Über das Buch

»Wenn ich Erlösung suchte, dachte ich, wie könnte Erlösung aussehen?« Francisco Cantú, Enkel mexikanischer Einwanderer, hat Politik studiert – doch nur in der Theorie zu verstehen, was Grenzen bedeuten, reicht ihm nicht. So trifft er mit zweiundzwanzig Jahren eine folgenschwere Entscheidung: Um am eigenen Leib zu erfahren, was an der Grenze wirklich geschieht, schließt er sich dem Grenzschutz, der United States Border Patrol, an. Mit seinen Kollegen harrt er in der Wüste aus, spürt Schmuggler auf, versorgt Verletzte, schiebt Illegale ab, nimmt in Kauf, dass Familien auseinandergerissen werden. Wie die Geschichten der Menschen weitergehen, deren Wege er kreuzt, blendet er lange Zeit aus, bis die eigenen Zweifel angesichts der Gewalt auf beiden Seiten der Grenze zu groß werden.

Kann man schuldlos schuldig werden? No Man’s Land mutet an wie eine Tragödie und bildet doch die Realität ab, ungeschönt, grausam und zutiefst berührend. Dies ist das Buch über Grenzen, das man gelesen haben muss.

Francisco Cantú

No Man’s Land

Leben an der
mexikanischen Grenze

Aus dem Englischen von
Matthias Fienbork

Carl Hanser Verlag

Meiner Mutter und meinem Großvater,

die mir das Leben und einen Namen geschenkt haben,

und all jenen, die unter Lebensgefahr
eine unnatürliche Grenze überqueren oder bewachen

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Dieses Buch ist ein Memoir. Es erzählt eine wahre Geschichte und basiert, nach bestem Wissen und Gewissen, auf den Erinnerungen des Autors. Die Namen und Eigenschaften einiger Personen, die in diesem Buch genannt werden, wurden geändert, um deren Privatsphäre zu schützen. In einigen Fällen hat der Autor aus erzählerischen Gründen Nebencharaktere miteinander kombiniert und Ereignisse und Zeiträume neu zusammengesetzt und/oder komprimiert. Die Dialoge wurden so rekonstruiert, dass sie die Erinnerungen des Autors an die jeweiligen Gespräche so authentisch wie möglich wiedergeben.

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Prolog

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Meine Mutter und ich fuhren in östlicher Richtung durch das westtexanische Flachland, über uralten Meeresgrund. Wir hatten beschlossen, Thanksgiving in dem Nationalpark zu verbringen, in dem meine Mutter als Ranger gearbeitet hatte, in jenen Jahren, mit denen ich meine frühesten Kindheitserinnerungen verbinde – Bilder von bewaldeten Canyons und senkrecht aufragenden, kahlen Bergen, das Geräusch des Winds, der über flache Wüstenhügel blies, die glühende Sonne über einer endlosen Steppe.

Als wir in der Nähe der Guadalupe-Berge an weitläufigen Salzpfannen vorbeikamen, bat ich meine Mutter, anzuhalten. Sie fuhr rechts heran, wir stiegen aus und gingen über den verkrusteten Boden. Weiter nördlich waren die Guadalupe-Berge zu sehen, Überreste eines urzeitlichen Riffs, das einst von einem riesigen Binnenmeer bedeckt war. Der kühle Novemberwind fühlte sich an, als stünde man in einer leichten Flussströmung. Ich beugte mich hinunter, um ein Stückchen des weiß verkrusteten Erdbodens abzubrechen, zerrieb es zwischen den Fingern und hielt die Zunge daran. Es schmeckt salzig, sagte ich zu meiner Mutter.

Im Besucherbüro des Parks warteten wir, während eine uniformierte Frau hinter dem Tresen zwei Besuchern Informationen über Campinggebühren und Wanderwege gab. Als sich die beiden zum Gehen wandten, schaute die Frau herüber zu uns und strahlte plötzlich über das ganze Gesicht. Sie kam herbeigelaufen, umarmte meine Mutter und trat dann einen Schritt zurück, um mich zu mustern. Ay mijito, als wir uns zuletzt gesehen haben, warst du gerade mal so groß. Sie hielt die Hand in Kniehöhe. Seid ihr immer noch in Arizona?, fragte sie. Meine Mutter schon, sagte ich, aber ich bin nach Washington gezogen, um da zu studieren. Nach Washington? Qué impresionante. Und was studierst du? Internationale Beziehungen, sagte ich. Er studiert die Grenze, fügte meine Mutter hinzu. Auf dem Rückweg wollen wir in El Paso Station machen und uns Ciudad Juárez ansehen.

Seid vorsichtig, sagte die Frau. Juárez ist gefährlich. Sie schaute mich an und legte mir schließlich die Hand auf die Schulter. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als du ein kleiner chamaquito warst und ich dein Babysitter war. Du wolltest Cowboy werden, das war dein Traum. Du hattest Cowboystiefelchen und einen Cowboyhut, du bist mit meinen Jungs herumgerannt, ihr hattet kleine Plastikpistolen, mit denen ihr euch gejagt habt. Meine Mutter lachte. Daran kann ich mich auch noch gut erinnern, sagte sie.

Am nächsten Morgen standen meine Mutter und ich früh auf, denn wir wollten in dem Canyon wandern, der bis zur bewaldeten Rückseite der Guadalupe-Berge führte. Unterwegs verwandelte sich meine Mutter wieder in einen Guide, sie zeigte auf die zitternden gelben Blätter eines Großzahnahorns und berührte die glatte rote Rinde eines Erdbeerbaums. Auf einem Grashalm entdeckte sie die getrocknete Hülle einer Libellenlarve, die sie vorsichtig in die Hand nahm und von allen Seiten betrachtete. Sie erzählte von dem schimmernden Insekt, wie es seine Haut abstreift, um sich vom Wind davontragen zu lassen. Fast ehrfürchtig sprach sie von der Kreatur, deren Überreste sie wie einen heiligen Gegenstand in Händen hielt. Libellen wandern wie Zugvögel, sagte sie, sie können endlos lange mit ihren hauchdünnen Flügeln schlagen, sie fliegen über weite Ebenen, über Bergketten, über das offene Meer.

Meine Mutter setzte sich auf einen Fels am Bach, zog Schuhe und Socken aus, krempelte die Hose bis zu den Knien hoch und stieg ins Wasser, das so kalt war, dass sie die Schultern hochzog. Sie forderte mich auf, es ihr gleichzutun, doch ich schüttelte den Kopf, ich wollte lieber im Halbschatten sitzen. Meine Mutter stieg über Felsen und abgebrochene Äste, zeigte auf eine Wurzel, über die das Wasser hinwegfloss, auf ein Fleckchen grünes Gras, das von der Sonne beschienen wurde. Sie beugte sich hinunter, hielt die Hände ins Wasser und rieb sich das Gesicht. Während ich Ahornblätter vom Boden auflas, holte sie ein paar Kalksteine aus dem Bach. Komm, rief sie mir zu, berühr das Wasser.

Abends saßen wir in einer Forschungsstation und aßen vorgekochte Truthahnbrust mit Instant-Füllung. Ich fragte meine Mutter, warum sie seinerzeit zu den Park Rangers gegangen war. Sie stocherte mit der Gabel in einem Stück Füllung. Ich habe mich dafür entschieden, sagte sie, weil ich im Freien sein wollte, weil mir die Natur guttat. Ich hatte die Hoffnung, dass ich als Park Ranger den Leuten ein Gespür für die Natur vermitteln, ihr Umweltbewusstsein schärfen könnte. Sie schaute von ihrem Teller hoch. Ich wollte das Land vor Zerstörung bewahren, sagte sie, ich wollte die Orte schützen, die mir so viel bedeuten. Und wie siehst du das heute, fragte ich, im Rückblick? Meine Mutter legte die Gabel hin und strich mit dem Finger über die Tischkante. Weiß ich noch nicht, sagte sie.

Am nächsten Tag fuhren wir in Richtung Westen, erreichten abends El Paso. Ich sah die Lichter, die sich weit über das Wüstental erstreckten, und versuchte zu erkennen, wo die Vereinigten Staaten aufhörten und Mexiko anfing. Der Rezeptionist in unserem Motel machte Smalltalk mit meiner Mutter. Was führt Sie nach El Paso?, fragte er. Mein Sohn beschäftigt sich in seinem Studium mit der Grenze, sagte meine Mutter und lächelte. Mit der Grenze? Der Mann schaute uns über den Brillenrand hinweg an. Ich werde Ihnen mal was über die Grenze erzählen. Er zeigte durch die Glastür auf eine grüne Anhöhe hinter dem Parkplatz. Sehen Sie, dort? Früher habe ich beobachtet, wie sich nachts das Gras bewegte. Bald habe ich verstanden, dass es nicht der Wind war, der das Gras bewegte, sondern Illegale, die über die Grenze gekommen waren. Aber das Gras bewegt sich kaum noch, wenn Sie wissen, was ich meine. Heutzutage sieht man keine Illegalen mehr auf unseren Grundstücken herumschleichen. Meine Mutter und ich nickten unsicher, aber der Mann lachte nur und gab uns die Zimmerschlüssel.

Am nächsten Morgen stellten wir den Wagen an der Santa-Fé-Street-Brücke ab und gingen in Richtung Grenze. Wir folgten einem dichten Strom von Grenzgängern auf einem käfigartigen Fußgängerweg über die betonierten Ufer des Rinnsals namens Rio Grande, der El Paso von Ciudad Juárez trennt. Kurz vor dem anderen Ende der Brücke bemerkte ich einen Mann mit geröteten Augen, der sich von seiner Frau und seinem Sohn verabschiedete. Der Junge stand weinend an einem quietschenden Drehkreuz, während seine Eltern sich lange umarmten. Auf der anderen Seite wurden meine Mutter und ich von einem schwarz uniformierten mexikanischen Zöllner durchgewunken. Wollen die unsere Pässe gar nicht sehen?, fragte meine Mutter. Ich zuckte mit den Schultern. Offenbar nicht.

Wir verließen das Abfertigungsgebäude und gingen die Avenida Benito Juárez hinunter, vorbei an Pulks von Taxifahrern und Imbissverkäufern, vorbei an dröhnenden Lautsprechern und bunt bemalten Hauseingängen, vorbei an Schnapsläden und Pfandleihen, Zahnarztpraxen und Billigapotheken, an taquerías und Wechselstuben, an Werbung für seguros, ropa, botas. Bald fragte meine Mutter, ob wir uns irgendwo hinsetzen könnten. Wir überquerten die Straße in Richtung Plaza Misión de Guadalupe, wo sie sofort auf eine Bank sank. Ich muss ein wenig verschnaufen, sagte sie, mein Herz rast. Alles in Ordnung mit dir?, fragte ich. Sie holte tief Luft, sah sich um und legte eine Hand auf die Brust. Alles in Ordnung, es ist nur ein bisschen viel für mich. Pass auf, ich besorg etwas Wasser. Ich zeigte auf einen kleinen Supermarkt an der Ecke. Bin gleich wieder da.

An der Ladenkasse diskutierten zwei Frauen über Politik. Ich bin froh, dass Calderón gewählt wurde, sagte die eine. Wir brauchen einen Präsidenten, der die Kriminalität bekämpft, jemanden, der gegen die delincuentes vorgeht und auf den Straßen für Ordnung sorgt. Die andere Frau, die gerade eine Stange Zigaretten und eine Schachtel pan dulce bezahlte, schüttelte heftig den Kopf. No entiendes, sagte sie. Das Problem hat doch nichts mit der Straße zu tun.

Meine Mutter trank gierig aus der Wasserflasche und stieß einen tiefen Seufzer aus, während ich den Stadtplan studierte, den wir im Hotel eingesteckt hatten. Wir sind in der Nähe des Mercado Juárez, sagte ich, wir können uns da hinsetzen und etwas essen, und du kannst ein wenig ausruhen. Meine Mutter nickte, sah sich um und erhob sich schließlich. Langsam gingen wir weiter, vorbei am Historischen Museum, einem alten Backsteinbau, und bogen in die Calle 16 de Septiembre ein. An der nächsten Kreuzung warteten wir, bis die Ampel auf Grün sprang, und gingen dann los. Mitten auf der stark befahrenen Straße schrie meine Mutter auf und fiel hin. Ich war sofort bei ihr und legte ihr den Arm um die Schulter. Alles okay?, fragte ich. Sie zeigte auf ihren Fuß, mit dem sie in einem Schlagloch hängen geblieben war. Du musst aufstehen, sagte ich, wir müssen runter von der Straße. An der Fußgängerampel blinkte schon eine rote Hand. Ich versuchte, meine Mutter hochzuziehen, aber sie stöhnte nur. Mein Fußgelenk, sagte sie, ich kann es nicht bewegen.

Ich streckte den Autos, die inzwischen Grün hatten, die Hände entgegen. Vom Mercado kam ein Mann herbeigelaufen. Eine Frau stieg aus ihrem Wagen und kniete an der Seite meiner Mutter. Tranquila, flüsterte sie, tranquila.

Ein Mann mit Cowboyhut kletterte aus seinem Lastwagen und signalisierte den Autos hinter ihm, nicht loszufahren. Der Mann, der vom Mercado herbeigelaufen war, legte mir eine Hand auf den Rücken. Te ayudo, sagte er, qué pasó? Ich zeigte mit zitternden Händen auf meine Mutter. No puede caminar. Der Mann gab mir ein Zeichen, dass wir sie hochheben sollten. Wir beugten uns hinunter und legten uns jeweils einen Arm um die Schulter. Die Frau tippte sie an – vas a estar bien, sagte sie und ging wieder zu ihrem Auto. Wir hoben meine Mutter hoch, sodass sie mit unserer Hilfe in Richtung Bürgersteig humpeln konnte, und setzten sie an einer Betonmauer ab. Der Verkehr tobte schon wieder.

Ich kniete mich zu ihr hin und sah, dass ihre Hände bei dem Sturz schmutzig geworden waren. Sollen wir einen Krankenwagen rufen?, fragte ich. Sie öffnete die Augen und versuchte, langsamer zu atmen. Nein, nein, sagte sie, lass mich noch einen Moment ausruhen. Ich reichte dem Mann meine Hand und wusste nichts anderes zu sagen als Gracias. Der Mann schüttelte den Kopf. Keine Ursache. In Juárez kümmern wir uns umeinander. Er klopfte mir auf die Schulter. Setz dich zu deiner Mutter, sagte er per Zeichensprache. Wenn sie wieder okay ist, könnt ihr an meinem Stand im Mercado vorbeischauen. Ich bin dort mit meiner Mutter, wir werden quesadillas für euch machen. Aquí están en su casa, sagte er und entfernte sich.

I

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Ich träume, ich bin in einer dunklen Höhle, der Boden ist übersät mit abgetrennten Armen und Beinen. Ich berühre sie, nehme sie in die Hand, fühle Schmutz und Blut und kalte Haut. Ich suche nach einem Kopf, nach einem Gesicht, nach irgendetwas, was eine Identifizierung der Menschen ermöglichen würde, deren Gliedmaßen hier herumliegen. Ich verlasse die Höhle mit leeren Händen, trete hinaus in eine farblose Landschaft, die Luft scheint stillzustehen. Draußen sagt mir eine Stimme, ich soll einen Wolf in einer nahe gelegenen Höhle aufsuchen. Als ich dort eintreffe, ist kaum noch Licht am Himmel. Ich komme zu einer Felsöffnung, muss die Augen zusammenkneifen, um im Dunkeln etwas zu sehen. Am hinteren Ende der Höhle kann ich vage ein Tier erkennen, das dort im Kreis herumläuft. Bald wird mir klar, dass es ein Wolf ist, der langsam auf mich zukommt, lautlos eine Pfote vor die andere setzt. Ich bin ganz starr vor Angst. Ich schaue mich um und sehe hinter mir meine Mutter, die mir durch Zeichen zu verstehen gibt, dass ich dem Wolf meine Hand hinhalten soll. Ich schaue wieder nach vorn und strecke den Arm aus, hole tief Luft und öffne die Hand. Langsam kommt der Wolf näher und schnüffelt mit seiner Riesenschnauze an meiner Hand. Er sieht furchterregend, aber auch klug aus. Er weicht etwas zurück, um mich anzusehen, und in dem Moment habe ich das Gefühl, dass mir etwas mitgeteilt wird. Der Wolf kommt wieder näher, stellt sich auf die Hinterbeine und legt mir die Pfoten auf die Brust. Es sind ungewöhnlich große Pfoten, die sich an meiner Brust sehr schwer anfühlen. Der Wolf ist mir nun ganz nahe, sein Gesicht dicht an meinem, als wollte er mir ein Geheimnis verraten. Ich schließe die Augen und spüre seinen heißen Atem an meinem Gesicht, seine nasse, leckende Zunge in meiner Mundhöhle. In dem Moment wache ich auf.

Wir waren unterwegs in die Stadt, rasten durch die kalte, unwirtliche Steppe von New Mexico, als ich von Santiago hörte. Morales muss es mir erzählt haben oder vielleicht auch Hart. Ich rief ihn sofort an. Warum willst du aufhören?, fragte ich, du schaffst die Abschlussprüfung ganz bestimmt. Ich kann nicht, sagte er, dieser Job ist nichts für mich. Es ist besser, nach Puerto Rico zurückzukehren, bei meiner Familie zu sein. Ich erklärte, dass ich seine Entscheidung bedauerte, und wünschte ihm alles Gute. Er bedankte sich und meinte noch, ich solle die Ausbildung für uns beide abschließen. Das versprach ich ihm.

Von all meinen Kollegen war es Santiago, dem ich am meisten Erfolg gewünscht hätte. Er konnte nicht im Gleichschritt marschieren, er achtete nicht auf den korrekten Sitz seiner Uniform, mit seiner Waffe konnte er nicht umgehen, und für die anderthalb Meilen brauchte er deutlich mehr als fünfzehn Minuten. Aber er hatte sich stärker angestrengt als irgendein anderer von uns. Er schwitzte am meisten, brüllte am lautesten. Er war achtunddreißig Jahre alt, Buchhalter aus Puerto Rico, verheiratet und gerade erst Vater geworden. Am Tag zuvor hatte er den Schießstand mit der Tasche voll scharfer Munition verlassen, woraufhin er vor versammelter Mannschaft »I’m a Little Teapot« singen musste. Da er den Song nicht kannte, wurde ihm »God Bless America« vorgeschlagen. Er sang aus voller Kehle, nach jeder Zeile holte er keuchend Luft, in der ein übler Güllegestank von den umliegenden Milchfarmen lag. Wir alle lachten über seinen starken Akzent, über den Text, den er nicht richtig hinbekam, über seine quäkende Stimme und den falschen Gesang.

In der Stadt, beim Bier, erzählte Hart vom Winter in Detroit. Ich kann nicht zurück wie Santiago, sagte er. Scheiße, verdammte. Er starrte in sein Glas. Wisst ihr, was ich vorher gemacht habe?, fragte er. Morales und ich schüttelten den Kopf. Ich war Angestellter einer Autovermietung in diesem gottverdammten Flughafen. Wisst ihr, wie oft ich Leuten die Wagenschlüssel ausgehändigt habe, die mich keines Blickes gewürdigt haben? Typen, die meine tätowierten Arme anstarrten, als wäre ich ein Gangster, ein armseliger Schwarzer, der außerhalb des Ghettos einen Teilzeitjob gefunden hat. Hart packte sein Bierglas. Aber vor allem habe ich den Detroiter Winter satt.

Er schaute hoch. Wie ist denn der Winter in Arizona so?, fragte er. Morales lachte. Dort, wo wir eingesetzt werden, vato, gibt’s keinen Schnee, verlass dich darauf. Hart fand das gut. Aber warte nur den Sommer ab, sagte ich. Hast du schon mal sechsundvierzig Grad erlebt? Nee, sagte Hart. Tja, sagte ich, wir werden in der Hitze unterwegs sein, wenn wir die Toten in der Wüste einsammeln. Welcher Idiot spaziert denn bei sechsundvierzig Grad durch die Wüste?, fragte er. Ich leerte mein zweites Glas Bier und erzählte von den Migranten, die nach San Diego und El Paso kamen, bis der Grenzschutz in den Neunzigern alles dichtmachte, mit Zäunen und neu rekrutierten Leuten wie uns. Die Politiker dachten, wenn sie die Grenze dichtmachen, würde niemand mehr riskieren, in den Bergen und in der Wüste rüberzukommen. Aber das war ein Irrtum, und nun müssen wir uns um die Situation kümmern. Hart hörte nur noch halb zu. Er versuchte, die Bedienung auf sich aufmerksam zu machen, um noch ein Bier zu bestellen. Morales starrte auf den Tisch und sah mich dann an, mit dunklen, tief liegenden Augen. Sorry, sagte ich, wollte euch nicht belehren. Ich habe dieses Zeug an der Uni studiert.

Auf der Rückfahrt zur Akademie saß ich hinten in Morales’ Pick-up. Morales erzählte Hart, der vorn neben ihm saß, von seiner Kindheit an der Grenze in Douglas, von seinen Onkeln und Cousinen auf der mexikanischen Seite. Hart fragte, was es bei ihnen zum Essen gegeben habe, woraufhin Morales von Ziegeneintopf und scharfer Suppe zum Frühstück erzählte, von den Ständen in Agua Prieta, wo man die ganze Nacht tacos de tripa bekam. Er erzählte von den Tortillas, die seine Mutter zubereitete, von den Tamales, die seine Großmutter zu Weihnachten machte, und ich lauschte seiner Stimme, den Kopf an der kalten Fensterscheibe, starrte hinaus auf die dunkle Ebene und döste immer wieder kurz ein.

Robles beorderte uns in den Raum mit den Fahrradtrainern. Jeder von uns setzte sich auf ein Gerät. Robles, ganz vorn, stieg auf eine Maschine, die in unsere Richtung zeigte, und gab das Kommando zum Anfangen. Die Beine immer in Bewegung halten, rief er. Wenn ich sage ›Stehen‹, hebt ihr euren Arsch so lange, bis ich sage, dass ihr euch wieder setzen könnt. Er nickte einem korpulenten Mann namens Hanson in der ersten Reihe zu. Ist das klar, Mr. Hanson? Jawohl, brüllte Hanson, schon jetzt außer Atem.

Robles trieb uns an. Sitzen, brüllte er, die Beine bewegen, stehen. Strengt euch an. Der Körper ist euer Werkzeug, rief er, das wichtigste, das ihr habt. Ein Schlagstock ist nichts, ein Taser ist nichts, selbst eure Pistole ist nichts, wenn ihr schlappmacht, wenn eure Muskeln nicht mehr mitmachen und ihr aufgebt. Der Grenzschutz ist kein Sonntagsspaziergang, das versprech ich euch. Ich selbst habe ein Leben genommen und ein Leben gerettet. Bei meinem ersten Einsatz, den ihr ja auch irgendwann erleben werdet, haben wir in den Gemüsefeldern bei Yuma eine Gruppe von Salvadorianern entdeckt. Ein Mann lief davon, ich verfolgte ihn, bis ich dachte, meine Beine knicken um. Ich stolperte über aufgeschüttete Erdwälle, die in langen Reihen mit Salat bepflanzt waren, aber ich verfolgte ihn immer weiter, bis wir zu einem Kanal kamen und der Mann sich umdrehte. Er griff mich an, bevor ich reagieren konnte, wir gingen zu Boden und kämpften. Wenn ich aufgegeben hätte, hätte er mich vielleicht getötet. Aber ich habe nicht aufgegeben, sondern mit ihm gerungen, bis ich ihn schließlich über den Rand des Kanals ins Wasser stieß. Der Mann konnte nicht schwimmen, keiner von diesen Leuten kann schwimmen. Eine Stunde später fischten wir an einer Bojenlinie die Leiche aus dem Wasser.

Robles schien seine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen, sein Blick war wie nach innen gekehrt. Ein Jahr später, fuhr er fort, verfolgte ich wieder einen Mann, diesmal bis zum Ufer des Colorado. Er rannte ins Wasser und wurde im nächsten Moment von der Strömung fortgerissen. Und wisst ihr was, ich bin ihm hinterhergeschwommen und habe versucht, ihn über Wasser zu halten, obwohl ich literweise Wasser schlucken musste. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so erschöpft gewesen zu sein. Diesem Mann habe ich das Leben gerettet, und trotzdem muss ich jeden Tag an den anderen denken, den ich nicht gerettet habe.

Robles schwieg, während wir an unseren Geräten schwitzten und kraftlos in die Pedale traten. Hanson ließ sich ermattet auf den Sattel fallen. Robles, plötzlich wieder hellwach, fixierte ihn. Hoch mit Ihnen, brüllte er. Enttäuschen Sie mich nicht, Mr. Hanson. Sie dürfen nicht aufgeben.

Während unser Keuchen den Raum erfüllte, dachte ich kurz an den Mann aus El Salvador und überlegte, wie die Nachricht von seinem Tod wohl seine Familie erreicht hatte, in der Luft treibend wie eine Leiche in schwarzem Wasser. Ich beobachtete Robles, der in den Pedalen stand, die Stirn schweißnass, und mit jeder Beinbewegung die Schultern nach vorn warf. Angesichts seiner gnadenlosen Plackerei fragte ich mich, ob er seinen Körper noch immer antrieb, Wiedergutmachung für das Leben zu leisten, das in der schnellen Strömung des Kanals verloschen war. Ich fragte mich, ob er seinen Körper als Werkzeug der Vernichtung sah oder als eines, das der Fürsorge diente. Ich fragte mich auch, welches Werkzeug mein eigener Körper einmal sein würde.

Bevor wir eines Nachmittags auf den Schießstand gingen, hielt unser Ausbilder in einem abgedunkelten Raum eine Powerpoint-Präsentation. Wir erfuhren, dass im Jahr zuvor mehr als siebenhunderttausend Ausländer an der Grenze verhaftet worden waren. Vielleicht finden Sie diese Zahl schlimm, sagte er, aber als ich vor acht Jahren anfing, im Jahr 2000, waren es anderthalb Millionen. Und ich muss sagen, dass nicht jeder, der über die Grenze kommt, ein guter Mensch auf der Suche nach einem ehrlichen Job ist.

Wir sahen Bilder von Opfern des Drogenkriegs, die von den mexikanischen Kartellen brutal ermordet worden waren. Ein Foto zeigte drei Köpfe in einer riesigen Kühltruhe. Ein anderes zeigte eine Frauenleiche in der Wüste, die Füße zusammengebunden, eine abgehackte Hand in den Mund gestopft. Beim Foto eines Viehtransporters, in dessen Laderaum zwölf Leichen lagen, alle mit verbundenen Augen, wie von einem Exekutionskommando erschossen, hielt unser Ausbilder inne. Diese zwölf waren keine Gangster, sagte er, sondern Migranten, die nichts mit dem Drogengeschäft zu tun hatten, gekidnappt und getötet wegen eines mageren und bedeutungslosen Lösegelds. Das nächste Foto zeigte eine Gruppe mexikanischer Polizisten, die auf offener Straße erschossen worden waren, das nächste eine blutüberströmte Leiche auf einem Autositz – ein frisch gewählter Bürgermeister, der versprochen hatte, mit der Drogenkriminalität in seiner Stadt aufzuräumen, erschossen an seinem ersten Arbeitstag. Damit werden Sie es zu tun haben, sagte unser Ausbilder, das erwartet Sie.

Bislang sind sieben von uns ausgestiegen. Jetzt sind wir nur noch dreiundvierzig. Sullivan hörte genau eine Woche nach Santiago auf. Ich kannte ihn nicht, aber er soll sich oft beklagt haben. Serra, eine von nur drei Frauen in unserem Jahrgang, hörte zwei Tage später auf. Niemand wusste, warum. Sie war eine Einzelgängerin, sagten alle. Der Nächste war Golinski, wegen einer feinen Fraktur am linken Knie ließ er sich auf unbestimmte Zeit beurlauben. Als ich ihn am Vorabend im Computerraum sah, fragte ich ihn, was er nach seiner Heimkehr machen werde. Er guckte, als habe er die Frage nicht verstanden. Ich warte, bis mein Knie wieder heil ist, dann komm ich zurück. Ich war zweimal im Irak, ich weiß, dass ich für diesen Job geeignet bin.

Hanson stieg aus, nachdem er von der Polizei in seinem Heimatort in Illinois ein Angebot erhalten hatte. Man verdient fast genauso viel, sagte er, und ich muss meine Frau und die Kinder nicht nachkommen lassen. An seinem letzten Tag mussten wir nach dem Sport mit nacktem Oberkörper antreten, damit Robles unseren Körperfettanteil messen konnte. Hanson stand neben mir. Zum ersten Mal sah ich das Fettpolster auf seiner Hüfte. Als Robles vor ihm stand, betrachtete er die überhängende Hautfalte und sah ihm dann ins Gesicht. Wie viel haben Sie abgenommen?, fragte er. Hundertachtzig Pfund in anderthalb Jahren, sagte Hanson und schaute geradeaus. Robles nickte. Hoffen wir, dass Sie das nie wieder zulegen.

Dominguez, Harts Stubenkamerad, gab als Nächster auf, nachdem er zum dritten Mal durch die juristische Prüfung gerasselt war. Tagelang fragte ich mich, ob ich nicht mehr für ihn hätte tun können. Als ich eines Abends mit Hart in der Kantine saß, fragte ich ihn: Warum hast du ihm nicht angeboten, dass er mit uns lernen kann? Er war doch dein Stubenkamerad, du hättest dich um ihn kümmern sollen. Hart starrte mich ungläubig an Blödsinn, sagte er und schob das Brötchen auf seinem Teller hin und her. Dominguez hätte bestanden, wenn er gewollt hätte. Nachts hat er die ganze Zeit telefoniert. Er hatte so viel Grips, dass er den Staatsbürgerschaftstest auf der Highschool bestanden hat. Und anschließend hat er seinen Bachelor in Baumanagement gemacht. Du bist nicht der Einzige, der aufs College gegangen ist. Dominguez hatte sogar seine eigene Baufirma, bevor der Immobilienmarkt zusammenbrach, wusstest du das? Hart nahm das Brötchen und biss ein großes Stück ab. Aber statt zu studieren, hat er in seiner freien Zeit andauernd mit seiner Familie telefoniert. Er ist ganz allein dafür verantwortlich, niemand sonst. Ich dachte eine Weile nach. Worüber haben sie denn gesprochen?, fragte ich schließlich. Hart zuckte mit den Schultern. Woher soll ich das wissen, sagte er, ich kann kein Spanisch.

Zu Weihnachten kam meine Mutter auf Besuch. An Heiligabend holte sie mich in der Akademie ab, wir fuhren durch die strohgelbe Chihuahua-Ebene und weiter hinauf in immergrünes Bergland und quartierten uns in einer warmen, hell möblierten Hütte ein. Wir saßen am Tisch und schmückten einen Miniaturbaum mit winzigen Glaskügelchen, tranken Eggnog mit Brandy und lachten, bis aus unserer Plauderei eine Diskussion über meine bevorstehende Tätigkeit wurde.

Weißt du, sagte meine Mutter, ich habe viele Jahre als Park Ranger gearbeitet, ich habe nichts dagegen, wenn du für den Staat arbeitest, aber findest du nicht, dass es unter deinem Niveau ist? Du studierst, machst Examen und gehst dann zum Grenzschutz? Wenn sich die Leute daheim nach dir erkundigen und ich erzähle, dass du bei der Polizei bist, schauen sie mich ganz komisch an. Ich weiß nicht, was ich weiter sagen soll. Ich verstehe wirklich nicht, was du dir davon versprichst.

Ich holte tief Luft. Schau, sagte ich, ich war vier Jahre auf dem College, habe Internationale Beziehungen studiert, habe mich mit der Grenze beschäftigt. Du kannst den Leuten sagen, dass mir das Buchwissen nicht reicht. Ich will vor Ort sein, die Praxis erleben, den realen Alltag an der Grenze. Ich weiß, dass es hässlich sein kann, dass es gefährlich sein kann, aber ich weiß keinen besseren Weg, die Grenze wirklich zu verstehen.

Meine Mutter sah mich ungläubig an. Ist das dein Ernst?, fragte sie. Es gibt unendlich viele Wege, einen Ort zu verstehen. Du bist in der Nähe der Grenze aufgewachsen, wir haben in der Wüste und in Nationalparks gelebt. Himmel, wir haben die Grenze im Blut. Deine Urgroßeltern sind mit meinem Vater aus Mexiko über die Grenze gegangen, als er noch ein Kind war. Als ich heiratete, habe ich darauf bestanden, meinen Mädchennamen zu behalten, damit du etwas von der Familie deines Großvaters weiterträgst, damit du deine Herkunft nie vergisst. Was willst du denn noch über die Grenze wissen?

Ich bin sehr dankbar dafür, sagte ich, aber einen Namen zu tragen heißt noch lange nicht, dass man eine Sache versteht. Ich will draußen im Freien sein, nicht in einem Vorlesungssaal, nicht in einem Büro, nicht an einem Computer sitzen, einen Haufen Papiere vor mir. Erinnerst du dich, fragte ich meine Mutter, du bist zu den Park Rangern gegangen, weil du in der Natur sein wolltest, weil du der Ansicht warst, dass du dort wirklich bei dir bist. Meine Mutter kniff die Augen zusammen, als hätte ich plötzlich vom Thema abgelenkt. Bei mir ist es nicht viel anders, sagte ich. Ich weiß nicht, ob die Grenze der Ort ist, wo ich bei mir bin, aber ich weiß, dass es etwas ist, dem ich mich stellen muss. Vielleicht ist es die Wüste, vielleicht die Nähe von Leben und Tod, vielleicht ist es der Konflikt zwischen den beiden Kulturen, die wir in uns tragen. Jedenfalls werde ich es nur verstehen, wenn ich es unmittelbar erlebe.

Meine Mutter schüttelte den Kopf. Das klingt ja so, als würdest du den ganzen Tag tiefsinnige Gespräche mit der Natur führen. Grenzschutz ist etwas anderes als der Park Service. Das ist eine paramilitärische Polizeitruppe. Das musst du mir nicht erklären, sagte ich ärgerlich, an der Polizeiakademie werden wir nicht mit Samthandschuhen angefasst.

Ich weiß, du willst nicht, dass aus deinem einzigen Sohn ein herzloser Cop wird. Du hast Angst, dass mich der Job brutal und gefühllos macht. Die Leute, die dich komisch angucken, wenn du erzählst, dass ich beim Grenzschutz bin, denken wahrscheinlich, dass dort nur weiße Rassisten Dienst tun, die nichts anderes im Sinn haben, als Mexikaner zu erschießen und zu deportieren. Aber so jemand bin ich nicht, und das gilt auch für die Leute, mit denen ich auf der Akademie bin. Fast die Hälfte meines Jahrgangs sind Hispanics – manche sind in einer spanischsprachigen Familie aufgewachsen, zum Teil direkt an der Grenze. Manche sind wie ich aufs College gegangen, manche haben in einem Krieg gekämpft, manche hatten ein Geschäft, manche hatten einen Job ohne Aufstiegsmöglichkeit, und manche kommen frisch von der Highschool. Manche haben Kinder. Diese Leute sind nicht zum Grenzschutz gegangen, um andere zu schikanieren, sondern weil sie ihrem Land dienen wollen oder weil es ein sicherer, gut bezahlter Job ist.

Aber es gibt so viele andere Möglichkeiten für dich, sagte meine Mutter. Du hast ein hervorragendes Examen gemacht.

Na und?, erwiderte ich. Meine Entscheidung bedeutet nicht, dass ich in jedem Fall Karriere beim Grenzschutz machen werde. Ich betrachte es als Teil meiner Ausbildung. Überleg mal, was ich alles lernen kann, welche Möglichkeiten sich mir eröffnen. Ich weiß, du hast nicht viel übrig für den Polizeidienst, aber an der Grenze geht es nicht ohne Polizei. Ich bin nicht mit allen Aspekten des Grenzregimes einverstanden, aber es ist nützlich, den realen Alltag an der Grenze zu verstehen. In drei, vier Jahren werde ich vielleicht an die Uni zurückkehren und Jura studieren, vielleicht werde ich mich politisch engagieren. Als Anwalt für Einwanderungsrecht oder als Abgeordneter könnte ich meinen Job viel besser machen, weil ich Erfahrungen beim Grenzschutz gesammelt habe.

Meine Mutter schaute seufzend zur Decke. Man kann auch anderswo Erfahrungen sammeln, in Jobs, die nicht so gefährlich sind, wo man den Menschen hilft, statt ihnen als Ordnungsmacht gegenüberzutreten. Aber genau das ist es, sagte ich. Ich werde den Menschen helfen. Ich spreche beide Sprachen. Beide Kulturen sind mir vertraut. Ich habe in Mexiko gelebt und das Land bereist. Ich bin in Städten und Dörfern gewesen, die praktisch entvölkert waren, weil alle auf der Suche nach Arbeit in Richtung Norden abgewandert sind. Immer werden gute Leute über die Grenze kommen, und ob ich beim Grenzschutz bin oder nicht, es werden Polizisten unterwegs sein, die sie festnehmen. Wenn ich derjenige bin, der sie festnimmt, kann ich ihnen zumindest ein bisschen Trost spenden, weil ich ihre Sprache spreche und mit ihnen über ihre Heimat reden kann.

Gut, sagte meine Mutter. Aber du musst wissen, dass du Teil eines Systems sein wirst, einer Institution, der die Menschen egal sind.

Ich sah beiseite, wir schwiegen. Ich schaute auf meine Hände und dachte über die Worte meiner Mutter nach. Vielleicht hast du recht, sagte ich, aber in eine Institution einzutreten heißt nicht, dass man in ihr aufgeht. Im selben Moment meldeten sich leise Zweifel in mir. Ich lächelte meine Mutter an. In meinem allerersten Job habe ich mit Migranten aus Guanajuato schmutziges Geschirr abgeräumt. Das werde ich nie vergessen, ich werde mich nicht in einen anderen Menschen verwandeln. Gut, sagte meine Mutter, hoffentlich behältst du recht.

Wir umarmten uns. Meine Mutter sagte, dass sie mich liebe und froh sei, dass ich bald wieder in Arizona sei, in ihrer Nähe. Vor dem Schlafengehen öffnete jeder sein Geschenk, wie an jedem Weihnachtsabend, an den ich mich erinnern konnte.

Am nächsten Tag gingen wir zum Brunch in das historische Hotel der Stadt, wo im Kaminzimmer ein wunderbarer Braten serviert wurde. Anschließend stiegen wir auf einen Aussichtsturm, wo sich schon viele Leute drängten, um den Blick zu genießen. Unter uns erstreckte sich ein sonnenbeschienener Talkessel vom Fuß des Bergs nach Westen. Ich sah, wie sich die Landschaft im Winterlicht veränderte. Meine Mutter legte mir die Hand auf die Schulter und zeigte auf eine Gipssandwolke, die in der Ferne, kaum zu erkennen, über die Wüste trieb.

Zur Graduierungsfeier waren wir im Auditorium der Akademie vor Angehörigen und Freunden in Paradeuniform angetreten, breitkrempiger Hut, Hose und Hemd frisch gebügelt, Stiefel und Messingknöpfe blitzblank poliert, sodass sie im fluoreszierenden Licht schimmerten. Unsere Lehrer sprachen von der Wichtigkeit unserer Ausbildung und von den bevorstehenden Aufgaben. Auszeichnungen wurden verliehen, Abzeichen an die Brust geheftet. Wir standen nebeneinander vor den Zuschauern, hoben die rechte Hand und starrten festen Blicks auf die helle Wand. Ich schwöre feierlich, dass ich die Verfassung der Vereinigten Staaten gegen alle äußeren und inneren Feinde schützen und verteidigen werde, dass ich derselben aufrichtige Treue und Loyalität entgegenbringen werde, dass ich diese Verpflichtung freiwillig eingehe, ohne inneren Vorbehalt oder Arglist, und dass ich die Aufgaben des Dienstes, den ich nun antreten werde, getreu und nach besten Kräften erfüllen werde. So wahr mir Gott helfe.

Nur zwei Tage nach unserer Ankunft in der Station machten wir unseren ersten Drogenfund. Wir waren östlich des Grenzübergangs, als ein Sensor in nur drei Meilen Entfernung anschlug. Cole, unser Supervisor, zeigte auf eine Unmenge von Fußspuren auf dem Pfad. Er verfolgte sie und gab uns nach einer Weile ein Zeichen, dass wir aus den Fahrzeugen aussteigen sollten. Es sind acht Leute, sagte er, seid still und folgt mir.

Wir liefen mehrere Kilometer in Richtung Berge, Cole immer vornweg. Behaltet das Terrain in einem Radius von anderthalb, zwei Metern im Blick, sagte er. Seht zu, dass ihr die Sonne vor euch habt, nicht im Rücken, dann sind die Spuren besser zu sehen. Wenn kaum noch etwas zu erkennen ist, achtet auf kleine Unregelmäßigkeiten – Abdrücke von Zehen, Spuren von Absätzen, zur Seite gerollte Steine, festgetretene Erde, Textilfasern an Dornen und Zweigen. Wenn ihr die Spur verliert, geht dorthin zurück, wo ihr sie zuletzt gesehen habt. Lernt, das Gelände zu lesen, es ist euer täglich Brot.