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Deutschsprachige Bücher von Frithjof Schuon

Philosophische Werke

Leitgedanken zur Urbesinnung. Zürich 1935; Freiburg 1989, 2009

Das Ewige im Vergänglichen. Weilheim 1970; München 1984

Von der inneren Einheit der Religionen. Interlaken 1981; Freiburg 2007

Den Islam verstehen. München 1988, 1991, 2002. Freiburg 1993

Schätze des Buddhismus. Norderstedt 2007

Esoterik als Grundsatz und als Weg. Hamburg 2012

Metaphysik und Esoterik im Überblick. Hamburg 2012

Logik und Transzendenz. Hamburg 2013

Geistige Sichtweisen und menschliche Tatsachen. Hamburg 2013

Wurzeln des Menschseins. Hamburg 2014

Gnosis – Göttliche Weisheit. Hamburg 2015

Vom Göttlichen zum Menschlichen. Hamburg 2015

Form und Gehalt in den Religionen. Hamburg 2017

Gedichte

Sulamith. Bern 1947

Tage- und Nächtebuch. Bern 1947

Glück. Freiburg 1997

Leben. Freiburg 1997

Liebe. Freiburg 1997

Sinn. Freiburg 1997

Perlen des Pilgers. Düsseldorf 2000

Sinngedichte. Bd. 1 – 10. Sottens 2001 – 2005

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Frithjof Schuon

Das Spiel der Masken

Übersetzt, mit Anmerkungen und einem Glossar versehen von

Wolf Burbat

WEISHEIT DER WELT

[iv]

© World Wisdom Books

Titel des französischen Originales: Le Jeu des Masques. Lausanne, L’Âge d’Homme, 1992

Aus dem Französischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Glossar versehen von Wolf Burbat

Umschlagbild: Aus dem frühen 19. Jahrhundert stammender Wandbehang aus Nathdwara (Rajasthan), der den Tanz der Gopîs mit Krishna darstellt.

WEISHEIT DER WELT ist das deutschsprachige Imprint von

World Wisdom, Inc.,

P.O. Box 2682, Bloomington, Indiana 47402-2682

www.worldwisdom.com

Verlag: tredition GmbH

ISBN 978-3-7469-2283-6 (Paperback)

978-3-7469-2282-9 (e-Book)

www.tredition.de

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt

Vorbemerkung des Übersetzers

Vorwort

Vorrechte des menschlichen Zustandes

Der Mensch in der kosmogonischen Vergegenständlichung

Das Spiel der Masken

Ex nihilo, in Deo

Angesichts der Bedingtheit

Auf den Spuren der Ursünde

Von der Absicht

Bemerkungen zur wohltätigen Liebe

Kein Tun ohne Wahrheit

Sich des Wirklichen bewusst sein

Der befreiende Übergang

ANHANG

Anmerkungen des Übersetzers

Glossar

Index

Frithjof Schuon

[vii]

Vorbemerkung des Übersetzers

Wir freuen uns, mit diesem Buch die neunte einer Reihe von geplanten Übersetzungen von Werken Frithjof Schuons in deutscher Sprache vorlegen zu können. Der in Deutschland noch wenig bekannte Schuon (1907–1998) wird in weiten Teilen der Welt als einer der bedeutendsten religionsphilosophischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts angesehen. Er besaß einen außerordentlichen Überblick über die religiösen Überlieferungen der Menschheit, konnte die Vielfalt der Erscheinungen bis in ihre Tiefe durchdringen und seine Erkenntnisse in meisterhafter, oft dichterischer Sprache ausdrücken. Er gilt als führender Vertreter jener Denkrichtung, die Sophia perennis, Philosophia perennis oder Religio perennis – also immerwährende Weisheit, immerwährende Philosophie oder immerwährende Religion – genannt wird, welche die zeitlosen und überall gültigen Grundsätze enthält, die den verschiedenen Lehren, den Sinnbildern, der heiligen Kunst und den geistigen Übungen der Weltreligionen zugrundeliegen.

Die französische Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien 1992 unter dem Titel Le Jeu des Masques; im gleichen Jahr wurde unter dem Titel The Play of Masks eine Übersetzung ins Englische veröffentlicht. Das Buch ist das vorletzte von Schuon veröffentlichte philosophische Werk.

Wie fast alle Bücher dieses Verfassers ist auch das vorliegende aus einzelnen Aufsätzen hervorgegangen, die zuerst in Zeitschriften – meist den Études Traditionnelles oder den Studies in Comparative Religion – erschienen und später zu Büchern zusammengefasst wurden. Das Spiel der Masken ist zunächst der Titel eines Kapitels, in dem es um den inneren und äußeren Menschen geht, in dem Sinne, wie etwa Meister Eckhart diese Begriffe verwendet. Wenn der Verfasser das ganze Buch mit dieser Überschrift versieht, passt das, wie er selbst in seinem Vorwort schreibt, gut zu einer »Argumentationsweise, [viii]die dieselben grundlegenden Lehrsätze unter verschiedenen Gesichtspunkten vorlegt«. Man könnte auch sagen, dass die Maske in ähnlicher Weise das innere Wesen des Menschen verhüllt, aber möglicherweise auch darstellt, wie dies Mâyâ, die kosmische und metakosmische »Täuschung«, mit Âtmâ, dem göttlichen Selbst, tut.

Ausgehend von metaphysischen Grundsätzen wendet der Verfasser sie in diesem Buch besonders auf die Frage an: Was ist der Mensch? Ein Kernsatz lautet: »Der vollständige und ursprüngliche Mensch ist der Intellekt und das Bewusstsein des Absoluten« (Kap. 1). Aus der so gewonnenen Wesensbestimmung des Menschen ergeben sich die Aufgaben für ein Leben, das diesem Wesen entspricht.

Wenn für Schuon in der Wesensbestimmung des Menschen der Begriff »Intellekt« von zentraler Bedeutung ist, so muss darauf hingewiesen werden, dass er – in der Tradition von Denkern der Sophia perennis wie Platon, Shankara, Ibn ‘Arabî und Meister Eckhart – dieses Wort im Sinne des »reinen Geistes« verwendet, der zur unmittelbaren Schau, zur »Einsicht« fähig ist. Der Intellekt enthält in seiner Spitze das Göttliche im Menschen, mit den von Schuon immer wieder angeführten Worten Meister Eckharts: Aliquid quod est increatum et increabile … et hoc est intellectus (»etwas, was unerschaffen und unerschaffbar ist … und das ist der Intellekt«). Bedeutsam ist hier, dass der Intellekt als göttlich angesehen wird, er ist überpersönlich und überrational; er darf nicht mit dem Verstand verwechselt werden; er gehört nicht dem einzelnen Menschen, vielmehr hat dieser grundsätzlich Zugang zu ihm.

Obwohl Deutsch seine erste Muttersprache war, hat Schuon seine metaphysischen Werke auf Französisch verfasst, einer Sprache, die sich aufgrund ihres lateinischen Ursprungs und ihres unzweideutigen Wortschatzes hierfür besonders gut eignet. Schuon liebte die deutsche Sprache sehr und bestand [ix]darauf, sie weitgehend von Fremdwörtern freizuhalten. Dem haben wir in der vorliegenden Übersetzung Rechnung zu tragen versucht; so wird der Leser einige mittlerweile selten gewordene Wörter wie »Geistigkeit« statt »Spiritualität«, »Anblick« oder »Gesichtspunkt« statt »Aspekt«, »Sammlung« statt »Konzentration« und dergleichen mehr finden. Als Muster hat uns hierbei Schuons eigene Übertragung seines ersten Hauptwerkes De l’unité transcendante des religions (1948) ins Deutsche gedient.1

Andererseits war es unumgänglich, eine Reihe von Fremdwörtern zu benutzen, seien es philosophische Fachausdrücke oder Begriffe aus einer Vielzahl von Überlieferungen; diese Begriffe aus dem Sanskrit, dem Griechischen, dem Lateinischen und dem Arabischen wurden in einem Glossar im Anhang des Buches zusammengestellt, übersetzt und erklärt.

Weiterhin haben wir im Anhang nach Seitenzahl geordnete »Anmerkungen des Übersetzers« zusammengestellt, in denen Textstellen erläutert werden, die auf überlieferte theologische Lehren, wichtige Philosophen oder geistige Meister sowie heilige Schriften der Weltreligionen anspielen.

1 Deutsch: Von der inneren Einheit der Religionen. Freiburg i. Br. 2007.

[1] [2]

Vorwort

Wie die meisten unserer Werke ist auch dieses Buch nicht einem scharf umgrenzten Gegenstand gewidmet, sondern ist eher ein Überblick; die Kapitel sind kleine unabhängige Abhandlungen, die oftmals die gesamte Lehre zusammenfassen. Der dritte Aufsatz dieser Sammlung hat dem ganzen Buch seinen Namen verliehen; zufälligerweise passt diese Überschrift gut zu einer Argumentationsweise, die dieselben grundlegenden Lehrsätze unter verschiedenen Gesichtspunkten vorlegt und sie dabei um der Klarheit und der Vollständigkeit willen wiederholt.

Ohne Zweifel zielt die Metaphysik in erster Linie auf das Verständnis des gesamten Alls ab, das sich von der göttlichen Ordnung bis zu den irdischen Bedingtheiten erstreckt – dies ist die Wechselbeziehung von Âtmâ und Mâyâ –, sie erschließt aber darüber hinaus Bereiche, die intellektuell weniger anspruchsvoll, dafür aber für den Menschen von entscheidender Bedeutung sind; dies ist umso wichtiger, als wir in einer Welt leben, in der der Missbrauch der Intelligenz die Weisheit ersetzt.

Selbst wenn unsere Schriften im Durchschnitt zu nichts anderem führten, als dass für einige wenige jenes erlösende Boot wiederhergestellt würde, welches das Gebet ist, würden wir es Gott verdanken, uns hierdurch als zutiefst zufriedengestellt zu betrachten.

[3]

Vorrechte des menschlichen Zustandes

Umfassendes Erkenntnisvermögen, freier Wille, zur Uneigennützigkeit fähiges Gefühl: Dies sind die Vorrechte, die den Menschen auf den Gipfel der irdischen Geschöpfe stellen. Da es umfassend ist, nimmt das Erkenntnisvermögen Kenntnis von allem, was ist, in der Welt der Grundsätze ebenso wie in der der Erscheinungen; da er frei ist, vermag der Wille sogar das zu wählen, was seinem unmittelbaren Vorteil oder dem Angenehmen entgegensteht; da es uneigennützig ist, ist das Gefühl in der Lage, sich von außen zu betrachten und auch, sich an die Stelle anderer zu versetzen. Jeder Mensch kann das grundsätzlich, während das Tier das nicht kann, was den Einwand ausräumt, dass nicht alle Menschen demütig und wohltätig seien; freilich schwächen die Auswirkungen des »Sündenfalls« die Vorrechte der menschlichen Natur ab, sie können sie aber nicht abschaffen, ohne den Menschen selbst abzuschaffen. Zu sagen, der Mensch sei mit einem zur Objektivität fähigen Gefühl ausgestattet, bedeutet, dass er eine Subjektivität besitzt, die nicht in sich verschlossen ist, sondern offen für die anderen und für den Himmel; tatsächlich kann sich jeder normale Mensch in einer Lage befinden, in der er spontan die menschliche Fähigkeit zum Mitgefühl oder zur Großherzigkeit bekunden wird, und jeder Mensch ist in seinem Kern mit dem ausgestattet, was wir den »religiösen Instinkt« nennen könnten.

Umfassendes Erkenntnisvermögen, freier Wille, uneigennütziges Gefühl und folglich Erkennen des Wahren, Wollen des Guten, Lieben des Schönen. »Waagerecht« betrifft die Wahrheit die kosmische und damit die erscheinungshafte Ordnung; »senkrecht« betrifft sie die metaphysische Ordnung und damit die der Grundsätze. Und genauso für das Gute: Einerseits ist es praktisch, nebensächlich, bedingt; andererseits ist es geistig, [4]wesentlich, unbedingt. Dasselbe nochmals für die Schönheit, die auf den ersten Blick äußerlich ist, und dann ist sie die schöne Beschaffenheit, die der unberührten Natur, der Geschöpfe, der heiligen Kunst, des überlieferten Handwerks; sie ist aber erst recht innerlich, und dann ist sie die sittliche Güte, der Adel des Charakters. Gemäß einem islamischen Satz »ist Gott schön, und er liebt die Schönheit«; dies schließt ein, dass Gott uns einlädt, an seiner Natur – am Höchsten Gut – teilzuhaben durch die Tugend, im Zusammenhang mit der Wahrheit und dem Weg.

Idealerweise, maßgebend und berufungsmäßig, ist der Mensch Erkenntnisvermögen, Kraft und Tugend; nun ist es wichtig, die Tugend in zweierlei Hinsicht zu betrachten, einer »irdischen« und einer »himmlischen«. Auf die Gemeinschaft bezogen verlangt sie Demut und Mitgefühl; geistig besteht sie aus Furcht und Liebe Gottes. Furcht bringt die Ergebung in den göttlichen Willen mit sich; Liebe bringt das Vertrauen auf das göttliche Erbarmen mit sich.

Was Furcht und Liebe Gott gegenüber ist, wird – mutatis mutandis – Achtung und Wohlwollen dem Nächsten gegenüber; grundsätzliches Wohlwollen gegenüber jedem Unbekannten, nicht Schwachheit gegenüber dem bekanntermaßen Unwürdigen. Liebe bringt Furcht mit sich, denn man kann nur lieben, was man achtet; Vertrauen auf das göttliche Erbarmen und mystische Vertrautheit mit dem Himmel lassen nämlich keinerlei Lässigkeit zu; das ergibt sich schon aus jener entscheidenden Eigenschaft, die der Sinn für das Heilige ist, in welchem sich Furcht und Liebe begegnen.

In der Erfahrung des Schönen und der Liebe erlischt das Ich oder vergisst sich angesichts einer Größe, die anders ist als es selbst: Eine Wirklichkeit zu lieben, die würdig ist, geliebt zu werden, ist eine Haltung der Objektivität, welche die subjektive Erfahrung der Faszination nicht aufheben kann. Das heißt, die [5]Liebe hat zwei Pole, einen subjektiven und einen objektiven; Letzterer ist es, der für die Erfahrung bestimmend sein muss, da er der Daseinsgrund für die Anziehung ist. Aufrichtige Liebe ist nicht ein Umweg, sich selbst zu lieben; sie gründet auf einem Objekt, das der Bewunderung, der Verehrung, des Wunsches nach Vereinigung würdig ist; und die Quintessenz jeder Liebe, und sogar jeder Tugend, kann nur die Liebe Gottes sein.

Die Vielschichtigkeit unseres Themas lässt es zu, es nun aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und andere Bezugspunkte darzulegen, und das auf die Gefahr hin, uns zu wiederholen, einer Gefahr, der wir uns bei einem derartigen Gegenstand nicht entziehen können.

Das menschliche Erkenntnisvermögen besteht dem Vermögen und der Berufung nach in der Gewissheit des Absoluten. Die Vorstellung des Absoluten zieht einerseits die des Verhältnismäßigen und andererseits die der Beziehungen zwischen beiden nach sich, nämlich die Vorformung des Verhältnismäßigen im Absoluten und die Ausstrahlung des Absoluten in das Verhältnismäßige; die erste Beziehung führt zum persönlichen Gott und die zweite zum höchsten Engel.1

Der menschliche Wille besteht dem Vermögen und der Berufung nach im Streben nach dem absolut Guten; nebensächliche Güter, seien sie notwendig oder einfach nur nützlich, werden mittelbar durch die Wahl des Höchsten Gutes bestimmt. Der Wille ist ein Werkzeug, kein Anreger: Wir erkennen und lieben nicht das, was wir wollen, sondern wir wollen das, was wir erkennen und lieben; nicht der Wille ist [6]für unsere Persönlichkeit bestimmend, sondern das Erkenntnisvermögen und das Gefühl.2

Das menschliche Gefühl – die Seele, wenn man so will – besteht dem Vermögen und der Berufung nach aus der Liebe der Höchsten Schönheit und deren Widerschein in der Welt und in uns selbst; in diesem letzteren Fall bestehen die Schönheiten aus den Tugenden und auch, auf einer weniger herausragenden Ebene, in den künstlerischen Gaben. »Gott«, »ich« und »die anderen«: Dies sind die drei Dimensionen, denen jeweils die Frömmigkeit, die Demut und die Nächstenliebe entsprechen oder, so können wir sagen, die beschaulichen, charakterlichen und gemeinschaftsbezogenen Eigenschaften.

Bei der Frömmigkeit – und sie besteht im Wesentlichen im Sinn für das Heilige, für das Allübersteigende, für die Tiefe – richten sich die ergänzenden Tugenden der Demut und der Nächstenliebe auf das Höchste Gut und machen es zu ihrem Gegenstand; das heißt, die Eigenschaft der Frömmigkeit stimmt letztlich mit der Heiligkeit überein, zu welcher a priori die Freude durch Gott und der Friede in ihm gehören. In diesem Zusammenhang wird Demut zum Bewusstsein unserer metaphysischen Nichtigkeit, Nächstenliebe wird zum Bewusstsein des göttlichen Innewohnens in den Lebewesen und den Dingen; den Sinn für das Heilige zu haben bedeutet zu spüren, dass alle Eigenschaften oder Werte nicht nur aus dem Unendlichen hervorgehen, sondern auch zu ihm hinführen. Die Seele ist ihrem innersten Wesen nach die Liebe der Höchsten Schönheit, haben wir gesagt; von einem weniger grundlegenden und eher erfahrungsmäßigen Standpunkt aus könnten wir sagen, dass der Kern der Seele die unbewusste Suche nach einem [7]verlorenen Paradies ist, das in Wirklichkeit »inwendig in euch« ist.

Wenn die Grundtugenden Schönheiten sind, zeugt umgekehrt jede sinnlich wahrnehmbare Schönheit von den Tugenden: Sie ist »fromm« – das heißt »aufsteigend« oder »verwesentlichend« –, weil sie himmlische Urbilder bekundet; sie ist »demütig«, weil sie sich den allgültigen Gesetzen unterwirft und weil sie aufgrund dessen jedes Unmaß ausschließt; und sie ist »wohltätig« in dem Sinne, dass sie ausstrahlt und bereichert, ohne jemals etwas als Gegenleistung zu verlangen.

Fügen wir hinzu, dass in der Welt des Menschen allein die Geistigkeit Schönheit hervorbringt, ohne die der normale und nicht verdorbene Mensch nicht leben kann.

Raue Tugenden wie Mut und Unbestechlichkeit hängen einerseits mit den Grundtugenden zusammen und sind andererseits dadurch zu erklären, dass wir in einer begrenzten und unstimmigen Welt leben; im Paradies haben angreifende und abwehrende Tugenden keinen Daseinsgrund mehr. Für eine gerechte Sache zu kämpfen bedeutet, der Gemeinschaft gegenüber wohltätig zu sein; und es bedeutet Gott gegenüber demütig zu sein, Menschen gegenüber eine Autorität zu verkörpern, die uns aufgrund göttlichen Rechts zusteht. So kommt es, dass jede Tugend, auch die kämpferische, unmittelbar oder mittelbar mit der Gottesliebe in Verbindung steht, ansonsten sie eben keine Tugend wäre.

Wenn Frömmigkeit, Demut und Nächstenliebe die größten Tugenden sind, dann werden Gottlosigkeit,3 Hochmut, Ichbezogenheit und Boshaftigkeit die größten Untugenden sein; [8]das ist ganz offensichtlich, es lohnt sich aber, dies ausdrücklich zu sagen, zumal es manchmal weniger schwer ist, einen greifbaren Fehler zu bekämpfen als ein Tugendideal zu verwirklichen. Auf der Seite der Untugenden gibt es auch die Zerrbilder von Tugenden, die ihrerseits in ihrer Dummheit und Heuchelei wieder Untugenden sind: Aus der Tatsache, dass Gottlosigkeit, Hochmut und Ichbezogenheit Fehler sind, folgt nicht, dass falsche Frömmigkeit, falsche Demut und falsche Nächstenliebe gute Eigenschaften sind. Es besteht kein Zweifel, dass Güte nur dann vollständig ist, wenn sie mit Kraft verbunden ist.4

Am Rande der Tugend als spontaner Schönheit der Seele gibt es auch das Bemühen um Tugend; beides ist im Übrigen in der Mehrzahl der Fälle miteinander verbunden. Zweifellos ist eine Haltung oder ein Verhalten, zu dem man sich zwingen muss, noch keine erworbene Tugend, auch wenn es bereits eine Art Tugend ist, falls die Absicht aufrichtig ist.

Unsere Persönlichkeit gründet auf dem, was wir als wirklich erkennen und folglich auch, verneinend, auf dem, was wir als unwirklich oder weniger wirklich erkennen.

Genauso gründet unsere Persönlichkeit auf dem, was wir wollen, nämlich ein bestimmtes Gut und erst recht das Gute als solches und folglich auch auf dem, was wir ablehnen, nämlich ein bestimmtes Böses und a fortiori das Böse als solches.

Genauso gründet unsere Persönlichkeit auch auf dem, was wir lieben, nämlich die Schönheit – sei sie sinnlich wahrnehmbar, sittlich oder urbildlich – und folglich auch, verneinend, auf dem, was wir verabscheuen, nämlich die Hässlichkeit in all [9]ihren Anblicken. Hier könnte sich eine Bemerkung aufdrängen: Ganz offensichtlich verpflichtet uns die Schönheit einer sittlich hässlichen Person weder, diese Person wegen ihrer Schönheit zu lieben, noch, diese Schönheit wegen der sittlichen Hässlichkeit zu leugnen; umgekehrt verpflichtet uns die Hässlichkeit einer sittlich schönen Person weder, diese Person wegen ihrer Hässlichkeit zu verabscheuen, noch, diese Hässlichkeit wegen der sittlichen Schönheit zu leugnen. Derartige Wirrnisse treten häufig auf feineren Ebenen als der hier zur Rede stehenden auf, sodass es die Mühe wert war, auf diese fehlerhaften Urteile hinzuweisen.

Schönheit ist die Substanz, und Hässlichkeit ist das Akzidens; dieselbe Beziehung liegt bei Liebe und Hass vor; es ist die Beziehung zwischen Gut und Böse in ganz allgemeinem Sinne. Die Welt ist von Grund auf aus Schönheit geschaffen, nicht aus Hässlichkeit, und die Seele ist aus Liebe geschaffen, nicht aus Hass; die Welt könnte keine Hässlichkeit enthalten, wenn sie nicht a priori viel mehr Schönheit enthielte,5 und wir haben ein Recht auf Abneigung nur in Abhängigkeit von der Größe unserer Liebe.

Das Wirkliche zu erkennen heißt auch, das Unwirkliche oder das weniger Wirkliche, das Bedingte, das Verhältnismäßige zu erkennen; das Gute zu wollen heißt deshalb auch, das Böse zurückzuweisen; das Schöne zu lieben heißt ipso facto, das Hässliche zu verabscheuen, und sei es nur durch die Abwesenheit von Liebe oder durch Gleichgültigkeit. Denn wir befinden uns in einer Welt, die aus Unvollkommenheiten gewoben ist, was uns dazu zwingt, ihre Beschränkungen und ihre Unstimmigkeiten wahrzunehmen und sie, wenn nötig, abzulehnen oder zu bekämpfen.

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