Buchcover

Poul Nørgaard

Lone und der Vagabund

SAGA Egmont




1

Als Lone aus der Schule nach Hause kam, fand sie einen Brief vor. Sie kannte die Schrift, der Brief war von Tjep. Ohne sich erst den Mantel auszuziehen, warf sie sich in einen Sessel und begann zu lesen:

Liebe Lone,

wie Du ja selbst weißt, ist der reizende Mensch, mit dem ich verheiratet bin, schon immer leicht irre gewesen, aber jetzt ist er völlig übergeschnappt. Setz Dich hin und hör Dir an, was er neuerdings ausgebrütet hat. Kürzlich las er in der Zeitung, daß jemand einen alten Möbelwagen zum Verkauf anbot. Den hat er gekauft. Daß er sich das überhaupt nicht leisten kann, spielt für ihn, wie Du Dir wohl denken kannst, nur eine ganz untergeordnete Rolle, und falls Du etwa glaubst, er habe vor, ein Möbeltransportgeschäft aufzumachen, dann täuschst Du Dich gewaltig. Er hat andere Pläne, sofern man die Einfälle, die in seiner Rumpelkammer von einem Kopf herumspuken, überhaupt als Pläne bezeichnen kann. Er will, daß wir in diesem Monstrum den ganzen Sommer über wohnen sollen, und zur Zeit ist er eifrig damit beschäftigt, den Wagen in ein rollendes Sommerhaus zu verwandeln. Übrigens macht er das großartig! Er hat Fenster hineingesägt, Schlafstellen eingerichtet, eine Küche und was weiß ich noch alles. Sinn für Farben hat er ja, der komische Kauz; malen kann er auch, und auf diese Weise ist der Wagen tatsächlich so gemütlich geworden, daß ich mich geradezu darauf freue, einzuziehen.

Eigentlich habe ich gar keine Zeit dazu, Dir zu schreiben, denn ich habe alle Hände voll damit zu tun, Gardinen zu nähen und auch sonst zu helfen, wo ich kann. Aber da Du und Kirsten in den Sommerferien mit uns in diesem Apparat wohnen sollen, muß ich Dich ja rechtzeitig darauf vorbereiten.

Glaub bloß nicht, daß wir irgendwo faul am Strand liegen werden. Jakob hat das Ding auf den klingenden Namen »Vagabund« getauft und ihn mit großen Buchstaben vorn und hinten draufgemalt. Er sagt, er wolle »etwas erleben«. Als ob wir nicht schon mehr als genug erlebt hätten – das werden Du und Kirsten gewiß bestätigen können! Mir hat es in meiner langjährigen Ehe mit diesem närrischen Menschen jedenfalls nicht an »Erlebnissen« gefehlt.

Ich freue mich schrecklich und hoffe, Ihr werdet es auch tun.


Deine völlig durchgedrehte

Tjep

P.S. Zieh die ältesten Kleider an, die Du hast.

Ganz unten auf der Seite hatte der Kunstmaler mit seiner großen und fast unleserlichen Klaue hinzugefügt:

Daß Tjep nicht ganz bei Troste ist, brauche ich Dir wohl nicht zu erzählen, dazu kennst Du sie gut genug. Findest Du meine Idee nicht großartig? Wann und wo wir uns zu unserer Rundfahrt treffen, werde ich Dich schon rechtzeitig wissen lassen! Halte Dich bereit!

Dein ergebenes Genie

Jakob Langaa

P.S. Dieses Autogramm darf nicht verkauft werden.

»Was ist denn da so komisch?« rief Kaufmann Berggren vom Laden her. Lone lief hinüber, um ihm den Brief zu zeigen. »Guck bloß mal, Vater«, begann sie, doch dann wurde ihre Stimme schon wieder von einem Lachanfall erstickt.

Der neue Gehilfe, Herr Mortensen, wog gerade Zucker ab. Er preßte die Lippen aufeinander und gab sich die größte Mühe, ernst zu bleiben. Da stieß er an eine Tüte – und schon war der ganze Boden mit Zucker bedeckt.

»Schöne Bescherung!« entfuhr es Herrn Berggren ärgerlich.

Pling-plang machte die Ladenglocke, und eine dicke Bäuerin mit einem Korb am Arm und einem kleinen Jungen an der Hand kam herein. „Was darf’s sein, Frau Olsen?” Der Zucker knirschte unter Berggrens Füßen, und nun konnte Lone ihr Lachen nicht länger beherrschen; sie ließ sich auf einen Sack Kartoffeln plumpsen, mit dem Ergebnis, daß er umfiel.

„Nein, jetzt reicht’s aber!” rief ihr Vater. „Mach, daß du ‘rauskommst, bevor du den ganzen Laden auf den Kopf stellst!”

Der Junge klatschte vor Begeisterung in die Hände, als Lone zwischen die Kartoffeln purzelte, die polternd unter den Ladentisch rollten. „Oh, Mutti, sieh nur, das ist beinahe wie im Zirkus.”

Der Gehilfe gab ein Grunzen von sich, sein Gesicht war ganz rot angelaufen. Er versuchte noch immer, das Lachen zu unterdrücken. Die Bäuerin sah mit erstaunten Augen von einem zum andern. Der Gehilfe stand da und würgte wie ein Huhn, das sich verschluckt hat; Lone saß mitten in den Kartoffeln und lachte, daß ihr die Tränen nur so die Backen herunterkullerten. Worüber die beiden eigentlich lachten, wußte die Frau nicht, aber Lones Gelächter war so ansteckend, daß die Bäuerin einfach mitlachen mußte; nun konnte auch der Kaufmann nicht länger ernst bleiben.

So fand Oberst Bark den sonst so ruhigen kleinen Gemischtwarenladen vor, als er, mit „Pulver” und „Blei” im Gefolge, eintrat.

„Großartig! Brillant!” rief er und stieß seinen Stock auf den Boden, als er das wilde Gelächter hörte. „Gesund für die Lungen!” Worauf er in den Jubel mit einem Gebrüll einstimmte, das die anderen völlig übertönte. Er hatte keine Ahnung, worüber sie lachten, und das interessierte ihn auch nicht; er lachte nur, weil die andern lachten.

Bei dem Donnergebrüll des Obersten war der Junge erschrocken zusammengefahren, doch dann stieß er einen entzückten Schrei aus, als er die beiden Dackel eifrig kläffend durch den ganzen Laden stürmen und auf die Kartoffeln Jagd machen sah.

Aber jetzt kamen andere Kunden, und Herr Berggren brachte Entschuldigungen und Erklärungen vor. Nachdem er Lone endlich hinausgeschleust hatte, kam allmählich wieder Ruhe in den Laden.

„Brillantes Mädel, brillantes Mädel!” stöhnte der Oberst und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. „Worüber haben wir eigentlich gelacht?” Darauf konnte ihm niemand eine Antwort geben. „Na, geben Sie mir eine Kiste Zigarren von den üblichen, Berggren. Nein, Sie brauchen sie nicht einzupacken.” Worauf er mit jenem ein wenig steifen, breitbeinigen Gang, der für alte Reiter so bezeichnend ist, davonstolperte, die Zigarrenkiste unter dem Arm. „Pulver” und „Blei” folgten ihm auf den Fersen.

Es dauerte eine Weile, bis die Kunden bedient worden waren und der Kaufmann und sein Gehilfe wieder Ordnung in das Geschäft gebracht hatten.

Inzwischen hatte Lone den Nachmittagskaffee gekocht.

„Es wird wirklich Zeit, daß du lernst, dich ein bißchen zu beherrschen, Lone”, sagte Herr Berggren, als er kurz darauf ins Wohnzimmer kam. – „Worüber hast du eigentlich gelacht?”

„Hier, lies nur mal, Vati.” Sie reichte ihm den Brief.

Er setzte sich die Brille auf und begann zu lesen.

„Ja, wenn von denen ein Brief kommt, bin ich sowieso schon auf alles gefaßt”, sagte er, nachdem er lachend zu Ende gelesen hatte. „Die sind beide völlig verdreht.”

Lone sah ihn fragend an. „Darf ich?”

„Ob du darfst?” Er schob die Brille in die Stirn und warf ihr einen erstaunten Blick zu. „Als ob ich noch was zu sagen hätte, wenn ihr drei euch zusammengerottet habt.”

Sie flog ihm an den Hals. „Du bist der liebste Vater in der ganzen Welt.”

Er machte sich behutsam frei. „Das dürfte zwar übertrieben sein, aber wenn du deinen alten Vater gern hast, mein Kind, dann bin ich zufrieden. Ich habe mir jedenfalls alle Mühe gegeben, dir deine Mutter zu ersetzen, die du ja leider nie gekannt hast. Sie war ebenso liebevoll und fröhlich wie du. – Aber schließlich haben wir es dem Maler Langaa, dieser verrückten Nudel, zu verdanken, daß es uns jetzt so gut geht. Denn als ich ihn das erste Mal traf, war es nicht allzu rosig um uns bestellt. Prächtigere Menschen als ihn und Tjep kann man sich schwerlich vorstellen, da hast du völlig recht.”

„Und was für spaßige Einfälle die immer haben”, lachte Lone. „Ich werde ihnen gleich schreiben. Oh, wie ich mich freue!”

Es wurde ein langer Brief. Während sie ihn schrieb, versank Lone immer wieder in Gedanken. Sie rief sich die vielen Erlebnisse ins Gedächtnis zurück, die sie mit dem lebensfrohen Kunstmaler und seiner ebenso netten Frau gehabt hatte. Sie mußte an die spannende Schmugglerjagd in den Sommerferien denken, als sie in Vestervig bei Langaas zu Besuch war, und an den Schiffbruch in den Herbstferien. Dann waren sie und Kirsten mit den beiden in Tirol gewesen. Hu, wie unheimlich die alte Geisterburg in jener Nacht im Mondschein ausgesehen hatte!


An Kirsten würde sie natürlich auch schreiben, sie hatte das ja alles miterlebt. Damals, vor einigen Jahren, hatte die Welt traurig für sie ausgesehen, aber dann war sie für die ganzen Sommerferien auf das große Gut Ravenstrup, das Kirstens Vater gehörte, eingeladen worden. Seitdem war Kirsten Winge nun ihre beste Freundin, und obwohl Kirsten auf Fünen wohnte und Lone in Nordseeland, hatten sie seit jener Zeit ihre Ferien fast immer gemeinsam verbracht.

2

„Was mag denn hier bloß los sein?” rief Lone aus, als sie und Kirsten vom Bahnhof der jütländischen Provinzstadt, wo sie sich mit dem Maler und Tjep verabredet hatten, auf die Straße hinaustraten. Es herrschte ein derartiges Gewimmel von Kindern und jungen Leuten, daß sie sich kaum hindurchdrängeln konnten.

„He! Hallo! Lone, Kirsten!” ertönte in diesem Augenblick eine gewaltige Stimme, und da gewahrten die Mädchen auch schon die riesige Gestalt des Malers, der alle anderen mit seinem rotbärtigen Kopf weit überragte und sich mit rudernden Armen einen Weg zu ihnen bahnte.

„Guten Tag, guten Tag!” riefen die Mädchen wie aus einem Munde. „Und vielen Dank, daß … “ Doch der Maler unterbrach sie. „Keine Zeit für Höflichkeiten”, sagte er und nahm ihnen die Koffer ab, „jetzt müssen wir vor allen Dingen sehen, daß wir von hier verschwinden. Kommt!” Damit schob er sich wie ein Eisbrecher durch den Menschenschwarm, und die beiden verwirrten Mädchen folgten ihm dicht auf den Fersen. „Die Polizei ist hier”, erläuterte er über die Schulter hinweg. „Ich darf hier nicht halten, weil wir einen Auflauf verursachen.”

Das ist auch nicht weiter verwunderlich, dachte Lone, als sie das sonderbare Fahrzeug sah, um das sich die Leute drängten. Es war ein großer und sehr altmodischer Möbelwagen. Das eigentlich Bemerkenswerte daran war jedoch die ungewöhnliche und höchst eigentümliche Einrichtung und Bemalung. Aus dem Dach ragte ein langes Ofenrohr hervor; an beiden Seiten des Wagens waren zwei Fenster ausgesägt und mit Gardinen verhängt, und an der Rückseite befand sich eine Tür, zu der eine Klappleiter hinaufführte, die man während der Fahrt hochziehen konnte. Das auffallendste an dem ganzen Fahrzeug aber war seine Farbenpracht. Der vordere Teil war grün angestrichen, was, wie der Maler später erläuterte, gut für die Augen sei, und auf der Vorderseite und der Rückseite stand mit großen Buchstaben: Vagabund. Darüber hinaus war der ganze Wagen wie ein großes Landschaftsgemälde mit blauem Himmel, Wald, Strand und grünen Feldern dekoriert, und über allem strahlte eine mächtige zitronengelbe Sonne. Denn, so sagte Jakob Langaa: „Es ist gut, Sonnenschein von zu Hause mitzunehmen, falls man unterwegs in Regen geraten sollte.”

„Das ist der Zirkusdirektor selbst”, flüsterte ein kleiner Junge seinem Kameraden ehrfürchtig zu, als der Maler sich dem Wagen näherte. „Traust du dich, ihn zu fragen?”

„Macht ihr heute abend Zirkus?” ließ sich eine laute Jungenstimme vernehmen.

„Nein”, brummte der Maler. „Wir graben nach Gold.”

Die Augen des Jungen wurden so groß wie Teetassen.

„Au, hast du das gehört, Egon? Das sind richtige Goldgräber.”

Eine goldbetreßte Mütze tauchte im Gewimmel auf.