurde zu einem angesehenen Büchsenmacher, der auch bei den ausländischen Händlern während der Messe sehr gefragt war. Katharina Fromm, meine Stiefmutter, war die Tochter eines Tuchhändlers, der nach dem Krieg beinahe Bankrott ging, als unser Reich in viele kleine Fürstentümer aufgeteilt wurde. Sie heiratete meinen Vater vier Jahre nach dem tragischen Tod meiner leiblichen Mutter, die in der Fahrgasse von einem Ochsenwagen überfahren wurde.

Ich habe nie herausbekommen, warum die beiden ein Paar wurden. Mein Vater hatte lange um meine leibliche Mutter getrauert, obwohl böse Zungen wissen wollten, dass sie eine gefährliche Hexe war und ihn verzaubert hatte. »Das geschieht ihr Recht«, lästerte eine Nachbarin, als sie von ihrem Tod erfuhr, »so straft Gott die Ungläubigen!« Ich war damals neun Jahre alt und verstand die Aufregung nicht. Wenn ich meinen Vater fragte, erklärte er mir, dass meine Mutter eine gute Frau gewesen sei. Lediglich die Dummheit der Leute sei an den Gerüchten Schuld. Auch später erfuhr ich nicht die Wahrheit. Angeblich soll sie sich für die Sterndeutung interessiert haben. Als die Pest ein letztes Mal in unserer Stadt zuschlug, machte meine Mutter die Stellung der Sterne für das Unglück verantwortlich und man hätte sie beinahe verhaftet.

Mein Vater bekam die Abneigung der Leute auch nach ihrem Tod zu spüren und sogar ich wurde von einigen Jungen mit Steinen beworfen. Nur weil es keinen besseren Büchsenmacher in der Stadt gab, überlebte mein Vater, und nur weil wir jeden Sonntag die Arbeit ruhen ließen und in die Kirche gingen, konnte mein Vater den Makel abschütteln, eine Hexe geehelicht zu haben. Vielleicht hatte er deshalb meine Stiefmutter geheiratet. Nach der Hochzeit wurde er von allen Bürgern respektiert und selbst ein Vertreter des Rates gratulierte ihm zu seiner neuen Frau. Katharina Fromm freute sich, die Gattin eines angesehenen Handwerkers zu sein, und war glücklich, dem bankrotten Betrieb ihres Vaters entflohen zu sein. Jakob Fromm war ein rechtschaffener Mann und bot ihr ein gutes Auskommen.

Erst mit den Jahren machte sich Unzufriedenheit breit. Meine Stiefmutter litt immer stärker darunter, dass mein Vater ein einfacher Handwerker war und nicht zu der erlauchten Schicht der Kaufleute gehörte. Frankfurt war eine wohlhabende Stadt, und es gab Händler, die ein Vermögen machten. Wer mehr verdiente, zahlte weniger Steuern, so ungerecht das klingen mag, und die meisten Patrizier blickten mitleidig auf die Handwerker herab. Besonders arm dran waren die Bauern, die bis auf den letzten Gulden geschröpft wurden und nur überlebten, wenn sie heimlich ein Schwein oder eine Gans von den Abgaben zurückbehielten und schlachteten. In den Vororten der Stadt lebten Tagelöhner und Bettler und hofften auf Almosen.

Wir konnten zufrieden sein und ich wunderte mich selber, dass Vater immer wieder von Amerika sprach. Er war regelrecht besessen von der Idee, das Ende des Regenbogens zu finden, wie er sich ausdrückte, und er ließ sich auch durch meine Stiefmutter nicht von diesem Plan abbringen. Irgendwann würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als mit ihm zu gehen. Ich war mir noch nicht im Klaren darüber, wie ich empfand. Ich war gerade siebzehn geworden, alt genug, um eine Familie zu gründen, und es gab einen jungen Mann, der mich mit schönen Worten umwarb und großes Interesse zeigte, mich zu heiraten. Balthasar Marrel war der Sohn eines wohlhabenden Buchhändlers, der sein Geschäft am Rossmarkt hatte und einen regen Handel mit den reichen Holländern führte. Ich mochte ihn sehr, aber ich dachte nicht daran, ihn zu heiraten. Als ich ihm von den Plänen meines Vaters erzählte, lachte er mich aus: »Nun sag bloß, du willst mit ihm nach Amerika gehen«, neckte er mich. »Willst du, dass dich die Wilden entführen?« Er zeigte mir ein Buch, in dem über die blutrünstigen Wilden berichtet wurde, und mir wurde beim Anblick der Zeichnungen beinahe so übel wie vor einigen Jahren, als ich gesehen hatte, wie einem Mann, der auf der Mainbrücke geflucht hatte, die rechte Hand abgehackt wurde.

Vielleicht wäre mein Vater nie nach Amerika gefahren. Wer vermag schon zu sagen, ob er sich gegen meine Stiefmutter und seine Geschäftspartner durchgesetzt hätte, die ihn ständig davor warnten, im Ausland seinen Geschäften nachzugehen. »Die Engländer und Franzosen haben ihre eigenen Feuerwaffen«, sagten sie. Ich hielt meinen Vater für verrückt genug, ein solches Risiko einzugehen und in Amerika ein neues Geschäft aufzubauen. Wenn es dort gefährliche Wilde gab, brauchte man Feuerwaffen, und er machte bessere Büchsen als die Engländer. Ich konnte nicht beurteilen, wie gut seine Waffen waren, aber ich hatte schon ein paar Mal damit geschossen und immer ins Schwarze getroffen. Ich war eine gute Schützin, besser als die Soldaten an der Hauptwache, und immer wenn mein Vater eine neue Waffe einschoss, durfte ich helfen. Auch etwas, was meine Stiefmutter in Zorn versetzte. »Das gehört sich nicht für ein Mädchen«, sagte sie. Ich glaube, sie konnte mich nicht leiden und wollte, dass ich so schnell wie möglich unter die Haube kam. Als Balthasar mich zu einem Spaziergang abholte, lächelte sie zum ersten Mal seit langer Zeit. »Eine bessere Partie kannst du nicht machen, Anna!«

Aber es kam alles ganz anders. Ein fürchterliches Unglück und die Erinnerung an meine leibliche Mutter sorgten dafür, dass mein Vater schneller als erwartet nach Amerika fuhr und ich seiner Spur zum Ende des Regenbogens folgte. Aber ich will der Reihe nach erzählen. Es begann damit, dass Balthasar mich am Montag nach Ostern zur Buchmesse mitnahm. Er wollte mir einige besonders schöne Werke zeigen, die in der Mainzer Gasse nördlich der Leonhardskirche angeboten wurden. Mein Vater hatte mich rechnen, schreiben und lesen gelehrt. Besonders gut gefielen mir die spöttischen Texte, in denen sich so genannte Satiriker über die Narreteien der verschiedenen Stände lustig machten. Ich bestaunte ein ledergebundenes Buch mit historischen Schriften und den Stadtansichten eines gewissen Merian, der in Frankfurt gelebt hatte, und blätterte in einer kostbaren Bibel, die Kapuzinermönche in Mainz gedruckt hatten.

Ich war zum dritten Mal mit Balthasar unterwegs, hatte die letzten beiden Messen mit meinen Eltern besucht. Ich muss meiner Stiefmutter zugestehen, dass sie sehr gebildet war und sich für die Künste interessierte. Für eine Aufführung der Heidelberger Komödianten, die während der Handelsmesse im Pfuhlhofe aufgetreten waren, hatte sie bereitwillig einen hohen Eintritt bezahlt, und für den Franzosen, der Gedichte in seiner Heimatsprache vorgetragen hatte, war sie durch die halbe Stadt gelaufen. Mein Vater war Handwerker, interessierte sich nur für Bücher, wenn sie von Waffen handelten oder von dem fernen Land am Ende des Regenbogens berichteten. Er arbeitete mit seinen Händen und selbst wenn er von Amerika träumte, baute er keine Luftschlösser. Er sah sich als redlichen Büchsenmacher, der in der fernen Wildnis ein Blockhaus baute und der unwirtlichen Natur und den kriegerischen Wilden trotzte. Er war kein blinder Träumer, der glaubte, dass auf der anderen Seite des Ozeans ein Paradies wartete. Er wusste, dass man sich sein Glück erarbeiten musste, in einer freien Reichsstadt und in der Wildnis.

Ich wusste damals noch nicht, was ich wollte, und ließ das Leben auf mich zukommen. Der liebe Gott würde schon dafür sorgen, dass ich den richtigen Weg wählte. Darum bat ich ihn jeden Sonntag in der Kirche. Ich prüfte das Leben auf die wenigen Möglichkeiten, die es einer jungen Frau bot, und genoss einen Festtag wie den Ostermontag, wenn das Messetreiben seinen Höhepunkt erreichte.

Um die Mittagszeit an jenem schicksalsschweren Tag wusste ich noch nicht, welcher Schrecken mich am späten Nachmittag erwartete, und ich erfreute mich an dem bunten Treiben, das jede Messe mit sich brachte. Wir gingen zur Lotterie vor der neuen Katharinenkirche und ich gewann einen hölzernen Kerzenständer. Später kehrten wir im Nürnberger Hof ein, wo Seltenheiten aus fremden Ländern angeboten wurden. Ein indianisches Pferdchen, kaum größer als ein Hündchen, sprang durch bunte Reifen und auf einem Ast tanzten kleine Äffchen zur Musik eines Geigenspielers. In der Eschenheimer Gasse führte ein junger Franzose fremdartige Tänze vor und lud die Zuschauer ein, mit ihm über das Kopfsteinpflaster zu tanzen. Ein Hanswurst lockte die Spaziergänger in einen Innenhof, wo ein Quacksalber auf dem Kutschbock seines Wagens stand und Schlangenschmalz und gebranntes Hasenhaar verkaufte, das gegen die Pest helfen sollte.

Das größte Gedränge herrschte auf dem Rossmarkt, wo sogar einige Reichsgrafen an einem Pferderennen teilnahmen. Vor lauter Menschen konnte ich kaum etwas sehen und Balthasar hatte die gute Idee, mich auf das Dach des Hauses zu führen, in dem die Buchhandlung seines Vaters untergebracht war. Wir kletterten über eine Wendeltreppe nach oben, stiegen durch eine Luke nach draußen und setzten uns auf das Dach eines Giebelfensters. Vor allem junge Leute hatten sich auf die Ziegeldächer verteilt und verfolgten die spannenden Rennen. Ich ließ mich von der festlichen Stimmung mitreißen, feuerte die bunt gekleideten Teilnehmer an und wettete mit Balthasar um einen Kuss, welcher Reiter das nächste Rennen gewinnen würde. Balthasar gewann und küsste mich, bis ich keine Luft mehr bekam.

»Balthasar!«, flüsterte ich entsetzt. »Wenn du das auf der Mainbrücke getan hättest, hätte man deine rechte Hand abgehackt!«

»Und wenn schon«, erwiderte er fröhlich, »für dich lasse ich mich sogar einen Kopf kürzer machen! Heute ist alles erlaubt!«

»Balthasar!«, sagte ich wieder.

Er blickte mich verschmitzt an und ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass Balthasar sich für diesen Tag etwas ganz Besonderes vorgenommen hatte. Ich konnte mir auch denken, was es war. Normalerweise war er ein ruhiger Zeitgenosse, eher nachdenklich, so wie man sich einen Buchhändler vorstellte, und es musste schon etwas Außergewöhnliches passieren, wenn er sich so draufgängerisch wie heute gab. Es war mein erster Kuss und ich hatte das sichere Gefühl, dass die Zuschauer auf den anderen Dächern das genau wussten.

Balthasar wurde ernst und schöpfte wohl Mut, um mir zu sagen, dass er mich liebte und heiraten wollte, und ich sah über die Stadt und überlegte verzweifelt, was ich ihm antworten sollte. Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf. Er war ein netter Kerl, aber ich liebte ihn nicht. Mein Vater würde seinen Traum wahr machen und ich würde mit ihm nach Amerika gehen. Lieber Gott, sag mir, was ich dem armen Kerl antworten soll, betete ich und da sah ich die dunklen Rauchwolken, die wie ein drohendes Omen über den Dächern hingen. »Balthasar! Da drüben brennt es!«, stieß ich hervor.

Woher ich wusste, dass die Flammen aus meinem Elternhaus schlugen, kann ich nicht sagen. Ich spürte es einfach, stieg ins Treppenhaus zurück und rannte über die Wendeltreppe nach unten, zwei, drei Stufen auf einmal nehmend. Balthasar blieb dicht hinter mir, rief immer wieder meinen Namen und konnte sich keinen Reim auf meine plötzliche Panik machen. »Da drüben wohnen meine Eltern!«, rief ich, während wir zur Fahrgasse rannten, die ein gutes Stück vom Rossmarkt entfernt zum Flussufer führte. Die Leute blickten uns verwundert nach, konnten nicht wissen, dass es in ihrer Nähe brannte. Ein älterer Herr schüttelte missbilligend den Kopf: »Immer diese Jugend!«

Wir kümmerten uns nicht um ihn und rannten weiter. Mein Herz schlug bis zum Hals und meine Lunge brannte. Ich nahm eine Abkürzung, kletterte über eine Mauer, riss mir den Saum meines Kleides ein und machte mich schnell aus dem Staub, als ich das Bellen eines Hundes hörte. Balthasar hatte weniger Glück, er wurde gebissen und fluchte wie ein Fuhrknecht, während er den lästigen Hund abschüttelte. Ich war zu aufgeregt, um mich um ihn zu kümmern, erreichte die Fahrgasse und blieb entsetzt stehen. Beißender Qualm schlug mir entgegen.

Unser Haus brannte. Die Flammen schlugen aus allen Fenstern und leckten an den verputzten Wänden empor. Funken tanzten im lauen Wind. Die Hitze stand wie eine unsichtbare Wand zwischen dem Haus und mir, ich spürte sie am ganzen Körper. Das Feuer tobte mit mörderischer Kraft, ließ die Fensterscheiben zerspringen und fuhr wie ein Sturmwind durch das Haus, verschlang Möbelstücke und verfärbte die dunklen Balken zwischen den einzelnen Stockwerken. Es hatte sich wie eine böse Macht in unserem Haus eingenistet und zerstörte alles, was mir in meinem Leben etwas bedeutet hatte. Die Flammen tobten, lärmten und knisterten und leuchteten in der Dämmerung.

»Anna! Mein Gott!«, stöhnte Balthasar fassungslos.

Ich war so entsetzt, dass ich eine ganze Weile brauchte, bis ich die dunklen Schatten in dem Flammenmeer erkannte. Männer und Frauen mit Eimern versuchten das Feuer zu löschen und am Übergreifen auf die Nachbarhäuser zu hindern. Sie bewegten sich wie Geister in einem unterirdischen Höllenfeuer und schrien wild durcheinander. »Wasser! Wir brauchen mehr Wasser!«, rief jemand. »Mehr links, sonst greift das Feuer über!«

Balthasar schnappte sich einen Eimer und rannte zum nächsten Brunnen. Ich nahm kaum Notiz davon, blieb wie versteinert vor der Flammenwand stehen und starrte in das Feuer. »Vater!«, flüsterte ich. »Mutter!« Und dann laut und voller Panik: »Vater! Mutter! Wo seid ihr? Helft mir! Meine Eltern sind in dem Feuer! Helft mir doch!« Ich taumelte benommen auf die Flammen zu und starrte entgeistert auf die Schatten hinter den leuchtenden Fenstern. Waren das brennende Möbel? Oder Menschen, die verzweifelt versuchten den tödlichen Flammen zu entkommen?

Eine starke Hand riss mich zurück. Ich spürte den verrußten Rock eines Mannes im Gesicht und blickte weinend auf. »Mein Vater und meine Mutter sind da drin! Wir müssen sie herausholen!«

Ich wollte mich losreißen, aber seine Arme hielten mich fest umklammert. »Anna Fromm?«, rief er in den aufgeregten Lärm, der wie eine Brandung auf uns zurollte. Aus seinem Schnurrbart fiel dunkle Asche. »Sind Sie die Tochter des Büchsenmachers?«

»Wo ist mein Vater? Wir müssen ihn retten!«, rief ich.

»Der Büchsenmacher liegt da drüben«, antwortete er. »Ihm ist nichts passiert! Nur seine Frau ... seine Frau ist immer noch ...«

Ich riss mich los und rannte in die Richtung, in die er gewiesen hatte. Vater lag auf dem Pflaster, den Kopf gegen eine Mauer gelehnt, und blickte fassungslos in das Feuer. »Vater! Du lebst!«, rief ich weinend. »Vater!« Ich fiel auf die Knie und umarmte ihn mit aller Kraft, dachte gar nicht an meine Stiefmutter, die immer noch im Feuer war und qualvoll starb.

Kapitel 2

Unser Haus brannte bis auf die Grundmauern nieder. Der heftige Regen, der noch in derselben Nacht auf die Stadt prasselte, verhinderte ein Übergreifen des Feuers auf die anderen Gebäude, kam aber viel zu spät, um meine Stiefmutter zu retten. Sie starb in den lodernden Flammen. Wir fanden das Amulett, das sie um den Hals getragen hatte, in den rauchenden Trümmern. Sonst waren keine Menschen zu Schaden gekommen. Von unserem Besitz waren einige Werkzeuge, das eiserne Schloss einer Muskete und die Ledertasche mit den Goldmünzen übrig geblieben, die mein Vater in einer eisernen Schatulle unter seiner Werkbank aufbewahrt hatte. Das Gesparte, das für die Reise nach Amerika bestimmt war. »Ist es nicht seltsam, dass ausgerechnet dieses Geld geblieben ist?«, fragte er mit großer Verwunderung.

Wir standen vor den Überresten unseres Hauses und starrten in den beißenden Qualm. Die ganze Nacht harrten wir vor der Unglücksstelle aus. Wir beteten für meine tote Stiefmutter und baten Gott, sie in den Himmel aufzunehmen. Das Gesicht meines Vaters war traurig, aber in seinen Augen standen keine Tränen, auch dann nicht, als einige Männer die verkohlten Knochen meiner Stiefmutter in einem Tuch sammelten und sie auf einen Wagen luden. Die Liebe zu seiner Frau, wenn es sie jemals gegeben hatte, war schon vor langer Zeit erloschen. Ich weinte um sie, aber auch ich fühlte keinen tiefen Schmerz und zupfte nur verlegen am Ärmel meines Vaters, als ihre sterblichen Überreste vorbeigetragen wurden. Sie war nie meine Mutter gewesen und zwischen uns hatte es kein ernsthaftes Gefühl gegeben.

Mein Vater hatte mit den Vertretern des Rates gesprochen und zu Protokoll gegeben, wie das Unglück geschehen war. Eine Öllampe war im ersten Stock zu Boden gefallen und ein Luftstoß, der durch das angelehnte Fenster hereingekommen war, hatte das Feuer in Windeseile durch das ganze Haus getrieben. Mein Vater hatte die Flammen zu spät bemerkt. Er war in seiner Werkstatt gewesen und hatte an einer neuen Muskete gearbeitet, als die Flammen das Erdgeschoss erreicht hatten. Er hatte noch versucht, meine Mutter aus dem ersten Stock zu holen, aber die Treppe brannte bereits lichterloh und war vor seinen Augen zusammengebrochen. Er hatte nur sich selber retten können.

Am frühen Morgen lösten wir uns von dem traurigen Anblick. Balthasar kam zu uns und überbrachte uns das Beileid seiner Familie. Er führte uns zu einem nahen Gasthof und sagte: »Meine Eltern lassen ausrichten, dass sie euch gern etwas leihen würden, falls ihr euer Erspartes in den Flammen verloren habt!«

Mein Vater bedankte sich und sagte, das sei nicht nötig. Er wisse die Freundlichkeit der Eltern zu schätzen, aber er habe genug Geld, um durch diese schwere Zeit zu kommen. »Ich danke dir für dein Beileid, mein Junge! Möchtest du mit uns essen?«

Balthasar lehnte dankend ab. »Die Geschäfte«, entschuldigte er sich, »meine Eltern brauchen mich in der Buchhandlung. Nach der Messe kaufen die Leute besonders viele Bücher!« Er lüftete den Hut und verbeugte sich höflich. »Lebt wohl! Ich muss gehen!«

Wir betraten den Gasthof und mieteten ein Zimmer. Nachdem wir uns gesäubert und die Asche aus den Kleidern geschlagen hatten, gingen wir in die Gaststube und bestellten etwas zu essen. Wir hatten keinen großen Hunger und ich hätte mich am liebsten im Bett verkrochen, aber mein Vater erinnerte mich daran, dass wir am Abend des Unglücks nichts gegessen hatten und auch das Frühstück hatten ausfallen lassen. »Weißt du noch, als deine richtige Mutter starb?«, erinnerte er mich. »Damals hast du nichts gegessen und bist sehr krank geworden!«

Ich dachte an den Tag zurück, als sie von dem Fuhrwerk überfahren wurde, und spürte Tränen in meinen Augen. Der Tod meiner leiblichen Mutter hatte mich sehr mitgenommen. Ich war so krank gewesen, dass mein Vater einen Arzt holen musste. »Das war etwas anderes«, räumte ich ein. Wir bestellten Bohnengemüse und ich stocherte darin herum, hing meinen Gedanken nach und achtete nicht auf das Getuschel der anderen Gäste, die verstohlen in unsere Richtung blickten. Die Kunde von dem Brand war durch die ganze Stadt gegangen und man sprach überall von dem Büchsenmacher und seiner Tochter, die den grausamen Tod von Ehefrau und Mutter zu beklagen hatten.

Ich war froh, dass Balthasar die Einladung meines Vaters ausgeschlagen hatte, ich hätte es nicht ertragen können, wenn er dieses Unglück zum Anlass genommen hätte, meinen Vater um meine Hand zu bitten. Obwohl es weit verbreitete Sitte war, dass Väter ihre Töchter standesgemäß verheirateten, dachte mein Vater nicht daran, einen Mann für mich auszusuchen. »Wenn es so weit ist, erkenne ich, wem dein Herz gehört«, sagte er schmunzelnd.

An diesem Abend wollte ich allein sein und auch nach der Beerdigung der verkohlten Überreste meiner Mutter schlug ich die Einladung von Balthasar aus. Ich spazierte lieber mit meinem Vater am Main entlang und atmete die würzige Luft, die nach dem Regen von den fernen Bergen kam. Mein Vater sagte nicht viel und auch ich schwieg die meiste Zeit. Ich kannte die Gefühle, die ihn beschäftigten, und er wusste, worüber ich nachdachte. Obwohl wir nichts sagten, waren wir uns sehr nahe. Wir genossen den jungen Frühling und versuchten das Prasseln des Feuers und die Schreie meiner sterbenden Stiefmutter zu vergessen. Obwohl wir sie nicht geliebt hatten, würde es einige Zeit dauern, bis wir über ihren Tod hinweg waren. Wir hatten immerhin viele Jahre zusammengelebt und es tat weh, ihre Überreste auf dem Friedhof zu wissen. Immer wenn ich an ihrem Grab stand und frisch gepflückte Blumen darauf legte, musste ich daran denken, dass nur ein paar verkohlte Knochen unter der Erde lagen.

Wir blieben in dem kleinen Gasthof wohnen. Man würde uns eine Nachricht senden, wenn die Trümmer unseres niedergebrannten Hauses zur Seite geräumt waren und wir mit dem Neuaufbau beginnen konnten. Mein Vater hatte beschlossen, mit der Arbeit auszusetzen, und verbrachte viel Zeit mit mir. Wir hatten eine Goldmünze angebrochen und uns neue Kleider gekauft. Als ich mich im Spiegel betrachtete, war ich selber erstaunt, eine junge Dame zu sehen. Das dunkelbraune Kleid machte mich erwachsener, aber vielleicht lag es auch daran, dass meine honigblonden Haare zu einem Knoten aufgesteckt waren. Meine weiche Haut war von der Frühlingssonne gebräunt und über den leicht hervorstehenden Backenknochen waren nur noch wenige Sommersprossen zu sehen. Meine dunklen Augen leuchteten. In der Gaststube drehten sich fast alle Männer nach mir um, und das nicht nur, weil ich die Tochter des Büchsenmachers war. Sie bewunderten meine schlanke Figur und meine Rundungen, die sich deutlich unter dem Mieder abzeichneten. Ich lachte darüber.

Die tragischen Ereignisse, die meinen Vater und mich bewogen, Hals über Kopf die Stadt zu verlassen und nach dem Ende des Regenbogens zu suchen, wurden durch dieselbe Nachbarin ausgelöst, die meine leibliche Mutter eine Hexe genannt hatte. Während des Kirchgangs deutete sie mit dem Finger auf uns und nach dem Gottesdienst hetzte sie ihre Bekannten gegen uns auf. »Die Hexe ist aus ihrem Grab gestiegen«, sagte sie so laut, dass es alle hören konnten, »sie ist eifersüchtig, weil ihr Mann eine andere geheiratet hat! Sie ist in seinen Körper gefahren und hat das Feuer gelegt! Er trägt die Schuld an dem Brand!« Ihre Stimme war schrill geworden und in ihren Augen stand der blanke Hass. Ich weiß bis heute nicht, was sie gegen meinen Vater hatte. »Wir müssen ihn töten, sonst lebt die Hexe weiter!«

Ich hatte nicht den Eindruck, dass ihr jemand glaubte. Die meisten Kirchgänger lachten, als sie meinen Vater beschimpfte, und der Pfarrer ging zu ihr und sprach beruhigend auf sie ein. Sie verschwand in einer Seitengasse. »Sie ist verrückt«, sagte mein Vater, »sie weiß genau, dass meine Frau keine Hexe war! Sie war eine Träumerin und versuchte die Sterne zu deuten, aber das tun andere Menschen auch und niemand verurteilt sie! Was hat die Frau gegen mich?«

Ich griff nach seiner Hand und zog ihn von der Kirche weg. Es hatte keinen Zweck, mit der Nachbarin zu streiten oder über ihre Anschuldigungen zu reden, das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Das Volk war sehr wankelmütig und richtete viel zu leicht über einen Menschen, der nicht in sein Weltbild passte. Obwohl ich nie darüber gesprochen hatte, war ich fest davon überzeugt, dass einige der Frauen, die als Hexen hingerichtet worden waren, kein Verbrechen begangen hatten. Wenige Tage nach meinem vierten Geburtstag, so erfuhr ich später, entging die Frau eines bekannten Mannes dem Galgen nur, weil Philip Jakob Spener sich für sie einsetzte und ihre Ankläger davon überzeugte, dass sie nicht vom Teufel getauft worden war. Der Geistliche hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die verdorbene Welt zu verbessern, und setzte sich öffentlich für eine gottgefällige Besserung der wahren evangelischen Kirche ein. Er war ein bekannter, aber auch sehr umstrittener Mann in Frankfurt.

Meinem Vater und mir konnte er nicht helfen. Er war nicht in der Nähe, als wir in den Gasthof kamen und von einem Mann beschimpft wurden, der behauptete, dass Gott schon wisse, wer das Feuer gelegt habe. Was er damit meinte, war jedem klar. Ein anderer Mann stellte meinem Vater ein Bein, sodass er beinahe zu Boden stürzte, und ein junger Mann, der zu viel getrunken hatte, forderte den Wirt auf, die ungebetenen Gäste aus seinem Haus zu weisen. Der Wirt hielt zu uns und wir blieben, aber wir taten in dieser Nacht kein Auge zu und hatten große Angst, dass die Männer in der Gaststube sich Mut antranken und die Treppe heraufkamen, um uns zu verprügeln und davonzujagen. Ich begann zu weinen und drängte mich an meinen Vater. »Von morgen ab wird es besser«, sagte er. »Das verspreche ich dir!«

Doch am nächsten Tag wurde alles noch viel schlimmer. Schon beim Frühstück tuschelten die Leute über uns, und als wir über die Mainbrücke gingen, hörte ich, wie jemand sagte, dass man uns am anderen Ufer die Hände abschlagen würde. Wir kehrten rasch um und blieben neben dem Brückenturm stehen, blickten über den Fluss, der in der hellen Frühlingssonne glitzerte.

»Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht«, sagte mein Vater, »ich glaube, es ist besser, wenn wir die Stadt verlassen. Der Pöbel will, dass ich hänge, und es wird nicht mehr lange dauern, bis die Ratsherren mich festnehmen lassen. Auch du bist in Gefahr, Anna! Wir müssen weg, bevor wir dem gottlosen Gesindel in die Hände fallen!« Er blickte mich hoffnungsvoll an. »Wer kann uns daran hindern, schon jetzt nach dem Ende des Regenbogens zu suchen? Ich habe einen Beutel voller Goldmünzen und es gibt nichts, was uns noch in dieser Stadt hält. Was meinst du, Anna? Bist du bereit, ein neues Leben zu beginnen?«

Ich brauchte nicht lange zu überlegen. »Ja, Vater, ich will mit dir gehen! Du bist der einzige Mensch, den ich liebe, und ich will immer in deiner Nähe sein! Aber wie willst du an den Wachen vorbeikommen, wenn die Ratsherren dich festnehmen wollen?«

Auch darüber hatte mein Vater schon nachgedacht. Nach dem Frühstück hatte er mit einem Händler gesprochen, der ihm noch Geld schuldete, und ihm versprochen, die Summe zu erlassen und eine Goldmünze draufzulegen, wenn er uns in seinem Wagen aus der Stadt schmuggelte. Georg Hess, so hieß der Mann, fuhr alle paar Tage nach Westen und die Wachen hatten es längst aufgegeben, seinen Wagen zu durchsuchen. Der Händler hatte mit kleinen Geschenken dafür gesorgt, dass sie ihm wohlgesonnen waren. Er hatte versprochen, uns in seinem Wagen zu verstecken und uns ein Stück weit nach Westen zu bringen.

Wir packten einige Vorräte in einen Beutel und suchten den Mann auf. Er wohnte in einer engen Gasse in der Nähe des Eschenheimer Turms. Es bedeutete ein großes Risiko, sich auf den Händler zu verlassen, aber es war die einzige Möglichkeit, die uns geblieben war. Obwohl wir durch abgelegene Gassen gingen, begegneten wir immer wieder Leuten, die uns erkannten und mit Spazierstöcken oder Fingern auf uns zeigten. Das böse Gerücht, dass mein Vater im Auftrag einer toten Hexe gehandelt und sein Haus selber angezündet habe, hatte sich in der ganzen Stadt verbreitet. Mein Vater vermutete, dass einige Schuldner dafür gesorgt hatten.

Georg Hess war ein griesgrämiger Mann mit glanzlosen Augen und einem schmalen Mund. Seine Zähne waren gelb vom vielen Pfeiferauchen. Er würdigte uns kaum eines Blickes, als wir in seinem Hof auftauchten, und fragte nach dem Goldstück, kaum dass wir ihn begrüßt hatten. »Eigentlich ist das viel zu wenig«, schimpfte er, »ich habe mich in der Stadt umgehört und weiß, dass die Obrigkeit nach euch sucht! Und wenn ihr gehängt werdet, brauche ich meine Schulden sowieso nicht zu bezahlen!«

Mein Vater legte wortlos ein zweites Goldstück dazu und kümmerte sich nicht um das höhnische Grinsen des Händlers, der sich darüber freute, ein gutes Geschäft zu machen. Für die Schulden und die beiden Goldstücke hätte er ein Jahr lang arbeiten müssen. Aber wenn die Ratsherren bereits ihre Truppen ausgesandt hatten, um uns festzunehmen, blieb uns gar nichts anderes übrig, als auf seine überzogenen Forderungen einzugehen. Wir mussten so schnell wie möglich verschwinden, wenn wir dem Kerker oder dem Galgen entkommen wollten. Vielleicht richtete sich ihr Zorn nur gegen meinen Vater, aber selbst wenn nur er verhaftet wurde, drohten mir das Armenhaus oder die Verbannung, und das war beinahe noch schlimmer. Ich wollte bei meinem Vater bleiben und eine neue Zukunft mit ihm aufbauen.

Wir warteten nervös, bis der Händler die beiden Ackergäule vor den Wagen gespannt hatte, und krochen unter die Plane. Hinter einigen Kisten und Säcken versteckten wir uns. »Und haltet euren Mund!«, warnte Georg Hess. »Wenn sie den Wagen durchsuchen und euch finden, weiß ich von nichts. Dann behaupte ich, ihr wärt heimlich auf den Wagen geklettert.« Er warf eine Decke über uns und wir hörten, wie er auf den Kutschbock stieg. Der Wagen ächzte und knarrte, als wir den Hof verließen und quer durch die Stadt zur Bockenheimer Warte fuhren. Die Pferdehufe klapperten über das Kopfsteinpflaster. Ein Mann rief: »Morgen, Georg, schon wieder auf Achse?« Und der Händler antwortete: »Ich muss nach Rödelheim, einige Waren abholen.«

Es war sehr unbequem in unserem Versteck. Der Wagen holperte und schwankte und ich stieß immer wieder gegen eine Kiste und das raue Bodenbrett und holte mir einen blauen Fleck nach dem anderen. Georg Hess kümmerte sich nicht um uns. Er hockte wortlos auf seinem Kutschbock und paffte an seiner Pfeife. Der Rauch zog bis in unser Versteck. Alle paar Meter rief er den Ackergäulen etwas zu oder knallte mit der Peitsche, damit sie nicht stehen blieben, aber er machte keine Anstalten, sie zu einer schnelleren Gangart anzutreiben. Es wäre nur aufgefallen, wenn er die Stadt überhastet verlassen hätte.

Nach einer ganzen Weile erst steckte er den Kopf durch die Plane. »Kein Wort«, warnte er, »da vorn steht die Wache!«

Ich suchte nach der Hand meines Vaters und hielt vor lauter Angst die Luft an. Als der Wagen stehen blieb und die Stimmen der Wachsoldaten zu hören waren, atmete ich leise weiter und fürchtete, dass meine Atemzüge und mein Herzschlag mich verraten würden. Die Hand meines Vaters drückte fester zu und ich wurde ruhiger. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen, sagte ich mir, der Händler fährt alle paar Tage aus der Stadt und wird kaum kontrolliert. Die Wache wird ihm einen guten Tag wünschen und ihn durchwinken. Ich wartete ungeduldig auf das Knarren des Stadttores.

»Da hast du aber Glück gehabt«, hörte ich die Stimme eines Wachsoldaten, »die anderen Stadttore sind alle geschlossen!«

»Was gibt's denn? Haben wir die Pest?«

»Die Franzosen kommen über den Main«, antwortete der Soldat ernst. »Es geht das Gerücht um, dass sie uns abkassieren wollen!«

»Ich denke, der Krieg ist lange vorbei?«

»Sie versuchen es immer wieder. Solange Händler wie du das große Geld machen, gibt es in Frankfurt viel zu holen!«

Ich hörte, wie er an den Wagen trat. »Was hast du denn heute geladen?«

»Nichts Besonderes«, antwortete Georg Hess, »ein paar Kisten und Säcke vom Porzellanhof. Seit die Holländer ihre Fabrik eröffnet haben, gibt es viel für mich zu tun. Ich will nach Rödelheim.«

Der Wachsoldat lachte. »Na, dann pass mal auf, dass die Franzosen nicht von deinen Tellern essen!« Ich hörte, wie die Plane hochgezogen wurde. »Oder hast du den Hexer versteckt?«

Ich spürte, wie der Händedruck meines Vaters noch fester wurde, und kämpfte gegen den Drang an, aus meinem Versteck zu springen und wegzulaufen. Zum Glück ließ sich der Händler nichts anmerken. »Was für ein Hexer?«, fragte er scheinheilig.

»Hast du nicht gehört?«, wunderte sich der Soldat. »Der Büchsenmacher soll sein Haus selber angezündet haben! Die Leute sagen, dass seine tote Ehefrau ihn verhext hat! Jetzt sucht ihn der Rat! Vielleicht wurden die Tore auch deshalb geschlossen?«

»Damit habe ich nichts zu tun«, meinte Georg Hess.

»Sei froh«, erwiderte der Soldat fröhlich. »Ich hab keine Lust, dich am Galgen zu sehen!« Seine Schritte entfernten sich und ich hörte, wie er zu einem Kameraden sagte: »Öffnet das Tor!«

Der Wagen setzte sich knarrend in Bewegung und wir rollten durch das offene Tor in die Freiheit. Ich weinte vor Glück und vergaß, dass der größte Teil des langen Weges noch vor uns lag.

Kapitel 3

Außerhalb der Stadt, in einer waldbestandenen Senke, forderte der Händler uns auf, vom Wagen zu springen. Wir fügten uns widerwillig. Über den Hügelrändern waren noch die Türme der Stadtmauer zu sehen und wir wären gern noch länger in unserem Versteck geblieben, aber der Mann kannte kein Pardon. Er wollte kein unnötiges Risiko eingehen und uns so schnell wie möglich loswerden. »Weiter reicht euer Geld nicht«, meinte er unfreundlich, »jetzt müsst ihr selber sehen, wie ihr weiterkommt!«

Er trieb die Ackergäule an und verschwand zwischen den Bäumen. Wir blickten ihm nach, bis sich der Staub gelegt hatte, und folgten den Wagenspuren. Nach einer Weile wurde uns bewusst, dass wir kaiserlichen Truppen oder einer Abordnung des Frankfurter Rates in die Arme laufen konnten, wenn wir auf der Straße blieben, und wir schlugen uns seitlich in die Büsche. »Wir müssen vorsichtig sein«, sagte mein Vater, »ich weiß nicht, ob sich die Kunde von unserer Flucht schon verbreitet hat! Wir bleiben lieber in Deckung, bis wir den Rhein erreicht haben. Auf einem Boot sind wir sicher. Sie vermuten bestimmt nicht, dass wir zum Meer wollen. Ich habe niemandem verraten, dass ich davon träume, nach Amerika zu gehen. Wenn sie uns hier erwischen, bringen sie uns in die Stadt zurück und dann gnade uns Gott!«

»Warum tun sie das, Vater?«, fragte ich besorgt. »Warum erzählen sie diese Lügen über dich? Sie wissen doch, dass Mutter keine Hexe war. Wie kommen sie auf die Idee, dass du von ihr besessen bist? Warum verdächtigen sie dich als Brandstifter?«

»So sind die Menschen«, antwortete er, »wenn jemand ein böses Gerücht verbreitet, sind sie schnell dabei, einen Unschuldigen zu verurteilen. Denke daran, was sie mit den Unglücklichen angestellt haben, die sich gegen die Steuergesetze aufgelehnt haben! Auch damals mussten Unschuldige am Galgen sterben!«

Ich erinnerte mich an den Aufstand. Einige Bürger hatten öffentlich angeprangert, dass die Großverdiener kaum Steuern zahlen mussten, und wurden nach einer blutigen Schlägerei auf dem Römerberg in den Kerker geworfen. Die wenigen Aufständischen, die auch in den dunklen Verliesen auf ihrem Standpunkt beharrten, wurden zum Tode verurteilt und während einer öffentlichen Hinrichtung auf dem Rossmarkt geköpft. Sogar einige Ratsherren waren der Meinung, dass damals auch Unschuldige bestraft wurden. »Wo gehobelt wird, fallen Späne«, war aus dem gemeinen Volk zu hören, »es ist einem gewöhnlichen Bürger noch niemals bekommen, gegen die Obrigkeit vorzugehen!«

Mein Vater hatte immer nach den Gesetzen gelebt, obwohl auch er auf den Kaiser und seine strengen Erlasse geschimpft hatte. Aber das taten fast alle Bürger in den eigenen vier Wänden. Es gab wenige Städter, außer den reichen Patriziern, die mit der Vorgehensweise der Ratsherren einverstanden waren. Die meisten Gesetze waren ungerecht und begünstigten die wohlhabende Schicht. »Aber nicht allein deshalb gehen wir nach Amerika«, erklärte mein Vater, als wir nach einem anstrengenden Fußmarsch zwischen einigen Bäumen rasteten, »mich reizt vor allem das fremde Land, weil es dort kaum Grenzen gibt und jeder gewöhnliche Bürger eigenes Land besitzen kann. Die Wildnis ist unermesslich und ein tapferer Mann, der sich auf sein Handwerk versteht, kann ein Vermögen machen! Ich habe gehört, dass in Amerika die Freiheit der Rede herrscht, und wenn ich die Berichte richtig gedeutet habe, soll selbst der englische König dort kaum etwas zu sagen haben. Amerika ist ein freies Land und jenseits der Kolonien erstrecken sich unberührte Wälder und Täler bis zum Horizont.« Er lächelte. »In einer solchen Wildnis sind gute Büchsenmacher sicher gefragt. Dort liegt unsere Zukunft.«

Ich glaubte ihm und konnte es gar nicht erwarten, die Neue Welt zu betreten. Natürlich hatte ich Angst. Ich hatte Angst, meine vertraute Heimat gegen eine ungewisse Zukunft in einem fernen Land einzutauschen. Ich fürchtete mich vor den blutrünstigen Wilden, von denen man sagte, dass sie selbst Frauen und Kinder massakrierten. Mein Vater- hatte diesem William Penn zugehört, der vor einigen Jahren in Frankfurt gewesen war und von der Neuen Welt berichtet hatte, und er hatte mit den Mitgliedern der Frankfurter Kompanie gesprochen, die wertvollen Grund in Germantown gekauft hatten. So wurde die kleine Stadt genannt, die William Penn in seinem Teil der englischen Kolonien gegründet hatte. Aber selbst er wusste nicht alles über Amerika, und es war immerhin möglich, dass er einige Schönfärberei betrieben hatte, um möglichst viele Käufer zu finden. »Dieses Risiko nehme ich auf mich«, sagte mein Vater, »dieses neue Leben ist eine Herausforderung und ich bin bereit, sie anzunehmen!«

Ich will ehrlich sein. Wenn ich damals gewusst hätte, welche Herausforderungen auf mich warteten, hätte ich wahrscheinlich aufgegeben. Ich wäre nach Frankfurt zurückgegangen und hätte mich in die Hände der Ratsherren gegeben. Im Armenhaus und selbst im Kerker herrschten bessere Bedingungen als in den Herbergen, die ich während der Überfahrt und in der Fremde zu sehen bekam. Aber so ist das ganze Leben. Wenn man wüsste, wohin der Wind einen treibt, würde man schon nach der Geburt die Segel streichen. Man wächst mit seiner Aufgabe, bekam ich in den folgenden Jahren noch öfter zu hören, und ich kann ohne Einschränkung behaupten, dass ich durch die zahlreichen Abenteuer, die ich in der Fremde bestand, zu einer mutigen und selbstbewussten Frau heranwuchs. Aber davon später.

Im Augenblick war uns vor allem daran gelegen, so schnell wie möglich zum Rhein zu kommen. Bevor die Kunde von unserer Flucht das Kurfürstentum erreichte, wollten wir an Bord eines Frachtseglers sein. »Dies ist der gefährlichste Abschnitt unserer Reise«, versuchte mein Vater mich zu beruhigen. Später mussten wir uns eingestehen, damals sehr naiv gewesen zu sein. Natürlich schwebten wir auf den Frachtstraßen, die nach Frankfurt führten, in ständiger Gefahr. Die Truppen konnten uns jederzeit aufstöbern und in die Stadt zurückbringen. Aber die lange Reise über den Ozean und die fremden Länder, die mich jenseits des Meeres erwarteten, bargen ein größeres Risiko und warteten mit tausend Gefahren.

Wir erreichten den Rand des Wäldchens und ich blickte sorgenvoll zum Himmel empor. Von Westen waren dunkle Wolken aufgezogen. Sie hingen tief über dem welligen Land, das sich bis zum Rheinufer erstreckte. Ein böiger Wind knickte das Getreide, das auf den Feldern wuchs, und zerrte an unseren Kleidern, als wir den Schutz der Bäume verließen. Einige der Wolken waren pechschwarz und warfen dunkle Schatten auf die fruchtbare Erde. Die letzten Sonnenstrahlen beleuchteten die Straße, die wie ein braunes Band von einem Dorf zum anderen führte.

»Wie weit ist es noch bis zum Fluss?«, wollte ich wissen.

»Ungefähr sieben Stunden«, antwortete mein Vater, »wenn wir keine Rast einlegen, sind wir gegen Mitternacht in Mainz. Aber die Gefahr, dass sie dort über uns Bescheid wissen, ist zu groß. Es ist besser, wenn wir irgendwo in einer Scheune übernachten und erst am frühen Morgen in Mainz eintreffen. Dann ist die Möglichkeit größer, dass wir einen Frachtsegler erwischen.« Er blickte misstrauisch zum Himmel empor. »Wir sollten noch etwas laufen, bis es zu regnen anfängt. Nur wenn wir weit genug von Frankfurt weg sind, können wir vor den Truppen sicher sein.«

Vor uns lagen weite Felder und die Gefahr war groß, dass uns eine Abteilung der kaiserlichen Truppen entgegenkam. Wenn die Franzosen durch den Main geritten waren, bestand immer eine Chance, dass sich Soldaten in der Nähe aufhielten. Wir gingen am Rand der Felder entlang, um rechtzeitig hinter vereinzelt stehenden Bäumen verschwinden zu können, falls sie auftauchten. Ich hoffte, dass sie sich mit lauten Trommelwirbeln ankündigten und wir genügend Zeit hatten, um uns zu verstecken.

Wir hatten Glück. Obwohl wir fast zwei Stunden über ebenes Land marschierten, bekamen wir keinen einzigen Soldaten zu sehen. Gefahr drohte uns bloß von den Bauern eines kleinen Dorfes, die mit erhobenen Mistgabeln über die Felder kamen, als sie uns entdeckten. Zuerst glaubten wir, dass sie uns feindlich gesinnt waren, aber dann hörten wir ihre Rufe: »Bleibt weg! Bleibt weg!«, und erkannten, dass eine Krankheit in ihrem Dorf wütete. Sie hatten Angst, dass wir uns ansteckten.

Wir winkten ihnen zu und machten, dass wir weiterkamen. Von einem Hügel blickten wir auf eine lang gestreckte Ebene hinab. »Wenn die Wolken nicht so tief stünden, könnten wir den Rhein sehen«, sagte mein Vater hoffnungsvoll. Er reichte mir die Wasserflasche und ließ mich trinken, dann nahm er selbst einen Schluck. Wir gingen abseits der Frachtstraße über Wiesen und Felder und mussten uns mehr anstrengen als ein Wanderer, der keine Angst vor den Soldaten zu haben brauchte.

Der Regen überraschte uns zwischen einigen Rübenfeldern, ungefähr fünf Stunden vom Fluss entfernt. Er kam so plötzlich, dass wir keine Zeit mehr fanden, uns unterzustellen. Wir waren dem Unwetter hilflos ausgeliefert und lediglich durch unsere sommerlichen Umhänge gegen den plätschernden Regen geschützt. Die Erde unter unseren Stiefeln verwandelte sich innerhalb weniger Minuten in zähen Morast und wir kamen kaum noch voran. Ein greller Blitz zuckte vom Himmel herab, gefolgt von einem tosenden Donnerschlag, der den Boden zum Zittern brachte. Die Wolken hatten sich zu einem schwarzen Meer vereinigt, das vom böigen Wind über den Himmel getrieben wurde.

»Da drüben ist eine Scheune«, rief mein Vater in das Heulen des Windes, »bei den Bäumen am kleinen Fluss!« Er deutete in den strömenden Regen und ich erkannte die schemenhaften Umrisse eines Bauernhofes, die sich düster gegen den vom Blitz erhellten Himmel abzeichneten. Die Scheune stand etwas abseits vom Hauptgebäude. Mein Vater wies auf die kleine Hütte hinab. »Komm! Dort können wir uns unterstellen!«