Forside

Hans Scherfig

Der versäumte Frühling

SAGA Egmont




1. Kapitel

Vor etlichen Jahren starb im Kopenhagener Viertel Østerbro ein älterer Mann, nachdem er einen Malzbonbon zu sich genommen hatte.

Er hatte eine Schwäche für Malzbonbons und schon seit vielen Jahren regelmäßig welche gelutscht, ohne dabei irgendwie zu Schaden gekommen zu sein. Er trug ständig eine kleine ovale Blechschachtel bei sich, und wenn er im Hals ein Kribbeln verspürte oder eine kleine Anregung brauchte, nahm er sich einen Bonbon. Er zerkaute ihn nie, sondern lutschte ihn und ließ den Saft langsam durch die Kehle rinnen. Und dabei war ihm nie irgend etwas passiert.

Eines Tages aber ging es schief, der Bonbon wurde sein Tod. An einem schönen, lauen Abend Anfang Juni, als auf der Uferpromenade Langelinie Flieder und Goldregen blühten. Er hatte gegen halb acht seine Wohnung in der Classensgade verlassen, um wie gewöhnlich auf Langelinie spazierenzugehen. Seine Frau sollte gegen halb neun den Abendtee für ihn fertig haben. Doch er bekam keinen Tee mehr. Er sah auch seine Frau nicht wieder. Zum letztenmal ging er die Treppe hinunter und ahnte dabei nicht, daß er nie mehr die marmorierten Felder an der Wand zählen und den besonderen Geruch des Hauses wahrnehmen würde.

Der Abend war mild, obgleich es noch nicht so warm war, daß er es für angebracht gehalten hätte, ohne Mantel auszugehen. Auf seinen wollenen Schal hatte er allerdings verzichtet. Am Jachthafen setzte er sich auf eine bestimmte Bank, blickte über das Wasser und besah sich die Leute. Er kannte die meisten Einwohner von Østerbro vom Sehen und wußte, wer sie waren.

Auf dem Sund kreuzten flaggen- und wimpelgeschmückte Segelboote, man sah die Hafenfähre und einige Ruderboote, die eine Wettfahrt veranstalteten. An seiner Bank kamen junge Mädchen vorbei, die schöne Beine hatten und luftige Sommerkleider trugen. Er schaute ihnen durch die Goldrandbrille nach und dachte bei sich: So leichtbekleidet müssen sie sich doch erkälten. Daß die Menschen aber auch nie klüger werden! Und er warf einen Blick auf die Ruderer, die sich in ihren langen, schmalen Booten nach den Kommandos ihrer Steuerleute abmühten. Halbnackte, behaarte Menschen. Reiner Wahnsinn, sich zu dieser Jahreszeit unbekleidet auf das Wasser zu wagen! Die holen sich doch eine Lungenentzündung! Sie spielen ja geradezu mit ihrem Leben! Dabei wußte er nicht, daß sein Leben schon in wenigen Stunden vorbei sein würde.

Bekümmert blickte er den kleinen Motorfähren nach, die auf dem blauen Wasser dahintuckerten. Und er errechnete, daß sie unverantwortlich überladen sein mußten. Bestimmt waren auch nicht für alle Fahrgäste Schwimmwesten vorhanden – einfach skandalös! Da mußte wohl erst ein Unglück passieren, bevor bestimmte Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden. Bis dahin verhält man sich aber gleichgültig. Wie hierzulande so üblich.

Die Abendluft am Wasser dünkte ihm ein wenig rauh. Ihm fehlte nun doch sein wollener Schal. Er räusperte sich und holte die kleine ovale Blechschachtel mit den Malzbonbons aus der Tasche. Suchte sich einen besonders gleichmäßig geformten Bonbon aus und steckte ihn in den Mund.

Er kam ihm gleich etwas bitter vor. Doch bei Malzbonbons kann es sein, daß sie anfangs einen bitteren Geschmack haben, ohne daß es etwas zu bedeuten hat. Das vergeht. Deshalb lutschte er kräftig daran, schob ihn mit der Zunge weiter in den Mund und biß ihn durch, obgleich er das sonst verwerflich fand. Und gerade das sollte ihm zum Verhängnis werden. Der bittere Geschmack verstärkte sich nur noch. Der Bonbon schmeckte wie Metall. Als hätte er die Schachtel im Mund. Er beschloß, den Bonbon zu opfern, spuckte ihn aus und nahm einen neuen, der so schmeckte, wie er sollte.

Plötzlich schauderte ihn leicht, und er stand auf, um nach Hause zu gehen. Ihm wurde übel. Schüttelfrost und Brechreiz stellten sich ein. Der neue Malzbonbon schmeckte auch nicht so recht und wurde ausgespuckt. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, und er bekam Magenschmerzen. Die Brille war auf einmal wie beschlagen, er sah die ganze Uferpromenade nur noch verschwommen. Der Hafen und die Straße, die Dornenhecke und der Flieder, die Fahnen, die Radfahrer und die Ruderer – alles drehte sich ihm vor Augen. Er mußte sich an einem Baum festhalten. Die Leute sahen den gutgekleideten Herrn mit Goldrandbrille und Spitzbart an, hielten ihn für betrunken und wunderten sich. Um ihn bildete sich ein Auflauf. Ein Polizist mit weißen Handschuhen kam herbei.

„Was geht hier vor? Sehen Sie lieber zu, daß Sie nach Hause kommen!“ Dann merkte er jedoch, daß der Mann krank war.

„Ich wohne Classensgade Nummer 44 … Ich muß nach Hause“, sagte der Kranke. Aber er kam nicht mehr nach Hause. Denn nun trat ihm Schaum vor den Mund, und Krämpfe setzten ein. Der Polizist schickte einen der Neugierigen, nach einem Krankenwagen zu telefonieren, während er selbst den Hilfebedürftigen stützte.

„Das war der Malzbonbon … Ich glaube, das war der Malzbonbon. Er schmeckte bitter“, sagte der Herr mit Goldrandbrille später im Krankenwagen. Und der Polizist merkte sich das, um es in den Bericht aufzunehmen.

Kurz nach seiner Einlieferung ins Städtische Krankenhaus verschied der ältere Herr. Die letzten verständlichen Äußerungen, die er von sich gab, waren irgend etwas von Malzbonbons und der Satz „Agnosco fortunam Carthaginis“, den der lateinkundige Arzt mit „Nun erblicke ich Karthagos Schicksal“ übersetzte.

2. Kapitel

Der Tote hatte Papiere bei sich, die ihn als den dreiundsechzigjährigen Studienrat C. Blomme, wohnhaft Classensgade 44, auswiesen. Seine Frau wurde benachrichtigt, und alles, was in solchen Situationen getan werden muß, wurde getan.

Die Ärzte erklärten, der Tod sei durch ein alkalisches Gift hervorgerufen worden, das eine Lähmung des motorischen Nervensystems herbeigeführt habe, wodurch es zu einer Art Starrkrampf gekommen sei. Infolge der Lähmung der Brustmuskulatur sei dann der Tod durch Ersticken eingetreten.

Bei der später vorgenommenen Obduktion stellte man im Mageninhalt Strychnin fest. Auf Grund der merkwürdigen Umstände dieses Todesfalles wurde die Mordkommission benachrichtigt. Die Polizei leitete die Untersuchung ein. Was der Sterbende über den Malzbonbon gesagt hatte, war nicht in Vergessenheit geraten. Im Mantel des Toten fand man die kleine ovale Blechschachtel mit den weiter oben beschriebenen Malzbonbons. Die Schachtel wurde mit sterilen Geräten geöffnet. Hände in Gummihandschuhen nahmen vorsichtig die Bonbons heraus. Die Blechschachtel samt Deckel und jeder einzelne Bonbon wurden gründlich analysiert, mikroskopiert und durchleuchtet. Aber in keinem Bonbon ließ sich auch nur eine Andeutung von Gift feststellen. Nicht einmal mit Hilfe der Spektralanalyse gelang es, in der Schachtel oder in den Bonbons irgendein Gift nachzuweisen.

Man konnte in Erfahrung bringen, wo Studienrat Blomme die verhängnisvollen Malzbonbons oder den Malzextrakt-Brustzucker, wie die offizielle Bezeichnung dafür lautete, gekauft hatte. Das ganze Geschäft wurde auf den Kopf gestellt und der Besitzer und die Verkäuferin beinahe chemisch untersucht. Es fand sich jedoch nicht einmal die Spur von Strychnin. Die Nachforschungen wurden sowohl in der Bonbonfabrik als auch in dem Betrieb, der die Blechschachteln herstellte, fortgesetzt und in den unwahrscheinlichsten Verästelungen weitergeführt. Nirgendwo entdeckte man Strychnin.

In Studienrat Blommes Wohnung gab es ebenfalls kein Strychnin. Und er schien sich auch niemals für Gifte interessiert zu haben, wenn man von jenen absieht, von denen in der Geschichte der römischen Kaiser berichtet wird. Suetonius, Tacitus, juvenal und Petronius füllten seinen Bücherschrank, und der friedfertige Studienrat hatte an den grausigen Schilderungen, die in einer für seine Familie unverständlichen Sprache geschrieben waren, seine Freude.

Ein kleiner, stiller Mann mit Goldrandbrille und Spitzbart. Ein Mann mit bescheidenen Gewohnheiten und einer maßvollen Lebensführung. Ein Mann mit klassischer Bildung, dessen Wohnung braune Reproduktionen antiker Statuen schmückten. Sonntags besuchte er oft die Abgußsammlungen des Kunstmuseums und erklärte seiner Familie die weißen Gipsfiguren. Abends ging er gern auf Langelinie spazieren. Seinen Schülern brachte er gewissenhaft die lateinische Grammatik bei. Mit ängstlicher Sorgfalt pflegte er seine schwächliche Gesundheit. Sein einziges Laster war die Schwäche für Malzextrakt-Brustzucker. Am Abend saß er in seiner kleinen Stube in der Classensgade und las die römischen Historiker im Original. Und die lateinische Sprache erschloß ihm eine andere Welt. Die Welt Tiberius‘, Caligulas, Neros und Messalinas. Mit ihren Intrigen und Giftmorden und absonderlichen Perversitäten.

Doch Strychnin gab es in seiner Wohnung nicht. Niemand hatte Grund zu der Annahme, daß er einen seiner eigenen Malzbonbons vergiftet hatte oder auf andere Weise Selbstmord begehen wollte. Und niemand stand im Verdacht, ihm nach dem Leben getrachtet zu haben.

Seine Frau betrauerte den Verlust ihres Mannes, und die drei erwachsenen Töchter trauerten ebenfalls. Seine Kollegen und Bekannten zeigten aufrichtige Teilnahme. Er hatte keine Schulden, keine heimlichen Geliebten, keine kostspieligen Laster. Er litt auch nicht unter enttäuschtem Ehrgeiz. Er war weder finanziell erpreßt noch bedroht worden, noch war er Wucherern in die Hände gefallen.

Sein Tod auf der Uferpromenade war in mystisches Dunkel gehüllt und blieb rätselhaft. Keine noch so gründliche polizeiliche Untersuchung konnte irgendeine Erklärung erbringen. Und so wurde Studienrat C. Blomme begraben.

3. Kapitel

Viele Jahre nach Studienrat C. Blommes Tod auf der Uferpromenade trafen sich einige Herren in einem Restaurant. An einem schönen, warmen Juniabend, an dem genau wie damals Flieder und Goldregen blühten.

Die Herren kamen die mit roten Läufern belegten Treppen herauf und gaben Mantel, Schal und Regenschirm an der Garderobe ab. Einige sogar Überschuhe – trotz des schönen Wetters. Es waren Menschen, die sehr auf ihre Gesundheit achteten.

Die meisten fuhren mit dem Auto vor, einige kamen mit der Straßenbahn. Nur einer kam zu Fuß.

Aus dem ganzen Land waren sie angereist, um sich an diesem Sommerabend zu treffen, auch wenn sie sich im Grunde genommen nicht mehr kannten. Sie hatten sich seit vielen Jahren nicht gesehen und sich inzwischen sehr verändert. Sie hatten Brillen, Bäuche und Bärte bekommen. Sie waren glatzköpfig geworden, und ihre Haarfarbe hatte gewechselt. Sie waren hager und runzlig oder dick und rund geworden. Sie hatten sich geradezu bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Sie schüttelten einander so herzlich die Hände, daß die Manschettenknöpfe rasselten. Und sie duzten sich leicht geniert, weil sie nicht immer wußten, mit wem sie eigentlich sprachen, und sich deshalb erst vorstellen und sich zu erkennen geben mußten.

Alle waren dreiundvierzig Jahre alt. Männer im besten Alter. Reife, erfahrene Männer auf der Höhe ihrer Schaffenskraft. Und sie waren Männer, die ihren Mitmenschen gegenüber mit Verantwortung, Befugnissen und Macht ausgestattet waren. Vielbeschäftigte Männer, deren Zeit kostbar war. Sie hatten vieles zurückstellen müssen, um diesen Abend gemeinsam verleben zu können.

Die Herren waren festlich gekleidet. Geschniegelt und gebügelt, mit Frack und weißer Hemdbrust. Einige trugen Miniaturorden im Knopfloch.

Nur einer hatte einen gewöhnlichen Anzug an. Einen blankgewetzten Anzug, dessen Ärmel und Hosenbeine viel zu kurz waren. Er trug einen sonderbaren, dünnen, langgezogenen roten Binder und merkwürdige, ausgetretene, absatzlose Stiefel. Er hatte ungeschnittenes Haar und einen schwarzen Vollbart. Mürrisch begrüßte er die anderen und betrachtete sie kurzsichtig durch eine sehr kleine, altmodische Brille. Er glich keinem der anderen, und doch gehörte er zu ihnen. Man hatte auf sein Kommen Wert gelegt. Und man behandelte ihn freundlich und mit Herzlichkeit und schützte ihn fürsorglich vor eventuellen Beleidigungen von seiten des Bedienungspersonals.

Das in Hellrot gehaltene Restaurant mit seiner Seidentapete, den vergoldeten Wandleuchten und der bronzefarbenen Beleuchtung war eine Stätte, die die häusliche Ungemütlichkeit mit der Eleganz des Gesellschaftslebens vereinte.

In einem Nebenraum war die Tafel gedeckt, mit Kerzen, Blumen, dänischen Fähnchen und sinnreich aufgestellten Servietten. Der Oberkellner umkreiste den Tisch, um sich einen Überblick zu verschaffen und sich davon zu überzeugen, daß auch alles seine Richtigkeit hatte.

Die Herren boten sich gegenseitig Zigarren an und streiften dann die Asche an künstlerisch geformten Porzellanaschenbechern und keramischen Gebilden mit biblischen Motiven ab. Sie lachten und redeten lautstark über vergangene Tage, frischten alte Erinnerungen auf. Und sie unterhielten sich in einer seltsamen Freimaurersprache, die für Uneingeweihte nicht zu verstehen gewesen wäre.

Einige Herren bildeten ein Komitee, sie eilten geschäftig mit Listen hin und her und kreuzten jeden Ankommenden darauf ab.

Endlich war man vollzählig. Neunzehn Herren. Anwälte, Ärzte, Wissenschaftler,Geschäftsleute, Lehrer, Richter sowie ein Geistlicher und ein Offizier.

Unter ihnen war auch ein Mörder. Ein Mann, der viele Jahre zuvor Studienrat C. Blommes Malzbonbon vergiftet hatte.

4. Kapitel

Die Wachtparade zog durch das Krankenhaus. Ein Auftritt großen Stils, der Tag für Tag mit wunderbarer Präzision ablief.

Der Chefarzt schritt zuerst mit seinem Stab die Front ab, dann setzte sich die Stubendurchgangsprozession in Bewegung.

Von Station zu Station verkündete Glockengeläut die Ankunft der Parade, so daß alles für diesen feierlichen Augenblick bereit war.

Die Stationsschwestern hatten mit glattgestrichenen Schürzen Aufstellung genommen. Die jungen Schwesternschülerinnen standen stramm. Die Patienten versuchten, so gut es ging, im Bett strammzuliegen. Die Laken waren glattgezogen, die Bettdecken in die vorgeschriebene Form gebracht. Nichts durfte verknautscht sein oder unvorschriftsmäßige Falten haben. Kein Patient durfte in dieser Zeit um das Becken bitten. Während der Parade hatte man sich alles zu verkneifen. Den Patienten war es auch verboten, in der feierlichen Stunde des Stubendurchgangs zu sterben.

Der Chefarzt trug eine ruhige und würdige Miene zur Schau. Schon als junger Arzt hatte er sorgfältig den Gesichtsausdruck seines Vorgängers studiert, und er wußte, daß die jungen Ärzte des Gefolges nun auf seine Miene achtgaben. Eine Hand steckte in der Kitteltasche. Mit der anderen machte er kleine Gesten, die von den Pflegerinnen und den darauf trainierten Krankenschwestern verstanden und befolgt wurden.

Kein Patient wagte es, den Chefarzt direkt anzusprechen. Fragen und Antworten wurden durch Zwischeninstanzen vermittelt. Dabei konnte es zu Mißverständnissen kommen, die zu korrigieren jedoch im höchsten Maße ungehörig gewesen wäre.

Der Chefarzt hieß Thorsen. Aber einen Chefarzt spricht man nicht mit seinem Namen an. Ungebildete Elemente unter den Patienten wurden darüber belehrt, daß man ihn auch nicht mit „Herr Doktor“ oder gar nur mit „Doktor“ anreden dürfe und daß auch das „Sie“ unzulässig sei. Jeder Gebrauch eines Pronomens in Verbindung mit einem Chefarzt ist verpönt. In der Anrede und bei Erwähnung seiner Person hat es immer nur „Herr Chefarzt“ zu heißen, und ein Verstoß gegen diese Regel kann die ernsthaftesten Folgen haben.

Wenn die Visite vorbei ist, zieht sich der Chefarzt zurück. Der Zauberbann, der über den Krankenzimmern gelegen hat, ist aufgehoben. Die sich in arger Bedrängnis befindenden Magenpatienten läuten fieberhaft, und die Schwesternschülerinnen stürzen mit den Becken herbei.

Die Arbeit des Chefarztes ist aber noch nicht getan. Er rast im Auto zu seiner Privatklinik, wo andere Patienten auf ihn warten. Sie haben die gleichen Krankheiten wie die im Krankenhaus. Und auch die Behandlung ist die gleiche. Doch Etikette und Umgangsformen sind anders. Hier kann die Anrede „Sie“ gebraucht werden. Und auf das Gesicht des Chefarztes ist ein Lächeln getreten, als befände er sich unter Gleichgestellten.

Chefarzt Thorsen hat einen anstrengenden Arbeitstag. Er ist auch Professor und muß sich um seine Studenten kümmern und Vorlesungen halten. Und er darf sich nicht einmal ein Zeichen von Müdigkeit anmerken lassen. Die Vorlesungen müssen lebendig und mit witzigen Bemerkungen gewürzt sein, und die Studenten geben sich interessiert und lachen eilfertig, wenn der Professor einen Witz macht.

Doch der Chefarzt hat auch noch seine Privatpraxis, die Zeit und Geduld, lange Gespräche und taktvolles Verständnis erfordert. Hier ist abermals ein anderer Gesichtsausdruck erforderlich. „Vertrauen zum Arzt, das ist das allerwichtigste“, hat Professor Thorsen einmal in einem Interview gesagt. Mitunter kann es angebracht sein, beide Hände des Patienten zu ergreifen und ihn freundlich und verständnisvoll anzublicken. Der Arzt soll ein Freund sein, dem man sich anvertraut. Und er soll ein diskreter Beichtvater sein.

Dazu kommen noch die vielen anderen beruflichen und ehrenamtlichen Verpflichtungen. Leitungssitzungen, Kongresse, Vorträge, „Domus Medica“ – das Haus der dänischen Ärztevereinigung –, Redaktion einer Wochenzeitschrift, Zeitungspolemik und so weiter. Außerdem hat ein Arzt noch ein Privatleben, eine Frau und Kinder, und er muß auch Geselligkeit pflegen.

Vielleicht würde allein schon die Stellung eines Chefarztes das Leben eines Mannes ausfüllen. Und vielleicht wird Professor Thorsen auf Grund von Überanstrengung schon zeitig sterben. Aber seine zahlreichen Ämter hat er freiwillig übernommen. Sie sind Voraussetzung, um Karriere machen und sich einen hohen Lebensstandard leisten zu können. Der Professor ist ein im ganzen Land bekannter Mann. Bewundert und beneidet von allen Kollegen.

Er ist noch jung. Er ist erst dreiundvierzig Jahre alt. Und er ist einer der neunzehn festlich gekleideten Herren, die sich an einem Juniabend treffen.

Einem milden, stillen Sommerabend, an dem auf Langelinie Flieder und Goldregen blühen, genau wie viele Jahre zuvor, als ein älterer Studienrat ins Städtische Krankenhaus eingeliefert wurde und dort starb, weil er einen vergifteten Malzbonbon zu sich genommen hatte.

5. Kapitel

Ein Zuhälter und Gewalttäter ist zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ein abgestumpftes, ungehobeltes Individuum, das sich mit dem Urteil einverstanden erklärte und vor dem schaudernden Richter übertrieben höflich dienerte. Und im Gerichtsbericht einer Zeitung war dann sogar zu lesen, daß der Verurteilte die Zuhörer noch frech anlachte, als er abgeführt wurde. Pomadisiert, blaß, aufgeschwemmt, wattierte Schultern.

„Ein geradezu widerlicher Typ“, sagt Richter Ellerstrøm zum Referendar.

Richter Ellerstrøm ist dreiundvierzig Jahre alt. Sehr groß, mit länglichem Gesicht, blondem, aufwärts gekämmtem Haar und einem Schnurrbärtchen.

Er mißt die Gefängnisstrafen so zu, wie es das Gesetzbuch vorschreibt, und diktiert sein Urteil mit dünner, unsicherer Stimme. Seine langen Hände spielen nervös mit dem Federhalter. Er weiß nie, was er mit seinen Händen anfangen soll. Doch er beißt sich nicht mehr auf die Nägel. Das hat ihm seine Mutter abgewöhnt.

„Jetzt, da du Richter geworden bist, mußt du endlich mit dieser häßlichen Angewohnheit aufhören“, sagte sie. „Ein Richter kann doch nicht dasitzen und im Gerichtssaal an den Nägeln kauen. Was sollen denn die Verbrecher denken!“

Und der Richter hat genug Charakterstärke bewiesen, ihre Ermahnung zu befolgen.

Seine Mutter bewohnt eine ziemlich große Wohnung in der Gegend des Ostbahnhofes. Als ihr Sohn noch ein kleiner Junge mit Matrosenanzug und Kniestrümpfen war, wurde sie geschieden. Sie behielt das Kind, und sie hat es noch. Und sie hält jeden schlechten Einfluß von ihm fern und wacht mit rührender Sorgfalt über seine Gesundheit und sein Wohlbefinden. Fortwährend heißt es: „Jetzt mußt du essen.“ – „Jetzt mußt du dich ausruhen.“ – „Ich habe dir reine Unterwäsche und ein sauberes Taschentuch hingelegt.“

Zwischen den beiden besteht ein rührendes Verhältnis. Wenn sie abends auf Langelinie spazierengehen, sehen ihnen die Leute wohlwollend nach. Sie ist klein und beleibt, und er muß ein wenig vornübergebeugt gehen, damit sie sich auf seinen Arm stützen kann.

Und er erzählt ihr von seiner Arbeit und von den sonderbaren Personen, die er auf der anderen Seite der Schranke zu sehen bekommt. So wie an diesem Tag den Zuhälter und Gewalttäter.

„Wirklich ein unheimliches Individuum. Zu allem imstande.“

„Schrecklich!“ sagt die Mutter entsetzt. „Daß so einer bloß nicht einmal auf den Gedanken kommt, dich zu überfallen! Du mußt mir versprechen, vorsichtig zu sein, Edvard. Komm ihnen bloß nicht zu nahe!“

„Zwischen uns ist doch die Schranke. Und die Polizisten. Es besteht also keine Gefahr. Obwohl es schon vorgekommen sein soll, daß ein Richter im Gerichtssaal überfallen wurde.“

Edvard ist jedoch nicht der Mann, der Angst hat. Seine Mutter ist nur allzugern bereit, den Mut ihres Sohnes zu bewundern und sich wegen seines gefährlichen Berufs zu ängstigen. Und er neckt sie ein wenig, wenn er ihr ausmalt, wozu ein Gewalttätiger imstande sein kann.

Edvard Ellerstrøm mag es vielleicht ein bißchen schwerfallen, einen Zuhälter zu begreifen. Aber er hat ja sein Examen und kennt sich in den Gesetzen aus. Er hat sieben Jahre lang juristische Vorlesungen gehört, und Repetitoren haben sein Gedächtnis trainiert und ihm Stichworte und Mnemotechnik eingepaukt. Er weiß, mit welchem Strafmaß Zuhälterei und Gewalttätigkeit zu belegen sind, und falls er es vergessen haben sollte, kann er das Gesetzbuch zu Hilfe nehmen.

Er schickt Prostituierte in Gefängnisse und Anstalten. Er mißt Dieben und Herumtreibern die ihnen gebührenden Strafen zu. Man kann von einem Richter doch wohl nicht verlangen, daß er selbst einmal ausprobiert hat, wie es ist, ein Herumtreiber zu sein.

Frau Ellerstrøm ist ein wenig bekümmert, daß ihr Sohn in so viel Häßliches Einblick bekommt. Er, der zuvor nur gute und gesittete Menschen kennengelernt hatte.

Sie weiß allerdings nicht, in was er Einblick bekommt, wenn er die Zeitschrift des Reichsgerichts liest. Und sie weiß auch nichts von den seltsamen Büchern, die ihr Sohn heimlich liest. Er liest sie unter der Bettdecke, beim Schein einer Taschenlampe, damit sie nicht sieht, daß bei ihm noch Licht brennt, und ihn eventuell bei seinem Vorhaben überrascht.

Er ist dreiundvierzig Jahre alt. Und er wird sich am Abend mit etlichen gleichaltrigen Herren treffen.

Die Haushilfe hat schon sein gestärktes Manschettenhemd auf dem Bett bereitgelegt. Und Frau Ellerstrøm bindet ihm die Krawatte. Er muß sich zu ihr hinabbeugen, damit sie das kann.

„Du darfst nicht so kitzeln!“ sagt er und kichert.

„Aber sie muß doch ordentlich sitzen“, entgegnet sie. „Es sieht scheußlich aus, wenn eine Krawatte schief sitzt. Hast du deinen Hals auch ordentlich gewaschen? Hier ist ein sauberes Taschentuch! Und komm auch nicht so spät nach Hause! Denk daran, daß du morgen schon um neun Uhr im Gericht sein mußt. Du weißt, du brauchst deinen Schlaf. Sonst bekommst du wieder diese furchtbaren Kopfschmerzen.“ Sie träufelt ein wenig Eau de Cologne auf sein sauberes Taschentuch. „Hier stehen deine Schuhe. Das Mädchen hat sie geputzt. Jetzt hättest du doch beinahe vergessen, sie anzuziehen, und wärst in Hausschuhen losgegangen. Hast du den Haustürschlüssel? Steckt er auch nicht in der anderen Hose? – Also dann, auf Wiedersehen, mein Junge. Amüsier dich gut. Und paß schön auf dich auf!“

6. Kapitel

Eine Schar junger Mädchen fährt auf Rädern die Landstraße entlang. Sie tragen alle die gleichen gelben Blusen und grünen Halstücher. Sie sind rank und schlank und unbefangen und singen beim Fahren: „Frank und frei, Jugend voran!“

Das ist die J. A. der Gemeinde. Ein neugegründeter Verband, der, falls die Rechnung aufgeht, im Laufe der Zeit zu einem ernsthaften Konkurrenten des Sportvereins werden soll.

„J. A. – welch herrlichen Klang hat doch dieser Name!“ schreibt Pfarrer Nørregaard-Olsen in der Kirchenzeitung. J. A., das bedeutet Jugendabteilung. Das sind junge Mädchen, die zum Konfirmandenunterricht gehen und nur schlecht nein sagen können, wenn der Pfarrer darauf dringt, daß sie dort Mitglied werden. Die gelbe Uniform kostet acht Kronen. Das ist für einen Landarbeiter oder Häusler viel Geld. Die Eltern der J. A.-Mädchen sind über diesen Verband nicht gerade begeistert. Es kommt vor, daß manche die teure Uniform nicht bezahlen wollen und auch nicht damit einverstanden sind, daß ihre Tochter dort eintritt.

Doch dann sucht die Pfarrersfrau sie auf und redet ihnen ins Gewissen und gibt sich schlicht und einfach.

„Natürlich ist das freiwillig. Aber wenn Anna sich nun einmal damit einverstanden erklärt hat und sich auch schon hat eintragen lassen, dann kann sie jetzt doch wirklich nicht kommen und ihr Wort brechen. Ein Wort ist schließlich ein Wort. Und acht Kronen sind wahrhaftig nicht zuviel. Wenn nicht anders, können sie ja auch ratenweise bezahlt werden.“

Es ist gar nicht so einfach, sich gegen die Pfarrersfrau, die so freundlich und geradezu ist, zu behaupten. Ihr Schwager ist Eigentümer des Sportgeschäfts, das die J. A.-Uniformen herstellt. Und ihr ist wohl auch an einem guten Umsatz gelegen.

Die J. A. hat in der Kirchenzeitung eine eigene Rubrik, wo mitgeteilt wird, wann Treffen, Nähzirkel, Basare, Ausflüge, Sommerlager und Zusammenkünfte mit J. A.-Kaffee und J. A.-Kringel im herrlichen alten Garten des Pfarrhofs stattfinden. Die Eltern werden aufgefordert, den J. A.-Mitgliedern ein paar Kaffeebohnen und selbstgebackenen Kuchen mitzugeben. Davon bleibt immer etwas übrig, was dann dem Pfarrhaushalt zugute kommt.

„Und deshalb bitten wir Gott, daß er unsere Zusammenkunft segne.“

Mit dem neuen Pfarrer hat ein neuer Geist in der Gemeinde Einzug gehalten. Er ist voller Initiative und Rührigkeit. Am Sonntag werden die J. A.-Mitglieder in einer der drei Kirchen des Pfarrsprengels einen Aufmarsch veranstalten. Es ist ein prächtiger Anblick, wenn die Jugend frank und forsch in das Gotteshaus einmarschiert, um Seite an Seite mit den älteren Kirchgängern die Predigt anzuhören. Zwar ist noch gegen eine gewisse Lustlosigkeit zu Felde zu ziehen, gegen Gleichgültigkeit und Unverständnis, ja sogar gegen Widerwillen, aber das wird schon alles überwunden werden. Denn die Großen der Kirchgemeinde unterstützen den Pfarrer und seine Unternehmungen. Die Gutsbesitzer und Großbauern haben bis zu zehn Kronen zur Stützung der Kirchenzeitung gespendet und öffnen Pfarrer Nørregaard-Olsen ihr Heim.

Und der Geistliche ist selbst ein gastfreier Mann. Der große Pfarrhof bietet genügend Platz für Geselligkeiten. Und man kann es sich auch leisten. Die Frau des Pfarrers hat Geld mit in die Ehe gebracht. Man kann also standesgemäß leben.

Die J. A.-Mitglieder, die sich im Garten des Pfarrhofes versammeln und hier bei gemeinschaftlichem Gesang und Gebet und lustigen Gesellschaftsspielen gemütliche Stunden verbringen, und die Damen des Nähzirkels, die sich in den geräumigen Zimmern zu Andacht, Kaffee und mitgebrachtem Kuchen treffen, sind nicht die einzigen Gäste. Es finden auch kultiviertere Gesellschaften statt. Große Festessen, zu denen die Spitzen der Gesellschaft dieser Gegend in ihren blitzenden Autos vorfahren. Mit auserlesenen Gerichten, wohltemperiertem Rotwein, altem Sherry, guten Zigarren und gepflegter Unterhaltung.

Pfarrer Nørregaard-Olsen ist ein Geistlicher der neuen Zeit. Nicht so einer mit langer, sauer riechender Pfeife, Käppchen und salbungsvollen Reden. Er ist ein schlanker, durchtrainierter Mann. Ein Mann mit Organisationstalent und modernem Unternehmungsgeist.

Im Pfarrhaus gibt es schöne Möbel und vorzügliche sanitäre Einrichtungen. Alles verrät einen gediegenen Geschmack. Das Stubenmädchen trägt ein schwarzes Kleid und ein weißes Häubchen und Schürzchen. Es herrscht ein kühler, gebildeter Ton, der jede plebejische Zudringlichkeit auf Abstand hält.

Pfarrer Nørregaard-Olsen ist dreiundvierzig Jahre alt.

„Eigentlich müßte man seine gute alte Studentenmütze aufsetzen, wenn man heute abend in die Stadt fährt“, sagt er. Und er holt die Mütze von ihrem Platz oben auf dem Bücherschrank. Er trägt sie auch manchmal hier draußen auf dem Lande, wenn er spazierengeht oder mit dem Fahrrad einen Ausflug in die Natur unternimmt. Das sieht fesch und jugendlich aus. Und er ist ja auch noch ein junger Mann. Und zudem noch ein Sportler. Ein Pfarrer braucht doch wahrhaftig kein Trauerkloß zu sein.

Er setzt die Studentenmütze auf und singt mit hoher, klarer Stimme, daß man es in den zahlreichen Räumen des Pfarrhofes hört: „Im Schloß der Gedanken wohnt froh der Student, tralalalala …“

„Aber sie ist ja ganz verstaubt, sie muß erst ordentlich abgebürstet werden, bevor du sie aufsetzen kannst“, sagt die Pfarrersfrau und klingelt nach dem Stubenmädchen.

Und der Pfarrer singt: „Den Burschenhut bedeckt der Staub, domdomdomdomdomme – O Jerum, jerum, jerum, o quae mutatio rerum!“

Die gnädige Frau lacht. „Du bist ja völlig aus dem Häuschen!“

Die Kinder lachen auch, und der Vater singt weiter. „Doch warst du wirklich ein Student …,“

„Ja, du siehst wirklich noch aus wie ein Student“, stellt die gnädige Frau fest.

„Das will ich auch gehofft haben“, sagt ihr Mann. „Ach, es tut gut, die alten Burschen einmal wiederzusehen! So richtig herzerwärmend gut!“

Und er zieht seinen Gesellschaftsanzug und die Lackschuhe an, sucht sich im Garten eine Rose aus und steckt sie sich ins Knopfloch. Und singend startet er das Auto, um von seiner abgeschiedenen Landgemeinde zu dem Treffen in Kopenhagen zu fahren.

7. Kapitel

Im Frühstücksraum der Universität in der Studiestræde saß ein Mann mit Namen Mikael Mogensen.

Er saß dort schon seit fünfundzwanzig Jahren. Er hatte seinen Stammplatz in der Ecke am Büfett, wo der eingeschenkte Kaffee ausgegeben wurde. Durch das Fenster zur St. Pedersstræde konnte er die Zeiger der Kirchturmuhr verfolgen und so feststellen, daß draußen in der Welt die Zeit verging.

Wechselnde Generationen von Studenten verzehrten im Frühstücksraum ihre Butterbrote und tranken Kaffee dazu. Sie betrachteten Mikael Mogensen mit einer gewissen Ehrerbietung und respektierten seinen Eckplatz. Und die Studenten machten ihr Staatsexamen, und neue Jahrgänge erschienen und aßen Butterbrote und tranken Kaffee. Und keiner von ihnen konnte sich den Frühstücksraum ohne Mikael Mogensen vorstellen. The grand old man dieses Raumes. Vielleicht hatte er einmal irgend etwas studiert. Meistens lagen ein paar Bücher vor ihm. Doch in einer Vorlesung war er noch nie gesehen worden. Er hatte langes, ungepflegtes Haar, einen langen Vollbart und trug eine kleine altmodische Brille mit Metallgestell. Ruhe und Würde lagen über seiner Person.

Jeden Herbst kamen neue Studenten, und alte verschwanden. Jahrgang folgte auf Jahrgang. Die Gäste des Frühstücksraums veränderten ihr Aussehen.

Mikael Mogensen aber saß auf seinem anerkannten Platz in der Ecke beim Fenster. Unverändert und zeitlos. Und er trank Kaffee und verfolgte die Zeiger der Kirchturmuhr.

Die Nacht verbrachte er sicherlich irgendwo anders, aber sein eigentliches Zuhause war der Frühstücksraum, und wollte ihn jemand sprechen, dann mußte er ihn hier aufsuchen.

Und eben jetzt wollte man ihn sprechen. Zwei Herren mit Aktentasche, Mitglieder eines Komitees, erschienen eines Tages im Frühstücksraum und näherten sich Mikael Mogensens Ecke.

„Dieser Tisch ist besetzt, meine Herren“, sagte Mogensen. „Man legt Wert darauf, seinen Kaffee ungestört zu trinken und von der Unterhaltung und dem eventuellen Schmatzen fremder Leute verschont zu bleiben.“

„Aber wir sind keine Fremden. Erkennst du uns denn nicht, Mogensen?“

Er betrachtete sie kurzsichtig durch seine kleinen, in Blech gefaßten Brillengläser.

„Ich glaube nicht, das Vergnügen gehabt zu haben. Ich erinnere mich auch nicht, mit den Herren Brüderschaft getrunken zu haben, und würde es deshalb vorziehen, sofern diese Unterhaltung unbedingt weitergeführt werden muß, daß die unter gebildeten Menschen übliche Pluralisform der Anrede benutzt wird.“

Die Herren lachten. „Du bist immer noch der alte. Ein richtiges Unikum. Erkennst du uns wirklich nicht? Das ist Horn – Harald Horn –, und ich bin Knud Jørgensen.“

„Ach so. Dann muß man Sie wohl bitten, Platz zu nehmen“, erwiderte Mogensen. „Die Herren sind gar nicht so leicht wiederzuerkennen. Man hat sich einen Bauch zugelegt, Jørgensen. Und dem Literaten sind die Haare ausgefallen. Man liest mitunter im ,Morgenbladet‘ Ihre literarischen Absonderungen, Horn. Ziemlich mittelmäßig geschrieben. Aufsatzstil eines Musterschülers. Aber strebsam. Sehr strebsam.“

Die Herren lachten. Harald Horn ein bißchen gezwungen und mit rotem Kopf.

„Und womit beschäftigt sich Jørgensen? In Anbetracht der Entwicklung seines Bauches scheint es nichts Anstrengendes zu sein.“

„Ich administriere den Staat“, antwortete Jørgensen. „Ich bin, in aller Bescheidenheit, Ministerialrat im Innenministerium.“

„Das ist sicher eine Arbeit, für die deine Fähigkeiten ausreichen. Im Gegensatz zu Horns Gewerbe. Man las ein bißchen in seiner Doktorarbeit über die Adverbien in Holbergs Episteln. Ein interessantes Thema. Lebenswichtig und bedeutungsvoll.“

„Es kann schon von einer gewissen Bedeutung sein, wenn man auf diesem Wege dazu beiträgt, Holbergs Dänentum zu beweisen“, rechtfertigte sich Horn.

„Selbstverständlich. Laßt uns um Gottes willen Holbergs adverbiales Dänentum bis zum letzten Blutstropfen verteidigen! Literaturgeschichte ist sicherlich am besten, wenn sie national ist. Und ein nationaler Literat zu sein macht sich wohl auch besser bezahlt als Ministerialrat?“

„Bestimmt“, pflichtete ihm Jørgensen bei.

„Darf der Literat eine Tasse Kaffee oder ein Bier ausgeben?“ erkundigte sich Horn versöhnlich.

„Für mich bitte Kaffee.“

„Auch belegte Brote?“

„Ich ziehe Gebäck vor. Am liebsten eine sogenannte Medaille. Das sind diese runden Törtchen mit Cremefüllung und einem viereckigen Stück Konfitüre obendrauf. Sie werden übrigens auch immer kleiner.“

„Weißt du eigentlich, Mogensen, daß du nun schon seit fünfundzwanzig Jahren hier auf deinem Stuhl sitzt?“ fragte der Ministerialrat.