Irmgard Braun klettert seit mehr als30 Jahren in den Bergen, im Klettergarten und in der Halle und ist eine echte Insiderin der Kletterszene.

In den achtziger Jahren waren ihre Klettereien für eine Frau eher ungewöhnlich: Sie machte Erstbegehungen im Oberen Donautal und stieg namhafte alpine Routen vor. Später kletterte sie erfolgreich in Wettkämpfen und wurde Mitglied der deutschen Sportkletter-Nationalmannschaft.

Ihre Begeisterung fürs Schreiben entdeckte die ehemalige Gymnasiallehrerin als Redakteurin beim Alpin-Magazin und später beim Süddeutschen Verlag Medien-Service. Sie veröffentlichte zahlreiche Artikel nicht nur übers Klettern und schrieb das Sachbuch „Klettern – aber sicher“. In der Bergkrimi-Reihe des Bergverlag Rother erschienen von ihr bisher „Nie wieder tot – Mord am Gardasee“, „Mutig aber tot – Mord am Grödner Joch“, „Vermisst – Monika Trautners1. Fall“ und „Verraten – Monika Trautners2. Fall“.

Heute lebt sie als freie Journalistin und Schriftstellerin in München. Ihre Website: www.irmgard-braun.de

 

Anmerkungen der Autorin

Alle Personen in diesem Krimi sind frei erfunden. Die beschriebenen Orte und Klettertouren entsprechen der Realität.

Die Geschichte spielt2017, also zu der Zeit, als die neue Zugspitzbahn gebaut wurde.

Ich habe versucht, auch für Nichtkletterer zu schreiben. Sollten gelegentlich Fachausdrücke oder Kletterer-Slang vorkommen, so hoffe ich, dass sie aus dem Zusammenhang heraus verständlich sind.

Irmgard Braun

Tod an der Alpspitze

Bergkrimi

Bergverlag Rother

Das vielfältige Schauspiel der Berge, die Erinnerungen,
aber besonders das Gefühl, dem Alltag entflohen zu sein,
das Gefühl der Freiheit und der Lebensfreude
waren der Grund meiner Liebe zu den Bergen
.

Walter Bonatti

1. KAPITEL

Mittwoch, 16. August

Über Sebastian Oberleitner knatterte der Polizeihubschrauber Edelweiß1. Er hatte ihn und seinen Kollegen Paul mit dem Windenseil in der Wand abgesetzt. Nun drehte er ab und flog Richtung Garmisch.

Ihr Standplatz war in Ordnung, zwei Klemmkeile, eine Schlinge. Es war nicht einfach gewesen, ein Stück festen Fels zu finden in dieser wilden Flanke – bröckliges Gestein, Schrofen, Schuttrinnen mit Resten schwärzlich verfärbten Schnees. Aus der Tiefe wehte ein eisiger Hauch zu Sebastian empor, es roch nach feuchtem Kalkstein.

In diesen Teil der Alpspitze kam fast nie Sonne. Und es gab keine Kletterroute.

Gut fünf Meter unterhalb des Standplatzes lag eine Gestalt reglos auf einem Vorsprung.

Die Leute von der Bergrettung waren längst fort; sie hatten nichts mehr für den Verunglückten tun können. Nun sollten die Polizisten die Leiche bergen und untersuchen, wie der Mann gestorben war. Pauls glattes, von einem Vollbart gerahmtes Gesicht war ernst. „Gehst zerscht obi?“, fragte er.

Sebastian war um einiges älter und erfahrener. Für ihn waren solche Einsätze Routine. „Okay.“ Er hängte sein Sicherungsgerät ins Seil, lehnte sich etwas zurück, stellte die Füße gegen die Wand und seilte vorsichtig ab. An einigen Stellen war der Fels so mürbe, dass er schon bei einer leichten Berührung mit der Fußspitze wegbröselte.

Als Sebastian bei dem Toten landete, fixierte er sich am Seil und schoss Fotos, um die Situation zu dokumentieren. Dann musterte er die Leiche.

Sie lag zusammengekrümmt auf der Seite, aus dem mit getrocknetem Blut verkrusteten Gesicht starrten leere Augen. Die Kleidung war zerfetzt, die Finger waren zerschunden und standen in unnatürlichem Winkel ab. Vielleicht war das bei dem Versuch geschehen, sich irgendwo in der etwa sechzig Grad steilen Wand festzukrallen. Die Schädeldecke des Mannes war eingedrückt.

Eine halbe Stunde später schwebte die in Plastik verpackte Leiche am Windenseil nach oben und wurde in den Bauch des Hubschraubers eingesogen.

Sebastian warf einen Blick zum blauen Himmel, dann auf die Uhr. Schönes Wetter, früher Nachmittag. „Ich schaue mir noch die Sturzstrecke an.“

„Dös brauchts ned“, sagte Paul. „De Bergwachtler ham gsagt, dös war a Unfall. Sogar mit Augenzeugen am Klettersteig, dass der Mo ausgrutscht is.“

„Sieht so aus, als wäre alles klar. Ich gehe trotzdem mal los.“

Sebastian kraxelte, von Paul gesichert, über brüchige Felsstufen empor und platzierte unterwegs ein paar nicht gerade perfekt sitzende Klemmkeile als Sicherung.

Ein kurzer, senkrechter Aufschwung, er stemmte sich hinauf und war plötzlich in flacherem Gelände.

An der Kante des Steilabbruchs war ein rostbrauner Fleck von der Größe eines Handtellers, daneben kleinere rötliche Sprengsel. Blut. Viel Blut. Vielleicht war der Verunglückte hier gerade noch zum Halten gekommen, hatte versucht, vom Abgrund weg emporzukriechen, ein grausiger Kampf …

Armer Kerl. Hoffentlich hatte er keine Kinder.

Sebastian folgte nun einer breiten Felsrinne; Steinchen lagen wie Rollsplitt auf glattem Kalk. Die Kletterei war leicht, aber heikel und verlangte volle Konzentration. Wenn man hier aus dem Gleichgewicht geriet, würde man nur mit viel Glück irgendwo zum Halten kommen.

Da – wieder rote Flecken. Und blaue Plastikspäne, die wahrscheinlich von einem Helm stammten. Aber der Tote hatte keinen getragen …

Was war da passiert? War der Kinnriemen beim Absturz gerissen? Wohl kaum, dazu brauchte es gewaltige Kräfte. Sebastian schob weitere Spekulationen beiseite und stieg höher hinauf. Über ihm tauchte eine Kolonne von Klettersteiggehern auf, die an Drahtseilen entlang Richtung Gipfel krochen. Einige blieben stehen und starrten auf ihn herab. Nur wenige Meter rechts der Ferrata war jemand ungesichert hinaufgeklettert, das hatten einige Leute den Bergwachtlern erzählt. Er hatte wohl den Stau umgehen wollen, nur etwa hundertfünfzig Meter vor dem Ausstieg zum Gipfel. Pure Ungeduld – wie auch oft bei tödlichen Autounfällen. Was für ein unnötiger Tod.

Sebastian folgte der Rinne bis zu ihrem Ende nahe dem Grat, entdeckte aber keine weiteren Hinweise. Dann kletterte er wieder zum Standplatz hinunter.

„Ois klor?“, fragte Paul.

„Nicht ganz. Sieht so aus, als hätte er einen Helm getragen.“

„Is doch wurscht.“

Sebastian zögerte. Es gab viele mögliche Erklärungen. Aber er mochte keine offenen Fragen bei einer Untersuchung. „Ich gehe noch ein Stück runter und schaue mich um.“

„Den Helm findst eh nimmer. Der is obikugelt bis Garmisch.“

„Wahrscheinlich. Aber keine Panik. Uns reicht’s noch leicht für den Biergarten heute Abend.“

„Du bist der Chef.“

Sebastian seilte ab, vorbei an der Stelle, wo die Leiche gelegen hatte. Etwa zwanzig Meter weiter unten entdeckte er den Helm am oberen Rand einer Schlucht.

Sebastian pendelte am Seil hinüber, zog ihn von einer Felszacke und hängte ihn an seinen Klettergurt.

Dann schaute er ihn sich genau an.

Der Plastikverschluss des Kinnriemens war offen. Vielleicht war er nicht richtig geschlossen gewesen.

Die blaue Schale des Helms hatte ein paar Macken, davon abgesehen war sie intakt. Und der Mann hatte sich eine schwere Schädelverletzung zugezogen. Dafür gab es nur eine Erklärung: Das war passiert, nachdem er den Helm verloren hatte.

***

Sebastian streifte das dunkelgraue Hemd mit dem Schriftzug „Polizei“ über den Kopf und warf es auf den Boden. Dann ließ er sich auf der Bettkante nieder.

Es war jedes Mal dasselbe nach einer Leichenbergung. In der Wand tat er das Notwendige, professionell, effektiv, gefühllos. Aber sobald er seine Berufskluft abgelegt hatte, kamen die Bilder.

Der blutige Krater im Schädel des Toten. Seine gequälte, verkrümmte Gestalt. Die glasigen Augen.

Sebastian stützte beide Ellbogen auf die Knie und legte den Kopf zwischen seine Hände. Besser jetzt daran denken als schreiend mitten in der Nacht aufwachen, verschwitzt, mit wild klopfendem Herzen.

Was für ein Mensch war der Tote gewesen? Hatte ihn jemand geliebt, hatte er Freude am Leben gehabt?

All das spielte keine Rolle mehr für ihn. Jetzt lag er in einer Schublade der Pathologie, mit bläulicher Haut und kalt wie Eis. Sebastian wusste, wie sich eine tiefgekühlte Leiche anfühlte.

Schon wieder dieses Bild. Ein Arm, der aus einem Lawinenkegel ragte. Schwitzen, graben. Der steinhart gefrorene Körper eines jungen Mädchens, ein von blonden Locken gerahmtes Gesicht.

Sein erster Einsatz als Bergwachtler mit einer Leiche … Damals war er achtzehn Jahre alt gewesen und hatte gerade sein Abitur gemacht.

Er hatte so viele Tote gesehen, zuerst als Retter, später als Polizeibergführer. Und er steckte es noch immer nicht ohne Weiteres weg. Vielleicht war er zu sensibel. Als kleiner Junge hatte er einmal eine tote Blaumeise auf der Terrasse gefunden. Und er hatte geweint und Schattenrisse von Vögeln an die Fensterscheibe geklebt.

Natürlich waren auch die meisten seiner Kollegen nicht völlig abgebrüht. Es half, sich hinterher im Biergarten zu treffen, vielleicht über das Geschehene zu reden, miteinander zu entspannen.

Er zog sich vollends aus, ging ins Badezimmer, stellte sich unter die Dusche und drehte das Wasser heiß. Der Strahl brannte in seinem verspannten Nacken, seine Haut prickelte. Er griff nach der Shampooflasche. „For Men. Stand & Volumen mit Hopfen“ war darauf zu lesen. Eigentlich witzig. Aber jetzt konnte er nicht einmal lächeln. Er drückte eine Portion in die Hände. Geschmeidig-glitschig glitten sie über seine kräftige Brust, den Bauch. Vergiss alles. Genieße. Was bleibt außer dem Jetzt?

Er reckte sich. Das Wasser strömte an ihm herunter und verschwand gluckernd im Abfluß.

Es nahm alles mit.

Eine Vorstellung, die ihm schon oft geholfen hatte, um Abstand zu gewinnen.

Er atmete ein paar Mal tief durch und stellte die Dusche ab.

Das Telefon schrillte. Festnetz. Hoffentlich nicht noch ein Einsatz.

Er eilte ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. Wasser tropfte auf den Teppichboden. Egal.

„Oberleitner.“

Leas helle Stimme. „Endlich hebst du ab, Papa! Ich habe eine Drei in Mathe!“

Ein Lächeln spannte seine Lippen. „Das ist großartig! Gut gemacht!“

2. KAPITEL

Einen Monat vor dem Tod eines Mannes an der Alpspitze

Freitag, 14. Juli

Jana stieg über einen mit Latschen bewachsenen Kamm empor. Links von ihr baute sich das Massiv der Zugspitze mit dem Jubiläumsgrat auf, rechts spitzte der Kofel aus bewaldeten Hängen, und der Talboden tief unter ihr war rötlich-braun angehaucht – das Moos zwischen Ettal und Oberammergau.

Was das wohl für eine Geburtstags-Überraschung war, die Bruno ihr mit geheimnisvoller Miene angekündigt hatte? Wie er bei ihr Neugier und Vorfreude geweckt hatte, war raffiniert. Offenbar kannte er sie besser, als sie es ihm zugetraut hätte.

Es war elf Uhr vormittags, bisher war Jana keinem Menschen begegnet. Eine Brise wehte ihr das Haar aus dem Gesicht und kühlte ihre verschwitzte Stirn. Sie war teilweise gejoggt, auf der Strecke vom Ochsensitz zum Notkargipfel gab es einige etwas flachere Passagen. Seit sie nicht mehr Tag für Tag im Büro hocken musste, war sie richtig fit geworden.

Der eigene Boss zu sein, war ein herrliches Gefühl. Dass sie nun nach Lust und Laune zu Hause am Computer arbeiten konnte, ohne sich um ihr Einkommen sorgen zu müssen, war Brunos Verdienst. Er hatte ihr ein Atelier eingerichtet, wie sie es sich schon seit Langem erträumt hatte. Und er hatte ihr sein Paradies gezeigt, das Klettern draußen in der Natur. Vorher hatte sie mit viel Spaß in der Halle gebouldert, aber eine große Wand zu durchsteigen war etwas ganz anderes – ein großartiges Abenteuer. Tiefblicke in wilde Schluchten, über dem Abgrund tanzen, die plötzliche Weite in der Brust, wenn sie den Gipfel erreicht hatte …

Bruno hatte ihr geduldig das Sichern und das Legen von Klemmkeilen erklärt und ihr das Abseilen beigebracht. Immer hatte er die Gebirgs-Anfängerin beschützt – wenn auch vielleicht etwas zu sehr. Und wie viel sie in ihrem ersten gemeinsamen Bergsommer erlebt hatten! Die Urgewalt eines Gewitters an der Fiameskante … Blitze schlugen links und rechts von ihnen ein, Donner hallte von den Wänden wider. Sie hockten vor Kälte und Angst schlotternd auf einem Felskopf. Bruno gab ihr seine wasserdichte Jacke und drückte sie fest an sich … Hinterher hatten sie in einer blühenden Almwiese gelegen und einander geliebt.

Was für ein Kontrast zu ihrer Zeit im Ruhrpott und in Berlin! Und doch … Sie hätte das Zusammenleben mit Bruno eine Weile erproben sollen. Jemanden ein Jahr lang zu kennen und dann gleich zu heiraten war ein Fehler.

Viel Gefühl, spontane Entschlüsse – so war sie eben. Nun musste sie irgendwie damit zurechtkommen, dass ihr Ehemann nicht so war, wie sie es sich in der ersten Verliebtheit vorgestellt hatte.

Vor ihr tauchte ein grasbewachsener Buckel mit einem Gipfelkreuz auf, das mit einem Sonnensymbol geschmückt war. Aber was war das denn? An seinem Fuß leuchtete ein roter Fleck. Hatte jemand seine Jacke oder eine Tüte liegenlassen? Sie marschierte mit langen Schritten darauf zu.

Nein, das war kein vergessenes Kleidungsstück, sondern rote Blumen, wahrscheinlich aus Plastik. Manche Leute glaubten eben, man müsse Marterl, Kreuze und sonstige religiöse Stätten mit kitschigem Zeug aufhübschen.

Ein paar Schritte noch. Nicht zu fassen – echte Rosen! Ein prächtiger Strauß, professionell gebunden und ganz frisch.

Sie bückte sich zu ihm hinunter. An einem Bändchen hing eine Karte mit der Ziffer „30“ in verschnörkeltem Golddruck, und daneben stand: „Herzlichen Glückwunsch!“ Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Brunos Überraschung! Wie schön! Sie drehte die Karte um. Auf der Rückseite war kein Text, aber das war auch nicht nötig. Es gab sicher keine andere Frau auf der Notkarspitze, die heute dreißig Jahre alt wurde.

Sie hob die Blumen auf und presste sie an die Brust. In ihre Nase stieg süßer Duft. Sie sog ihn tief ein. Wie wunderbar romantisch. Einen so ungewöhnlichen Einfall hätte sie ihrem eher praktisch denkenden Ehemann nie zugetraut.

Sie hatte mitbekommen, dass er sehr früh aufgestanden war. Für ihn war das nicht ungewöhnlich, manchmal fuhr er schon um halb sieben in sein Geschäft in der Innenstadt. Aber diesmal hatte er es ihr zuliebe getan. Vermutlich hatte er den schnelleren Auf- und Abstieg über die Ettaler Mühle genommen, deshalb hatte sie sein Auto nicht gesehen und war ihm nicht begegnet.

Voller Freude hüpfte sie den Pfad Richtung Ettaler Mühle hinunter.

***

Jana eilte auf die mit Fresken in zarten Farben bemalte Fassade des „Asam-Schlössl“ zu, des Gasthofs, in dem sie vor einem Vierteljahr ihre Hochzeit mit Bruno gefeiert hatte. Heute würden es nicht ganz so viele Gäste sein, und auch ihre Mutter hatte abgesagt – mit der Erklärung, sie hätte gerade wieder eine depressive Phase und keine Energie, so weit zu fahren.

Die Krankheit hatte sie zum ersten Mal gepackt, als Janas Vater durch einen Verkehrsunfall gestorben war. Und sie lastete schwer auf der verwinkelten, düsteren Wohnung, in der Jana mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Vanessa gelebt hatte. Die Tür hinter sich zuzuschlagen und auf die Straße hinauszugehen, war eine Erlösung gewesen. Statt sich daheim hinzusetzen und Hausaufgaben zu erledigen, hatte Jana sich mit einer Gruppe Jungs herumgetrieben und Fabrikgebäude und Brücken mit Graffiti besprayt.

Trotzdem war sie eine passable Schülerin gewesen. Dank der Unmengen Bücher, die sie verschlang, alles querbeet, Fantasyromane, Wissenschaftslektüre für Normalverbraucher, Krimis, Historienschinken. Die Lust am Lesen hatte sie von ihrem Vater, einem schrägen Vogel, der neben seiner Arbeit als Dachdecker Gedichte verfasst hatte, die niemand außer ihm selbst verstand.

Vorbei. Nun gehörte Jana zur Schicht der wohlhabenden Bürger, die in eleganten Lokalen feierten.

Blöderweise hatte sie keine Zeit gehabt, sich für ihren Ehrentag zu schminken. Sie hatte es gerade noch geschafft, das rote Kleid mit den Spaghettiträgern und die farblich dazu passenden Schuhe anzuziehen – ein neuer Kunde hatte darauf bestanden, dass sie ihm heute noch einen Vorschlag für die Gestaltung seiner Website zukommen ließ.

Zum Glück hatte Bruno die gesamte Organisation ihres Geburtstagsfests übernommen. Der Empfang fand auf der Terrasse statt, unter großen weißen Sonnenschirmen mit Blick in einen kleinen Park.

Jana entdeckte ihren Ehemann in einem Knäuel von Leuten; er grinste von einem Ohr zum anderen. Die dunkelbraunen Haare hatte er frisch gegelt, sodass sie keck hochstanden, und der neue Lodenjanker betonte seine breiten Schultern. Mit seinem kräftigen Kinn und der gebräunten Haut hätte er in einen Werbespot für Outdoor-Mode gepasst.

Er hob sein Glas, sie konnte nicht verstehen, was er sagte, die Menge brach in schallendes Gelächter aus. Jana schlängelte sich an verschiedenen Grüppchen vorbei, grüßte nach rechts und links, ihre Freundin Melanie mit männlichem Anhängsel, ein paar Mitglieder ihrer Alpenvereinssektion, Geschäftsfreunde von Bruno. Jetzt erblickte er sie. Er breitete die Arme aus. „Jana – endlich. Wir haben nur noch auf dich gewartet!“

Sie trat auf ihn zu, umarmte und küsste ihn. „Das war eine tolle Überraschung, Bruno! Vielen, vielen Dank!“

Sie lösten sich voneinander. „Jana, wieso hast du –“ Er brach ab, denn nun tauchte eine Kellnerin im rot-blauen Dirndl auf und fragte: „Dürfen wir jetzt den Sekt servieren?“

„Ja bitte, wir wollen gleich auf unser Geburtstagskind anstoßen.“

Es wurde ein gelungenes Fest. Schade, dass Jana Brunos Schwestern so wenig mochte. Stimmen süß wie Marshmallows, ein Getue, als spielten sie in einer amerikanischen Komödie mit, und ständig Bruno hier, Bruno da, so als gäbe es keine anderen interessanten Menschen bei dieser Feier.

Sie hatte kaum Zeit, mit ihrem Mann zu reden, Freunde hatten Gedichte und Vorführungen vorbereitet, sie musste Geschenke auspacken. Am meisten freute sie sich über einen Anhänger mit einer winzigen, fein gearbeiteten Eidechse. Ihre Schwester Vanessa war wirklich eine hervorragende Goldschmiedin.

Zwischen Grießnockerlsuppe und Entenbrust mit Sesam-Honigkruste gelang es Jana endlich, ein paar Worte mit Bruno zu wechseln. Mit einem Augenzwinkern sagte sie zu ihm: „Es war wunderbar auf der Notkarspitze. Ab jetzt ist das mein Lieblingsgipfel!“

Tom, der Geschäftsführer von Brunos Möbelhaus, plumpste auf den Stuhl neben ihm. „Na da haste aber ne tolle Location gefunden, Bruno!“

„Klar doch. Fresken von 1730, Spätbarock. War mal ein echtes Schloss.“

Das stimmte nicht ganz, es handelte sich nur um das ehemalige Wohnhaus des Malers und Bildhauers Cosmas Damian Asam, der zwar reich, aber kein adliger Schlossbesitzer gewesen war. Nun ja, solche Übertreibungen waren halt typisch Bruno.

„Und deine Jana sieht aus wie eine Prinzessin“, fuhr Tom fort und kratzte seinen Dreitagebart. Der stand ihm gar nicht, er hätte besser sein nicht vorhandenes Kinn unter einem Vollbart versteckt. Er lachte dröhnend. „Ich beneide dich, Bruno. Deine Frauen werden immer jünger und schöner.“

Schön. Das Kompliment war völlig daneben. Jana hatte dichtes, dunkelbraunes Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte, aber ihr Gesicht war nichts Besonderes, und wegen ihrer Leidenschaft für Dickmann’s Schaumküsse und Käsekuchen war ihre Körpermitte nicht gerade wie bei einem Model.

Bruno streichelte ihren Arm. „Du bist ein alter Macho, Tom! Für dich zählt bei einer Frau nur das Aussehen. Für mich ist es viel wichtiger, dass Jana keine Prinzessin auf der Erbse ist. Sondern eine, die beim Biwak auf Steinen schläft, ohne herumzujammem, und die –“

Tom fiel ihm ins Wort. „He, Bruno, war doch nicht ernst gemeint, hab dich bloß auf die Schippe genommen!“

Einen Augenblick lang erschien eine steile Falte auf Brunos Stirn. „Trotzdem bist du ein Macho. Deine Frauen sind immer mindestens fünfzehn Jahre jünger als du und viel hübscher.“

„Hübscher als ich, das gibt’s doch gar nicht!“

Wumm-Tata, Wummrumm-Tata, eine „original bayerische Blaskapelle“, die ihr Bayerntum durch blau-weiße Rauten auf den Hemden bewies, platzte in das Pingpong-Spiel der Geschäftspartner.

***

Um Mitternacht fuhren Jana und Bruno im Taxi nach Hause, bei beiden war die zulässige Promillegrenze überschritten.

„Und? Wie gefällt dir meine Überraschung?“, fragte er.

Sie kuschelte sich an ihn. „Einfach fantastisch! Dass du dir so viel Mühe gegeben hast!“

„Das war doch nicht mühsam. Ich liebe dich, Jana.“

Im Flur ihres Hauses küssten sie einander. „Du bist toll, Bruno“, sagte Jana. „Dass du dich so gut in mich reindenken kannst, hätte ich dir gar nicht zugetraut!“

„Ich frage mich nur, wie du dahintergekommen bist. Hast du etwa meine Mails angeschaut?“

Jana stutzte. „Äh, das kapiere ich nicht. Was soll das mit den Mails?“

Bruno musterte sie. „Du brauchst nicht die Unschuldige zu spielen, ich weiß doch, wie neugierig du bist.“

„Ich habe deine Mails nicht gelesen!“

„Aber das ist die einzige Erklärung, dass du es schon gewusst hast!“, gab Bruno zurück.

„Was gewusst?“

„Was ich dir schenke!“

Was sollte denn das jetzt? „Aber …“

„Ich wollte nicht, dass du schon vor heute Abend davon erfährst“, erklärte Bruno.

Nun war Jana vollkommen verwirrt. „Wieso Abend? Die Rosen waren doch heute Mittag oben am Gipfelkreuz!“

Er starrte sie an. „Du … du hast … Rosen am Gipfel gefunden?“

Eine seltsame Reaktion. Wollte er sie auf den Arm nehmen? Sie lachte. „Natürlich. Und deine Rosen sind wunderschön. Dunkelrot ist meine Lieblingsfarbe.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich war heute nicht auf der Notkarspitze. Vielleicht war irgendein Pärchen dort oben, ein Heiratsantrag …“

Das war ja der Hammer! Die Rosen stammten gar nicht von Bruno. „Aber so einen Zufall gibt’s doch nicht! Da war eine Karte dabei, mit der Zahl Dreißig und ‚Herzlichen Glückwunsch.“

Er packte sie an den Schultern. Seine Stimme klang heiser. „Wer war das?“

„Ich habe keine Ahnung!“

„Das nehme ich dir nicht ab, dass jemand dir rote Rosen schenkt und du weißt nicht, wer das ist!“

„Bruno, du spinnst!“

„Warum hast du mir nicht von ihm erzählt?“ Seine Finger bohrten sich in ihre Schultern.

Sie riss sich von ihm los. „Jetzt höre mir erst mal zu! Natürlich habe ich gedacht, die Rosen sind von dir, sonst hätte ich mich nicht bei dir für diese Überraschung bedankt. Und wenn ich geglaubt hätte, dass sie von einem anderen Mann stammen, hätte ich sie bestimmt nicht mit nach Hause gebracht!“

Er atmete schwer. „Wo sind die Blumen?“

„In meinem Arbeitszimmer.“

Er drehte sich abrupt um, eilte durch den Flur und stürmte die Treppe hinauf. Jana folgte ihm.

Mit finsterem Blick musterte er den üppigen Strauß auf ihrem Schreibtisch.

Jana fischte das Kärtchen mit der Zahl Dreißig aus dem Papierkorb und reichte es ihm. „Da. Kein Absender. Ich konnte doch nicht wissen, dass der Strauß nicht von dir ist!“

In seinem Gesicht arbeitete es, dann stieß er einen langen Seufzer aus. „Entschuldige bitte. Aber von wem könnte er dann sein? Hat außer mir noch jemand gewusst, dass du auf die Notkarspitze gehst?“

Jana schüttelte den Kopf. „Nein. Das alles ist wirklich mysteriös … Völlig unerklärlich.“

Bruno sagte nichts und runzelte die Stirn.

„Und welche Überraschung hast du dir ausgedacht, Bruno?“

„Ich hoffe, sie gefällt dir. Obwohl du von den roten Rosen so begeistert bist.“

Er zog einen Umschlag aus der Tasche seines Jankers und reichte ihn ihr.

Jana riss ihn auf. Mit Kirschblüten bedruckte Blätter – eine Japanreise! Sie liebte japanische Kunst, und Klettergebiete gab es dort auch. Sie umarmte Bruno und drückte ihn fest an sich. „Das ist wunderbar. Danke!“ Sie küsste ihn. „Aber Japan ist doch schweineteuer, oder?“

„Für dich ist mir nichts zu teuer. Und gewöhn dich dran, mein Schatz, ich verdiene ziemlich gut.“

3. KAPITEL

Morgenlicht fiel durch das Küchenfenster und malte helle Kringel auf die Granitplatte des Esstischs, an dem Jana hockte. Sie löffelte ihr Müsli und studierte gleichzeitig die „Süddeutsche“. Es war wunderbar still. Gut, dass Bruno schon mit einem Sektionskameraden ins Gebirge aufgebrochen war, er plauderte morgens gern, obwohl ihm Jana schon öfter gesagt hatte, dass sie lieber lesen wollte. Er vergaß es immer wieder, dass sie um diese Zeit ein Zombie war.

Sie schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein.

Eigentlich wäre sie bei dem schönen Wetter lieber an einen Felsen gefahren, aber ihre Schwester hatte sie angefleht, zusammen mit ihr und Patrick in die Kletterhalle zu gehen. Patrick hatte darauf bestanden, dass Jana mitkam, weil Vanessa noch nie geklettert war und ihn nicht sichern konnte.

Jana nahm ihr Smartphone vom Fensterbrett. Vielleicht hatte Vanessa sich noch einmal gemeldet – ah ja, da war eine neue SMS, aber nicht von ihrer Schwester. Die Nummer war ihr unbekannt. Sie tippte darauf.

Guten Morgen, Jana. Ich denke dauernd an dich.

Schon wieder so eine anonyme Nachricht. Seit ihrer Heirat vor drei Monaten hatte sie schon vier- oder fünfmal SMS und Mails ohne den Namen eines Absenders bekommen. Zuerst hatte sie sich nichts dabei gedacht, sie hielt es für einen blöden Scherz. Die vorletzte Nachricht war etwa zwei Wochen her, die letzte erst drei Tage. Allmählich wurde das lästig.

Bisher hatte sie mit Bruno nicht darüber geredet, weil er sich nur unnötig aufgeregt hätte. Vor der Heirat hatte er seine Eifersucht nie gezeigt, nun führte er sich auf, als wäre sie sein Besitz. Er reagierte schon sauer, wenn sie sich allzu lange mit einem anderen Mann unterhielt; beim Zusammensein mit Freunden und Bekannten hatte Jana das Gefühl, sich durch ein Minenfeld zu bewegen. Sie hatte schon öfter versucht, mit ihm darüber zu reden, aber er lenkte ab oder gab nur oberflächliche Antworten. So durfte das nicht weitergehen … Sie musste endlich lernen, sich gegen ihn durchzusetzen.

Jana las irgendetwas über Flüchtlingsprobleme, ohne wirklich zu verstehen, worum es genau ging. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren.

Eine Idee durchfuhr sie. Hatte ihr der unbekannte SMS-Schreiber die Rosen geschenkt? Nein, nur Bruno hatte von ihrem Ausflug gewusst. Oder … war es möglich, dass dieser seltsame Verehrer zufällig ihr Auto am Ausgangspunkt ihrer Wanderung gesehen hatte? Aber wie hätte er im Graswangtal so schnell Blumen und eine Karte besorgen können? Wie auch immer, sie musste dem Kerl klarmachen, dass seine Aufmerksamkeiten unerwünscht waren. Statt seine Nachricht wie sonst in den Papierkorb zu schieben, tippte sie auf den Rücksende-Pfeil und schrieb:

Bitte hören Sie damit auf, mir Grüße oder dergleichen zu schicken. Ich habe überhaupt kein Interesse daran.

Eine halbe Stunde später parkte Jana ihren alten Fiat vor dem sechsstöckigen Hochhaus, in dem sie vor ihrer Heirat mit Vanessa zusammen gewohnt hatte, und ging am Spielplatz vorbei zum Eingang. Ihre Schwester hatte sie gebeten, sie und Patrick abzuholen, den sie zum Frühstück eingeladen hatte. Dass Vanessa auf einmal klettern lernen wollte, konnte nur einen Grund haben: Sie war verliebt. Seit Tagen rief sie immer wieder bei Jana an, fragte sie aus, was sie in der Kletterhalle anziehen sollte und wie man sich dort benahm. Bei diesen ausführlichen Vorgesprächen hatte sie gefühlt hundertmal den Namen Patrick verwendet.

Ausgerechnet Patrick. Bisher hätte Jana die Typen, von denen Vanessa schwärmte, nicht mal mit einer Zange angefasst, sie waren Möchtegern-Gurus oder Schlaftabletten, die Sport für egoistisch hielten, solange es so viel Elend auf der Welt gab.

Patrick war ganz anders. Ein Abenteurer, der in Patagonien, Südamerika und Alaska wilde Bergtouren unternahm, und zwar keiner von der windverblasenen, kargen Sorte, sondern ein charmanter Gesprächspartner. Wenn Jana ihn bei Sektionsveranstaltungen oder in der von Bruno geleiteten Klettergruppe traf, flirtete sie manchmal ein kleines bisschen mit ihm. Allerdings nur, wenn Bruno nicht in der Nähe war …

Auf die Frage, ob Patrick ihr neuer Liebhaber sei, hatte Vanessa geantwortet: „Wir sind uns bisher nur auf geistiger Ebene nahe gekommen. Ich habe von Anfang an gespürt, dass sich unsere Auren berühren.“

Jana hatte nichts gegen spirituell orientierte Menschen, sie fand deren Sichtweisen interessant. Doch bei Vanessa nervte es, weil sie gern andere Leute belehrte, es gebe mehr Dinge zwischen Himmel und … blabla. Immer wieder derselbe abgedroschene Spruch. Trotzdem freute sich Jana darauf, ihre Schwester zu sehen. Sie verband so vieles: die Trauer über den Tod ihres Vaters. Die schreckliche Zeit danach, als ihre Mutter krank wurde und nur noch herumsaß und vor sich hinstierte. Jana war damals zehn Jahre alt gewesen, Vanessa fünfzehn. Ihre Schwester hatte gekocht, Jana war fürs Putzen zuständig. Und beide hatten ihre Aufgaben nicht gerade mit Bravour gemeistert.

Jana warf einen Blick auf die Uhr und beschleunigte ihre Schritte. Schon wieder mal fünf Minuten zu spät, eine Rüge war ihr sicher. Natürlich war es nicht fair, andere Leute warten zu lassen, aber irgendwie schaffte es Jana selten, pünktlich zu sein, da halfen alle Erziehungsversuche ihrer älteren Schwester nichts.

Sie betrat den Flur, ignorierte den Lift, eilte die Treppe hinauf in den fünften Stock und klingelte.

Als sich die Tür öffnete, schlug Jana ein Schwall Vanille- und Zimtduft entgegen. Vanessa hatte ihr blond gesträhntes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, hellrosa Lippenstift aufgelegt und ihre schmale Figur in hautenge Jeans gezwängt. Auf den ersten Blick hätte man sie nie für Mitte dreißig gehalten. „Hallo Schwesterchen. Danke, dass du mitkommst.“

Janas Blick fiel auf einen prallen Rucksack, der so groß war, dass eine komplette Trekking-Ausrüstung hineingepasst hätte. „Ich glaube, in der Kletterhalle ist das Zelten verboten.“

Vanessa kicherte. „Man weiß ja nie. Vielleicht muss ich dort in der Wand biwakieren.“

Patrick kam durch den Flur auf Jana zu. Groß und schlank, wirres, schwarzes Haar. Dunkle, intensive Augen in einem jungenhaften, fast weichen Gesicht – ein hübscher Gespiele für Vanessa. Jana hoffte, dass sie nicht zu viel von ihm erwartete, er war mindestens zehn Jahre jünger als ihre Schwester. Oh je, es war schon peinlich: immer diese Vorurteile.

„Hi, Patrick“, sagte Jana. „Das ist nett von dir, dass du Vanessa das Klettern beibringen willst.“

„Sie hat mich mit vorzüglichem Kaffee aus fairem Handel, Bio-Brötchen und einer spannenden Unterhaltung über die Auren und die Bedeutung ihrer Farben belohnt.“

Lag da ein etwas sarkastischer Unterton in seiner Stimme?

Vanessa strahlte. „Ja, das war schön. Gehen wir.“ Sie griff nach ihrem Rucksack.

„Hast du auch eine Kiste mit Verbandszeug dabei, Vanessa?“, fragte Jana.

„Nur ein paar Pflaster. Patrick hat mir genau erklärt, dass beim Klettern im Nachstieg wirklich nichts passieren kann.“

***

In der Damen-Umkleide der Kletterhalle roch es nach Seife, Schweiß, Parfums und Duschbädern mit verschiedenen Aromen, ein Föhn summte. Ein kleines Mädchen kam herein und blieb kurz in der Türöffnung stehen. Eine Frau, die gerade aus der Dusche stieg, kreischte auf, schlang schnell ein Handtuch um ihren nackten Leib und schimpfte: „Die Typen da draußen ham mi voll im Visier g’habt! Der Architekt, der des baut hat, g’hört mit Kartoffelsalat derschossen.“

Jana kicherte in sich hinein und schlüpfte in Shorts und ein hautenges schwarzes T-Shirt. Damit war sie bereit zum Aufbruch, aber Vanessa war noch nicht fertig. Manchmal fiel es Jana schwer zu akzeptieren, dass andere Menschen langsamer waren als sie. Um die Wartezeit zu überbrücken, griff sie nach ihrem Smartphone. Eine neue SMS. Schon wieder dieser Arsch.

Dass du mir antwortest, Jana, freut mich. Natürlich verstehe ich, dass du keine Grüße von mir willst, weil du Schwierigkeiten mit deinem Ehemann befürchtest. Ich hoffe, dass du dich über mein Geschenk freuen wirst.

Penetrant, so was. Es war an der Zeit, Bruno von dem Unbekannten zu erzählen, egal ob das seine Eifersucht nun anstachelte oder nicht. So wie er über Bruno schrieb, musste es jemand sein, der ihn ziemlich gut kannte. Aber was bezweckte er mit diesem blöden Geschreibsel? Und von welchem Geschenk war hier die Rede? „Freuen wirst“, stand da, also meinte er damit nicht die Rosen, sondern etwas, das sie erst noch erhalten würde.

Vanessas Stöhnen schreckte sie aus ihren Überlegungen.

Jana steckte ihr Handy in den Rucksack und wandte sich ihrer Schwester zu. Sie humpelte mit verzerrtem Gesicht Richtung Ausgang. Dabei zeigte sie auf die von Jana entliehenen Kletterschuhe an ihren Füßen. „Wir haben doch dieselbe Größe. Warum sind die dann so eng? Damit kann man ja nicht laufen!“

„Die sind nicht zum Laufen da, sondern zum Klettern. Deshalb zieht man die Schuhe erst an, wenn man in die Wand einsteigen will.“

Vanessa wechselte wieder in ihre lila Turnschuhe.

Auf dem Weg zur Kletterwand sagte sie: „Hach, ich bin so nervös, hoffentlich stelle ich mich nicht furchtbar dumm an. Das wäre so peinlich, wenn Patrick mir zuschaut.“

In der folgenden Stunde lernte Vanessa zuerst, dass es ungefährlich war, sich ins Seil zu hängen, dann versuchte sie einen Vierer im Nachstieg. Jana sicherte und kochte innerlich, dass nichts vorwärts ging, Patrick redete der Kletter-Novizin gut zu. Jedes Mal, wenn sie das Bein hob, um es eventuell auf einen Tritt zu stellen, lobte er sie überschwänglich. Woraus Vanessa folgerte, dass sie ihre Sache gar nicht schlecht machte und sich anstrengte, bis sie tatsächlich oben am Umlenkhaken ankam. Danach schlug sie vor, zur Feier ihrer ersten Klettertour eine Pause im Bistro einzulegen.

Sie ließen sich an einem der Tische nieder, Jana mit Cappuccino und Käsekuchen, Vanessa trank Ingwertee und Patrick alkoholfreies Bier.

„Vanessa hat mir erzählt, dass ihr euch beim Yoga der Sektion kennengelernt habt“, sagte Jana. „Wie viele Männer sind da eigentlich dabei?“

„Außer mir nur noch der Ferdl“, erwiderte Patrick.

Jana schüttete Zucker auf den Milchschaum. „Ach ja, stimmt, Bruno hat sich beim Sektionsabend mal über Ferdl lustig gemacht, weil er behauptet hat, dass Yoga ihm viel fürs Klettern nutzt, und er ist trotzdem so unbeweglich wie eine Schildkröte. Warum machst du eigentlich Yoga, Patrick?“

„Man trifft dort viele hübsche Frauen. Du würdest gut in unsere Gruppe passen.“ Er zwinkerte ihr zu.

Jana warf einen schnellen Blick auf ihre Schwester. Ihr Mund war ein schmaler Strich.

„Das muss so ähnlich sein, wie wenn man als Frau in eine Hardcore-Muckibude geht“, sagte Jana.

„Hast du Erfahrung damit?“, fragte Patrick.

„Ich wollte stark werden und mir von den Typen in meinem ziemlich asozialen Viertel nichts gefallen lassen. Aber das Stemmen von Gewichten ist mir bald langweilig geworden.“

„Jana hat ständig irgendwelchen Sport getrieben“, warf Vanessa ein. „Volleyball, Judo, Joggen, Turnen, was weiß ich noch alles, meistens nur ein halbes Jahr lang, aber dafür gleich mehrmals in der Woche. Aber so viel Sport ist nicht gut. Damit verdrängt man nur seine Probleme.“

Jana ging nicht auf die Kritik ein. „Stimmt, ich habe mit vielen Sportarten herumexperimentiert. Aber jetzt habe ich das Klettern, und dabei bleibt es.“