cover image

Eduard von Keyserling

Dumala

Roman

Eduard von Keyserling

Dumala

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: S. Fischer, Berlin, 1915 (190 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962814-46-5

null-papier.de/608

null-papier.de/katalog

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Dumala

Der Pas­tor von Du­ma­la, Er­win Wer­ner, stand an sei­nem Kla­vier und sang:


»Der Ne­bel stieg, das Was­ser schwoll,
Die Möwe flog hin und wie­d–e–r«

Er rich­te­te sei­ne mäch­ti­ge Ge­stalt auf. Sein schö­ner Ba­ri­ton er­füll­te ihn selbst ganz mit Kraft und süßem Ge­fühl. Es war an­ge­nehm zu spü­ren, wie die Brust sich wei­te­te, wie die Töne in ihr schwol­len.


»Aus dei­nen Au­gen lie­be­voll
Fie­len – die Trä­nen – nie–ie–­der.«

Er zog die Töne, ließ sie aus­klin­gen, weich hin­schmel­zen.

Sei­ne Frau saß am Kla­vier, sehr hübsch mit dem run­den rosa Ge­sicht un­ter dem krau­sen asch­blon­den Haar, hell­be­leuch­tet von den zwei Ker­zen, die kurz­sich­ti­gen blau­en Au­gen mit den blon­den Wim­pern ganz nah dem No­ten­blatt. Die klei­nen ro­ten Hän­de stol­per­ten auf­ge­regt über die Tas­ten. Den­noch, wenn ein län­ge­res Tre­mo­lo ihr einen Au­gen­blick Zeit ließ, wag­te sie es, von den No­ten fort zu ih­rem Mann auf­zu­se­hen, mit ei­nem ver­zück­ten Blick der Be­wun­de­rung.

Es war zu schön, wie der Mann, von der Mu­sik hin­ge­ris­sen, sich wieg­te, wie er wuchs, grö­ßer und brei­ter wur­de, wie all das Süße und Star­ke, all die Lei­den­schaft her­aus­ström­ten. Das gab ihr einen köst­li­chen Rausch. Trä­nen schnür­ten ihr die Keh­le zu­sam­men, und um das Herz wur­de es ihr selt­sam be­klom­men.


»Seit je­ner Stun­de ver­zehrt sich mein Leib,
Die See­le stirbt vor Seh–­nen –«

Die Stim­me füll­te das gan­ze Pas­to­rat mit ih­ren schwü­len Lei­den­schafts­ru­fen. Die alte Tija hielt im Ess­zim­mer mit dem Tisch­de­cken inne, fal­te­te ihre Hän­de über dem Bauch, schloss ihr ei­nes, blin­des Auge und schau­te mit dem an­de­ren starr vor sich hin. Da­bei leg­te sich ihr blan­kes, gel­bes Ge­sicht in an­däch­ti­ge Fal­ten.

Das gan­ze Haus, bis in den Win­kel, wo die Kat­ze am Her­de schlief, klang wi­der von den wil­den und schmel­zen­den Lie­bes­tö­nen. Sie dran­gen durch die Fens­ter hin­aus in die Ebe­ne, wo die Nacht über dem No­vem­ber­schnee lag; ja vom na­hen Bau­ern­hof ant­wor­te­te ih­nen ein Hund mit lang­ge­zo­ge­nem, sen­ti­men­ta­lem Ge­heul.


»Mich hat das un­glück­sel’­ge Weib
Ver­gif­tet – ver­gif­tet – –«

Die Fens­ter beb­ten von dem Verzweif­lungs­ruf. Die Kat­ze er­wach­te in ih­rer Ecke, die alte Tija fuhr sich mit der Hand über das Ge­sicht und mur­mel­te:

»Ach – Gott­chen!«


»Ver­gif­tet mit ih­ren Trä­nen.«

Die klei­ne Frau lehn­te sich in ih­ren Stuhl zu­rück, fal­te­te die Hän­de im Schoß und sah ih­ren Mann an.

Pas­tor Wer­ner stand schwei­gend da und strich sich sei­nen blon­den Voll­bart. Er muss­te sich auch erst wie­der zu­rück­fin­den.

Jetzt war es ganz still im Pas­to­ra­te. Nur Tija be­gann wie­der lei­se mit den Tel­lern zu klap­pern.

»Wie Sieg­fried!« kam es lei­se über die Lip­pen der klei­nen Frau.

»Wer?« fuhr Pas­tor Wer­ner auf.

»Du«, sag­te sei­ne Frau.

Wer­ner lach­te spöt­tisch, wand­te sich ab und be­gann, die Hän­de auf dem Rücken, im Zim­mer auf und ab zu ge­hen.

So war es je­des Mal, wenn er sich im Sin­gen hat­te ge­hen las­sen, wenn er sich mit Ge­fühl voll­ge­trun­ken hat­te. Dann kam der Rück­schlag.

Man hat­te ge­glaubt, et­was Gro­ßes zu er­le­ben, einen Schmerz, eine Lei­den­schaft, und dann war es nur ein Lied, et­was, das ein an­de­rer er­lebt hat, und die Win­de des Zim­mers mit ih­ren Fo­to­gra­fi­en, die großen schwarz und rot ge­mus­ter­ten Mö­bel, all das be­eng­te ihn, drück­te auf ihn.

Sei­ne Frau saß noch im­mer am Kla­vier und starr­te in das Licht. Auch bei ihr war der schö­ne Rausch der Mu­sik vor­über. Nur eine müde Trau­rig­keit war üb­rig­ge­blie­ben. Sie dach­te dar­über nach, warum er sich ge­är­gert hat­te, als sie »Sieg­fried« sag­te. Das kam oft so. Wenn sie ganz voll von Be­geis­te­rung für ihn war, dann war ihm et­was nicht recht, und er lach­te kalt und spöt­tisch.

»Lene, es­sen wir nicht?« frag­te Wer­ner.

Da fuhr sie auf.

»Na­tür­lich! Ge­füll­te Pfann­ku­chen!«

Und sie lief in die Kü­che hin­aus.

Am Ess­tisch un­ter der Hän­ge­lam­pe war al­les Frem­de und Er­re­gen­de fort. Wenn es ihm schmeck­te, war Pas­tor Wer­ner ge­müt­lich, das wuss­te Lene. Dann konn­te sie ru­hig vor sich hin­plau­dern, ohne be­ru­fen zu wer­den, dann hat­te sie das Ge­fühl, dass er ihr ge­hör­te.

»Die Baro­nin aus Du­ma­la fuhr heu­te hier vor­über«, be­rich­te­te sie.

»So«, mein­te Wer­ner, und sah über das Schnaps­glas, das er zum Mun­de füh­ren woll­te, hin­weg sei­ne Frau scharf an: »Nun – und?«

»Nun, ja. Sie hat­te eine neue Pelz­ja­cke an. Ent­zückend!«

Wer­ner trank sei­nen Schnaps aus und frag­te dann:

»Stand sie ihr gut, die­se Ja­cke?«

Lene seufz­te: »Na­tür­lich! Die­se Frau ist ja so schön!«

»Was ist da­bei zu seuf­zen?« frag­te Wer­ner. »Lass sie doch schön sein.«

»Weil ich sie nicht mag«, fuhr Lene fort, »des­halb. Sie will alle Män­ner in sich ver­liebt ma­chen. Aber schön ist sie.«

Wer­ner lach­te. »Was für Män­ner? Die arme Frau pflegt ih­ren ge­lähm­ten Mann Tag und Nacht. Die sieht ja kei­nen. Eine neue Pelz­ja­cke ist da doch eine sehr un­schul­di­ge Zer­streu­ung.«

»Dich sieht sie doch.« Lene nahm einen her­aus­for­dern­den Ton an, als su­che sie Streit.

Wer­ner zuck­te nur die Ach­seln.

»Mich!«

»Ja dich«, fuhr Lene fort. »Und du bist doch auch in sie ver­liebt, – et­was – nicht?«

Heu­te är­ger­te das Wer­ner nicht.

»Wenn du willst!« mein­te er.

Die klei­ne Frau durf­te heu­te ru­hig mit ihm spie­len, wie mit ei­nem großen, gut­mü­ti­gen Neu­fund­län­der. Ein we­nig schweig­sam war er, aber das pfleg­te er am Sonn­abend im­mer zu sein, wenn die Pre­digt ihm im Kop­fe her­um­ging.

Nach dem Es­sen saß das Ehe­paar am Ka­min­feu­er. Durch das Fens­ter, an dem die Lä­den of­fen ge­blie­ben wa­ren, schau­te die blei­che Schne­e­nacht in das Zim­mer. Aus der Ge­sin­de­stu­be klang Ti­jas dün­ne, zit­tern­de Stim­me. Sie sang einen Ge­sang­buch­vers.

»So ist’s hübsch«, sag­te Lene. »So ist’s ge­müt­lich! Nicht wahr? Al­les ist still, und das Feu­er, – und man sitzt bei­sam­men.«

»Stell doch der Le­bens­la­ge kei­ne Zen­sur aus«, ver­setz­te Wer­ner, der sin­nend in das Feu­er starr­te.

»Wa­rum?« frag­te Lene ei­gen­sin­nig.

»Weil, weil« – Wer­ners Stim­me wur­de streng – »weil Zen­su­ren aus­ge­stellt wer­den, wenn die Schu­le zu Ende ist.«

»Des­halb!« mein­te Lene, die ihn nicht recht ver­stan­den hat­te.

»Nun sei aber nicht un­ge­müt­lich, Wer­ner­chen.«

Sie stand auf, ging zu ihm, setz­te sich auf sei­ne Knie, schmieg­te sich an sei­ne Brust, um­rank­te den großen Mann ganz mit ih­rer klei­nen, le­gi­ti­men Sinn­lich­keit, die sich schüch­tern her­vor­wag­te.

»Wir sind doch glück­lich!« sag­te sie. »Ich sag’s doch. Ich stell’ gute Zen­su­ren aus.«

Wer­ner saß still da, ließ sich von der Wär­me die­ses jun­gen Frau­en­kör­pers durch­drin­gen. Dann plötz­lich schob er Lene bei­sei­te und stand auf.

»Wo­hin?« frag­te sie er­schro­cken.

»Oh – nichts«, er­wi­der­te er, »ich – ich will mir noch was über­le­gen.«

»Die­se ewi­ge Pre­digt!« seufz­te Lene. »Wor­über pre­digst du denn mor­gen?«

»Über die Ver­su­chung in der Wüs­te, du weißt’s ja.«

»Ach ja! Sei doch nicht wie­der so streng. Wenn du so her­un­ter­don­nerst, wird ei­nem ganz bang.«

Er zuck­te die Ach­seln.

»Seit wann willst du denn Ein­fluss auf mei­ne Pre­dig­ten neh­men?«

Also nun hat­te sie ihn auch noch ge­är­gert. Sie schwieg. Wäh­rend Wer­ner, die Hän­de auf dem Rücken, im Zim­mer auf und ab ging, kau­er­te sie auf ih­rem Ses­sel und folg­te ihm un­ver­wandt mit den Bli­cken. Eben noch hat­te sie sich glück­lich ge­fühlt, jetzt war wie­der et­was über ihn ge­kom­men, das sie nicht ver­stand. Sie fühl­te, wie müde ihre Glie­der von der Ar­beit des Ta­ges wa­ren, und das Trau­ri­ge war über sie ge­kom­men, dem sie nicht nach­den­ken woll­te. Sie folg­te Wer­ner mit den Bli­cken, wie er auf und ab ging, sehr auf­recht in sei­nem schwar­zen Rock, auf und ab, bis sei­ne Ge­stalt un­deut­lich wur­de und ihr die Au­gen zu­fie­len.

»Her­un­ter­don­nern«, hat­te Lene ge­sagt, ja, das lieb­te er, das Pre­di­gen war wie das Sin­gen, da konn­te er sich aus­ge­ben, da hat­te er das Ge­fühl, als »gin­ge eine Kraft von ihm aus«, wie die Bi­bel sagt. All die großen, schö­nen Wor­te, der große Zorn, mit dem er dro­hen, die ganz großen Se­lig­kei­ten, die er ver­spre­chen konn­te, und all das war un­end­lich und ewig, das gab auch einen Rausch. Er freu­te sich schon dar­auf. Dazu zog die Ver­su­chung in der Wüs­te, die­se wun­der­ba­re Geis­ter­un­ter­hal­tung, groß wie Dan­tes Ver­se, ihn selt­sam an. Das Wil­de des Kamp­fes der bei­den Wun­der­kräf­te in der Wüs­te reg­te ihn auf.

In tie­fem Sin­nen ging er auf und ab, ver­gaß sei­ne Um­ge­bung, bis ein ver­schla­fe­ner Laut aus Le­nes halb­ge­öff­ne­ten Lip­pen ihn auf­schau­en mach­te.

»Ja so – der Frie­de des Pas­to­rats« – dach­te er nicht ohne Bit­ter­keit. Weiß es Gott! ihm war we­nig fried­lich zu­mu­te!

Er stell­te sich an das Fens­ter, schau­te in die Nacht hin­aus.

Oben am Him­mel war Auf­re­gung un­ter den Wol­ken, zer­fetzt und ge­bläht wie Se­gel scho­ben sie sich an­ein­an­der vor­über. Der Mond muss­te ir­gend­wo sein, aber er wur­de ver­deckt, nur ein schwa­ches, mü­des Däm­mer­licht lag über der Ebe­ne.

Frie­den! Ja, wenn ei­ner sich be­stän­dig mit Wun­der­din­gen ab­ge­ben muss, wenn er im­mer die­se Sprü­che im Mun­de füh­ren muss, die so voll Lei­den­schaft und Zorn und Sü­ßig­keit und Ge­heim­nis sind, wo soll da der Frie­de her­kom­men? Das Herz wird so emp­find­lich und so er­regt, dass es auf al­les hin­ein­fällt.

Der Wind trieb klei­ne Schnee­wir­bel wie wei­ße Rauch­wölk­chen über die Ebe­ne. Win­zi­ge Licht­pünkt­chen wa­ren in die Nacht ge­streut, wie ver­lo­ren in dem fah­len, wei­ßen Däm­mern. Dort die Rei­he hel­ler Punk­te wa­ren die Fens­ter des Schlos­ses Du­ma­la. Wer­ner fiel die neue Pelz­ja­cke der Baro­nin Wer­land ein, und dann sah er das große, düs­te­re Zim­mer vor sich, die grün ver­han­ge­ne Lam­pe, am Ka­min im Ses­sel den Her­ren mit dem wachs­gel­ben, schar­fen Ge­sicht, die Füße in eine rote De­cke ge­wi­ckelt. Bei ihm auf dem nied­ri­gen Stühl­chen die schö­ne Frau mit den schma­len Au­gen, die un­ru­hig schil­ler­ten, und dem selt­sam fie­ber­ro­ten Mun­de. Sie saß da, blin­zel­te schläf­rig in das Ka­min­feu­er und strich mit ih­rer Hand lang­sam an dem Bein des Kran­ken auf und ab.

Ein Schmerz, et­was wie ein kör­per­li­cher Schmerz, schüt­tel­te Wer­ner bei die­sem Bil­de, ließ ihn blass wer­den und das Ge­sicht leicht ver­zie­hen.

Är­ger­lich wand­te er sich vom Fens­ter ab. Es war zu dumm! Die­ses Pre­digt­ma­chen ließ je­des Mal al­les in ihm tol­ler ru­mo­ren denn je!

Er be­gann wie­der auf und ab zu ge­hen, dann blieb er vor Lene ste­hen.

Sie hat­te die Füße auf den Ses­sel hin­auf­ge­zo­gen, die Wan­ge an die Stuhl­leh­ne ge­stützt. So schlief sie. Die Lip­pen halb ge­öff­net, at­me­te sie tief, auf dem Ge­sich­te den erns­ten, be­sorg­ten Aus­druck, den Men­schen in schwe­rem Schla­fe an­neh­men, als sei das Schla­fen eine Ar­beit.

Wer­ner be­trach­te­te sie eine Wei­le. Er fühl­te plötz­lich ein tie­fes Er­bar­men mit die­sem jun­gen schla­fen­den We­sen. Auch wie­der die Ner­ven und die un­nüt­ze Weich­heit! Er konn­te ja jetzt nichts mehr an­se­hen, ohne dass es schmerz­te!

Be­hut­sam nahm er Lene auf sei­ne Arme und trug sie in das Schlaf­zim­mer hin­über.

*

Die Sa­kris­tei war vol­ler Schnee­licht. Zwi­schen den en­gen, wei­ßen Wän­den, in dem wei­ßen Lich­te, sah Pas­tor Wer­ner, im schwar­zen Tala­re, sehr groß aus. Er saß am Tisch, vor sich das auf­ge­schla­ge­ne Ge­sang­buch und das Blatt mit den No­ti­zen zu sei­ner Pre­digt. Drau­ßen san­gen sie schon das Lied, ein Chor har­ter Frau­en­stim­men, hei­se­rer Kin­der­stim­men, da­zwi­schen das Knar­ren der Bäs­se. Sie zo­gen die Töne schläf­rig und be­ru­higt. Gott! spiel­te der Or­ga­nist heu­te tol­les Zeug zu­sam­men! Si­cher­lich hat­te der Mann wie­der die gan­ze Nacht durch ge­sof­fen. Die alte Or­gel stöhn­te und seufz­te or­dent­lich un­ter sei­nen rück­sichts­lo­sen Fin­gern.

Wer­ner sang nicht mit. Er schau­te zum Fens­ter hin­aus. Es tau­te und die Son­ne schi­en. Die Bäu­me hin­gen ganz voll blan­ker Trop­fen und das be­stän­di­ge Trop­fen vom Da­che und den Trau­fen leg­te um die Kir­che ein hel­les Blit­zen und Klin­gen.

Sonn­täg­lich! Die Sonn­tags­stim­mung war da, die kam im­mer, aus al­ter Ge­wohn­heit, an­fangs fei­er­lich, spä­ter an­ge­nehm schläf­rig. Er lieb­te die­sen Au­gen­blick in der Sa­kris­tei vor der Pre­digt, wenn er da­saß und sich voll großer Wor­te, voll lau­ter, ein­dring­li­cher Töne fühl­te.

Er horch­te hin­aus. Er kann­te die Schel­len der Schlit­ten, die her­an­fuh­ren. Das wa­ren die Schel­len von Deb­schen, das – der Dok­tor Braun, das die Schel­len von Du­ma­la.

Den­noch frag­te er, als der Küs­ter ein­trat: »Wer ist al­les da?«

Der Küs­ter Pe­ter­son leg­te sein großes, schlau­es Bau­ern­ge­sicht in pas­to­ra­le Fal­ten.

»Die Du­ma­la­schen sind da«, mel­de­te er, »die Baro­nin und der Se­kre­tär.«

»Wer noch?« frag­te Wer­ner un­ge­dul­dig. Wa­rum mel­de­te der Kerl ge­ra­de nur die Du­ma­la­schen?

Pe­ter­son zog er­ge­ben die Au­gen­brau­en em­por:

»Der Dok­tor ist da, die aus Deb­schen.« –

»Gut – gut.« Wer­ner wink­te ab. Es war doch ganz gleich­gül­tig, ob der Dok­tor da war und die Alte aus Deb­schen!

Nun war es Zeit, auf die Kan­zel zu stei­gen, sie san­gen da drin schon den letz­ten Vers des Lie­des. Wer­ner freu­te sich, zu fin­den, dass die Kir­che vol­ler Licht war. Wenn die brei­ten, gel­ben Licht­bän­der durch die ho­hen Fens­ter in den Raum flu­te­ten, dann be­kam sei­ne Pre­digt auch an­ders hel­le Far­ben, als wenn die Kir­che voll grau­er Däm­me­rung war, und der Re­gen ge­gen die Fens­ter­schei­ben klopf­te.

Es roch nach nas­sen, schwe­ren Woll­klei­dern, frisch­ge­wa­sche­nen Katt­un­tü­chern und Tran­s­tie­feln.

Wer­ner beug­te sich über das Pult auf der Kan­zel zum Ge­bet. Die­ser Au­gen­blick brach­te ihm stets eine sanf­te, an­däch­ti­ge Ek­sta­se, so die Stirn auf das Pult zu le­gen, und un­ten wur­de es still, und sie war­te­ten, war­te­ten auf sein Wort.

Die Pre­digt be­gann. Die ei­ge­ne Be­red­sam­keit er­wärm­te ihn heu­te be­son­ders. Er hör­te es, wie die Leu­te un­ten auf­merk­sam wur­den, wie das Hus­ten und Sichräus­pern schwie­gen.

Und Wer­ner gab sei­ner Stim­me vol­le­re Töne, mach­te große, freie Be­we­gun­gen. Er wuss­te es wohl, die meis­ten dort un­ten ver­stan­den ihn nicht, aber heu­te dräng­te eine in­ne­re Er­re­gung ihn, hin­aus­zu­sa­gen, hin­aus­zu­ru­fen, was ihn be­weg­te.

»›Fal­le vor mir nie­der und bete mich an‹, sprach der Böse zum Soh­ne Got­tes. ›Be­te mich an!‹ Ja, das ist es, das will er. Er hat nicht ge­nug mit un­se­ren Sün­den der Schwä­che, der Nach­läs­sig­keit, der Bos­heit, des Un­glau­bens, nein, nie­der­fal­len sol­len wir vor ihm und ihn an­be­ten. Er will an­ge­be­tet, er will ver­ehrt, er will ge­liebt wer­den. Da­nach dürs­tet er. Er will, dass wir zu ihm spre­chen: Um dich ge­ben wir die ewi­ge Se­lig­keit und die Got­tes­kind­schaft hin, dir op­fern wir sie, um dich ge­hen wir mit of­fe­nen Au­gen in un­ser Ver­der­ben, weil wir dich an­be­ten, weil du uns groß und lie­bens­wert er­scheinst, weil wir zu dir wol­len. Der Böse will, dass wir die Sün­de lie­ben, dass wir sie an­be­ten. Das ist sein Tri­umph. Das ist das tie­fe, furcht­ba­re Ge­heim­nis der Sün­de.« Die Stim­me des Pas­tors hat­te hier einen tie­fen, ge­heim­nis­vol­len und lei­den­schaft­li­chen Ton­fall an­ge­nom­men, wie eine un­heim­li­che Lie­bes­er­klä­rung an die Sün­de klang es.

Er hielt inne, selbst er­staunt über das, was er sag­te. Es klang fremd in die Kir­che hin­ein, und zu­gleich schi­en es ihm, als ver­rie­te er et­was, als sprä­che er et­was aus, das ge­heim sein soll­te und nur von ihm ge­ahnt wur­de.

Er schau­te hin­un­ter auf die Ge­mein­de.

Ru­hig sa­ßen sie da alle bei­sam­men. Alte Frau­en schlie­fen. Mäd­chen, mit glatt­ge­bürs­te­tem Haar, die Hän­de im Schoß ge­fal­tet, starr­ten aus­drucks­los vor sich hin, ge­nos­sen die Ruhe des Au­gen­blicks. Ihm ge­gen­über im Ge­stüh­le der Wer­lands von Du­ma­la saß die Baro­nin Ka­ro­la. Sie hat­te den Kopf leicht zu­rück­ge­lehnt und schau­te scharf zu ihm her­über, sie kniff da­bei die Au­gen­li­der zu­sam­men, so­dass die Au­gen nur wie sehr blan­ke Stri­che zwi­schen den lan­gen Wim­pern her­vor­schim­mer­ten.

Wer­ner ging zum Schluss sei­ner Pre­digt über. Sei­ne Stim­me nahm wie­der ih­ren ru­hig er­mah­nen­den Ton an, in dem er­bau­lich das Me­tall sei­nes schö­nen Ba­ri­tons mit­klang.

Nach dem Got­tes­dienst frag­te Wer­ner den Küs­ter, wäh­rend er sich in der Sa­kris­tei um­klei­de­te:

»Ist die Baro­nin aus Du­ma­la schon fort­ge­fah­ren?«

»Nein«, mein­te der Küs­ter, »die Frau Baro­nin war­tet auf den Herrn Pas­tor – wie im­mer.«

»Wie­so – wie im­mer?« frag­te Wer­ner un­ge­dul­dig. »Pe­ter­son, Sie fan­gen an, Un­sinn zu spre­chen.«

Leu­te ka­men zu ihm, die Wald­häus­le­rin Mar­ri, ihre Mut­ter, die alte Geh­da, konn­te nicht ster­ben, das dau­er­te nun schon Wo­chen. Der Herr Pas­tor soll her­über­kom­men. Wer­ner fer­tig­te die Leu­te ei­lig und me­cha­nisch ab, sag­te das nö­ti­ge »Gott weiß am bes­ten, wenn er uns zu sich ruft. Wir müs­sen war­ten«. Die Wald­hü­te­rin klag­te, dass ihr Mann sie zu­schan­den schlug, wenn er be­sof­fen war.

Wer­ner zog sich sei­nen Pelz an. »Ja, ja – ich kom­me mal an. Gott be­hüt’ euch lie­ben Leu­te – Gott be­foh­len.« Ei­lig ging er hin­aus.

Die Baro­nin Ka­ro­la stand vor ih­rem Schlit­ten, sehr schlank, fest in die blaue Pelz­ja­cke ge­knöpft, das Ge­sicht ganz rosa von der schar­fen Win­ter­luft, der Mund un­na­tür­lich rot, die Stirn­löck­chen vol­ler Trop­fen un­ter der klei­nen Fi­schot­ter­müt­ze. »Ah, Pas­tor!« rief sie, »ich war­te auf Sie. Sie dür­fen uns heu­te nicht ver­las­sen. Ja – er lei­det, und es ist abends so trau­rig bei uns. Also, Sie kom­men?« Sie reich­te ihm die Hand, schüt­tel­te die sei­ne mit un­ter­stri­che­ner Ka­me­rad­schaft­lich­keit. »Die Ver­las­se­nen trös­ten ist ja doch Ihr Amt.« Sie lä­chel­te, wo­bei ihre Mund­win­kel sich hin­auf­bo­gen, was ihr einen leicht durch­trie­be­nen Aus­druck ver­lieh.

Wer­ner ver­beug­te sich in sei­ner fei­er­li­chen Art, die et­was Be­fan­ge­nes hat­te.

»Oh – ge­wiss – mit Ver­gnü­gen«, und er lä­chel­te auch aus rei­nem Be­ha­gen, die­se schö­ne Frau an­zu­sehn.

»So, dan­ke«, sag­te sie. »Jetzt wol­len wir fah­ren, mein Page friert.« Karl Pich­wit, der Se­kre­tär und Vor­le­ser des Barons Wer­land, fror im­mer. Sein hüb­sches, kränk­li­ches Kna­ben­ge­sicht war blau von Frost, und er zit­ter­te.

Er half der Baro­nin in den Schlit­ten, setz­te sich ne­ben sie, und da lä­chel­te auch das kränk­li­che Kna­ben­ge­sicht und er­rö­te­te.

Wer­ner stand noch eine Wei­le da und schau­te dem Schlit­ten, dem We­hen des blau­en Schlei­ers auf dem Fi­schot­ter­mütz­chen nach, er schütz­te die Au­gen mit der Hand vor der Son­ne, um län­ger und bes­ser se­hen zu kön­nen.

*

»Ich fin­de es rück­sichts­los«, sag­te Lene beim Mit­ta­ges­sen zu ih­rem Mann, »dass die Wer­lands dich im­mer­fort hin­über bit­ten. Ich bin je­den Sonn­tag­abend al­lein. Der Sonn­tag ge­hört doch we­nigs­tens der Fa­mi­lie.«

Wer­ner zuck­te die Ach­seln, ja, dar­an war nichts zu än­dern. Drü­ben ging es nicht hei­ter zu, da muss­te er eben – –

Aber Lene är­ger­te sich.

»Ach was! Die­ser Baron, der Gott­lo­sig­kei­ten und Un­an­stän­dig­kei­ten spricht, der ist über­haupt kein Um­gang für einen Pas­tor.«

Wer­ner lä­chel­te nur und aß ru­hig sei­nen Sonn­tags­bra­­­­