Über Hardy Krüger

Hardy Krüger, Jahrgang 1928, erlernte sein Handwerk auf deutschen Bühnen und startete schon früh eine internationale Schauspielerkarriere, wurde – mit bislang 16 Büchern – erfolgreicher Schriftsteller und schrieb mit der Reportage-Reihe Weltenbummler Fernsehgeschichte. Fast zwanzig Jahre lang lebte Krüger im afrikanischen Busch zu Füßen des Kilimandscharo, wo er während der Dreharbeiten zu dem Filmklassiker Hatari die Farm Momella kaufte. Er ist Offizier der französischen Ehrenlegion und Träger des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland..

Vorwort

von Peter Käfferlein und Olaf Köhne

Seit Jahren haben wir sein Leben verfolgt, einen Hardy Krüger, der bereits als kleiner Junge zwei große Träume träumte. Fliegen hat er wollen. Und Geschichten schreiben. Beide Wünsche wurden wahr.

In Kalifornien, wo Hardy lebt, trafen wir uns und wurden seine Co-Autoren. Und schrieben mit ihm darüber, was das Leben sich erlaubt. Neben diesem Buch stehen andere Bücher, die den Namen Krüger auf dem Rücken tragen. Viele davon kannten wir. Doch andere waren uns neu. Weil sie Hardys frühe Werke sind. Wir haben sie uns ausgeliehen. Und was wir da lasen, sprach von Krieg und Frieden, von Leben und Tod, von Begegnungen, die uns lachen ließen. Manchmal auch weinen. Geschichten, die sich abenteuerlich ergaben, wenn Hardy als Pilot mit einer Einmotorigen Menschen auf anderen Kontinenten besuchte. Wenn er über den Abschied von einer Geliebten erzählte, die in den Trümmern einer Bombennacht gestorben war. Wenn ein Tropfen in Irlands Regen rätselte, ob er sich mit anderen Regentropfen teilen wollte. Wenn ein Fremder im Sudan, der nie mit einem anderen Menschen glücklich war, zu sich selbst von Zweisamkeiten sprach.

Erzählungen – manch eine vor fünf Jahrzehnten geschrieben – von zeitloser Schönheit. Also haben wir ihn gedrängt, unseren Hardy Krüger, sein Frühwerk neu zu fassen. Mit großer Freude legen wir das Buch hier vor.

Ein Frühlingstag wie kaum ein anderer

Der Kampf dauerte drei Tage. Am vierten Morgen war es still. Die Bauern hoben ängstlich die Luken ihrer Kartoffelkeller und sahen, dass Wexdorf heil geblieben war. Weit hinten, am Ende des Sandweges zur Donau, brannte eine Scheune.

Das Mädchen rannte durch ihr Dorf und wusste nicht, warum es so schnell lief und wohin es wollte. Es rannte einfach nur. Sonst nichts. Drei Tage Angst. Eingesperrt sein in den Keller. Stille in den Nächten. Nur die Kühe auf den Weiden hatten gebrüllt. Niemand brachte den Mut zum Melken auf.

Der alte Mann vom Postamt stellte sich dem Mädchen in den Weg. »Hilf mir mit dem Laken. Die Amerikaner sollen sehen, dass wir uns ergeben.«

Die beiden stiegen die Stufen zum Kirchturm hoch und machten das Bettlaken an der Glocke fest.

»Sieh nur das Rapsfeld an«, sagte der Alte. »Dein Vater wird sich die Haare raufen.«

»Nein, er hat damit gerechnet.«

Der Alte sah das Mädchen aus zusammengekniffenen Augen fragend an.

»Die ganze Zeit da unten in dem Keller hat er davon gesprochen, wie wichtig sein Rapsfeld für unsere Truppen ist«, sagte sie. »Es liegt hoch über der Donau, und man kontrolliert von dort die Brücke.«

»Vor ein paar Tagen war das Feld noch gelb«, sagte der Postbote. »Jetzt ist es aufgewühlt, zerfetzt zerrissen. Hässlich wie Furunkel. Sieh nur die Toten.«

Auf dem Rapsfeld ihres Vaters lagen viele graue Punkte.

Panzer lärmten über die Brücke. Lastwagen brachten Soldaten in großer Zahl. Die Soldaten liefen durch das Dorf und stießen Türen auf und riefen aufgeregte Worte in einer Sprache, die das Mädchen nicht verstand. Ein paar Stunden später zogen Regenwolken auf und der Alte sagte: »Ich geh mal nachsehen auf dem Feld, bevor es zu pladdern anfängt.«

»Ich komme mit«, sagte das Mädchen.

»Auf keinen Fall.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Soldaten sind zu allem fähig. Besonders bei den Frauen. Besonders, wenn sie gewonnen haben.«

Er stieg die steile Holztreppe nach unten und ging über den Kirchplatz. Er versuchte, dabei gelassen auszusehen. Wenn er an den Fremden in ihren kriegerischen Autos vorüberging, nahm er ehrfürchtig die Mütze ab. Die Soldaten lachten über den kleinen Mann. Sie gaben sich keine Mühe, seinen Gruß zu erwidern.

Das Mädchen kauerte in der dunkelsten Ecke des Turmes und sah zu der Glocke hoch. Erst letzten Sonntag hatte sie sich an das lange Seil gehängt, und die Burschen aus dem Dorf hatten ihre Hände unter ihrem Kleid hoch- und runterrutschen lassen, und wenn die schwere Glocke das Mädchen oben behalten wollte, hatten sie sich zu dritt an das Seil gehängt und sie zu sich heruntergeholt und bei allen Heiligen geschworen, der Priester würde nichts erfahren. Fahrzeuge mit Eisenketten drückten tiefe Spuren in Asphalt, der in einem engen Bogen das Dorf durchquerte. Auf einem Schild stand, weiß auf blau: Adolf-Hitler-Straße.

Die Fremden trugen runde braune Helme. Sie drängten den Bürgermeister aus seinem Haus. Er streckte seine Hände steil in die Luft. Die Frau des Bürgermeisters rannte schreiend hinter dem kriegerischen Auto her. »Er hat doch nichts getan!« Der Bürgermeister sah sich nicht um. Die Frau ließ sich zu Boden fallen und schlug mit flachen Händen auf den Asphalt. Als niemand ihr zu Hilfe kam, stand sie auf und ging nach Haus.

Das Mädchen fror. Es wollte nach unten gehen und sich eine Altardecke holen oder das Gewand des Priesters aus der Sakristei, aber dann hörte sie, dass die Kirchentür aufgestoßen wurde und dass Männerstimmen lachten, und dann spielte einer auf der Orgel. Die Männer sangen das Lied, das die Orgel spielte. Das Mädchen begann sich zu fürchten. Mitten in den Gesang hinein donnerten Befehle. Das Mädchen hörte, wie die Männer auf die Straße liefen. Das Geräusch des Laufens war recht leise. Nicht wie bei den deutschen Soldaten, deren Nagelstiefel stets schrecklich laut auf das Pflaster geknallt waren. Die Sieger trugen Gummisohlen. Als sie davongefahren waren, wurde es still im Dorf. Das Mädchen stieg nach unten und holte sich die Decke vom Altar. In ihrem Versteck wickelte sie sich in die Decke mit der goldenen Stickerei. Sobald ihr warm geworden war, schlief sie ein. Als sie aufwachte, sah sie die Lastwagen auf dem Rapsfeld ihres Vaters. Kleine Punkte wurden aus Löchern gehoben und auf die Pritschen geworfen. Als ihre Arbeit getan war, liefen die Männer in den braunen Uniformen, als wollten sie Vorsicht walten lassen, mit langsamen Bewegungen auf den Waldrand zu. Einer von den grauen Punkten, der vorher unbewegt in dem Gelb gelegen hatte, sprang auf und wollte davonlaufen. Er kam nicht weit, denn die Braunen hoben ihre Waffen. Als sie auf den Grauen schossen, dachte das Mädchen: »Es klingt wie das Meckern einer Ziege.« Sie sah den Grauen zur Erde fallen. Die Stimmen der Jagenden lachten über den zerrissenen gelben Acker hinweg. Ihr Lachen sprang am Waldrand hoch.

Die Laster fuhren davon, und der Postbote stand allein am Rand des Ackers.

Eine Bauersfrau trat ängstlich unter den lang gestreckten Balkon ihres Hauses. Die Eichenbalken waren sorgfältig geschnitzt. Über der Eingangstür stand die Jahreszahl in Gold gemalt: Anno Domini 1861.

»Kimm außi«, rief die Frau. »Die Amis san forrrt. Auch von den Unsrigen is’ koana mehr im Dorf zum sehen.«

Ihr Mann trat in die Tür und stemmte beide Hände an den Rahmen.

»Mir sollten dem Priester sogn, dass er d’ Glocken lait’«, meinte er.

»Warrum?«, fragte die Bäuerin.

»Weil’s Frieden is’.«

»Na«, sagte seine Frau. »Erscht ma du’ mer worrt’n.«

Der Postbote kam langsam über das Kopfsteinpflaster des Kirchplatzes und hielt einen Gegenstand über seinen Kopf, der wie ein kurzes Stück Ofenrohr aussah. »Komm herunter«, rief er dem Mädchen zu. »Noch einmal die Stiegen hoch, und die Amerikaner können mich auch auf ihre Pritsche werfen.«

Im Glockenturm hingen Spinnweben. Aber es waren keine ausgedörrten Fliegen in den Netzen. Selbst die Spinnen ließen sich nicht sehen.

»Es ist noch viel zu früh im Jahr für Mücken«, dachte das Mädchen. Dann sprang es geschickt die steilen Stufen des Turms nach unten.

Der Postmann wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Die Toten auf dem Feld sind Kinder«, sagte er, »fünfzehn oder sechzehn. So alt wie du. Es schreit zum Himmel.«

Er öffnete den Deckel des kurzen, runden Behälters. »Dies hier lag unter einem Busch am Weg zum Dorf zurück.«

»Was ist das?«, fragte das Mädchen.

»Eine Gasmaskenbüchse«, sagte der Alte. »Die Gasmaske ist nicht mehr darin. Nur ein paar Kekse, zwei Bleistifte und dieses Schreibheft hier.«

Das Heft war dunkelblau, mit karierten Seiten, abgegriffen und zusammengerollt.

»Er hat die Gasmaske fortgeworfen«, sagte der Postbote. »Die Büchse war sein Versteck für dieses Heft. Einmal, im Ersten Weltkrieg, habe ich einen Kameraden gehabt, der versteckte ganze Pfunde von Kaffeebohnen in dem Behälter für die Maske.«

Das Mädchen glättete das Schreibheft auf dem Rock über ihren Schenkeln und schlug die erste Seite auf.

»Der Soldat hat eine schöne Schrift«, sagte sie.

»Hat er seinen Namen auf das Heft geschrieben?«, fragte der Alte.

»Nein«, sagte das Mädchen.

»Was steht denn drin?«, fragte der Postmann.

»Ich glaube, es geht um eine Eisenbahn«, sagte das Mädchen. Sie setzte sich auf die drei Stufen vor dem Kirchportal.

»Ich habe meine Brille nicht dabei«, sagte der Postbote. »Lies das mal für mich.«

Das Mädchen fuhr sich mit der Zunge über ihre spröden Lippen. Dann holte sie tief Luft und las auf die gleiche Weise stockend vor, wie sie noch bis vor ein paar Tagen auf Anweisung des Lehrers in der Dorfschule gelesen hatte:

 

Es ist Mittwoch.

Ich glaube, dass es Mittwoch ist. Vor mir zwängt sich der eine Schienenstrang in gerader Linie zwischen hässlich-armen Vorstadthäusern durch. Die Linien aus Stahl glänzen obendrauf wie Silber. Sie sind von vielen Rädern blankgefahren. Zwei perfekte Parallelen. Solche Silberparallelen wollten mir in der Schule nie gelingen. Allerdings, wenn ich Millimeterpapier verfügbar hatte, dann schon. »Zwei gleichlaufende Linien sind nur dann Parallelen zu nennen, wenn sie auf der gesamten Strecke den gleichen Abstand zueinander aufweisen.« Diese hier, Herr Lehrer, sehen nur anfangs wie Parallelen aus. Irgendwo weiter hinten werden sie zerfetzt sein, verbogen, grotesk zum Himmel zeigend. Oder aber sie sind unversehrt und bilden jene Strecke, die, parallel verlaufend, mich noch heute Nacht von hier fortbewegen wird.

Der andere Schienenstrang biegt unversehrt nach Süden ab. Er ist rostig. Gras wächst zwischen den Gleisen. Hier ist schon lange kein Zug mehr durchgefahren. Ohne Frage steht gleich hinter der nächsten Biegung ein Prellbock, der alles aufhält, was da etwa fliehen will.

 

Ich liege auf der steilen Böschung eines Bahngeländes. Papier und Konservendosen wachsen aus braun verdorrtem Gras an Stellen, die sonst für Blumen sind und dort schon bald auch wieder sprießen werden. Das heißt, wenn nichts dazwischenkommt.

Eine verschleierte Sonne tastet meinen Rücken ab und macht mich ein wenig warm. Nur meine Hand, die den Bleistift hält, ist noch immer kalt.

Die Offiziere haben uns befohlen, einen Brief nach Haus zu schreiben. An die Eltern, und der letzte Zug, der Post mitnimmt, sagten sie, geht morgen früh. Ich frage mich, wie kann man auf Befehl hin Briefe schreiben? Und selbst wenn es gelingt, darf ja keiner schreiben, was er denkt. Also, genau mal rumgedreht und auch gewendet: Meine Gedanken sind mir nicht erlaubt.

Wenn dieser Krieg vorüber ist, werd ich meinem Vater mal erzählen, wie wir zu dem Bahnhof hier gekommen sind. An den Kopf wird er sich fassen. Garantiert!

Wir waren eine ganze Kompanie auf Rädern. Wie eine Spazierfahrt durch den Schwarzwald sah das am Anfang aus. Dann aber hat sich einer von uns an einem Versorgungsfahrzeug festgehalten, weil es ziemlich steil bergauf gegangen ist. Irgendwann ist er gestürzt, und die Hinterräder des Lastwagens sind über ihn hinweggerollt. O Gott, hat der geschrien! Sein Schreien hab ich lange Zeit gehört. Auch als ich ihn nicht mehr habe sehen können.

Am Abend kam dann die Sache mit dem Apfelmost. Im nächsten Dorf haben uns zwei Bauern angehalten: »Habt ihr nicht Durst?« Und ob wir Durst hatten! Alle sind abgestiegen von den Rädern. Hunderteinundzwanzig Mann. Rein ins Gasthaus. Wir haben das für Apfelsaft gehalten, als die Flaschen kamen, und gierig daraus getrunken.

Die Bauern haben laut gelacht. Das ist nämlich gar kein Apfelsaft gewesen! Er hat nur so geschmeckt! Most ist das gewesen. So nennen die Schwarzwälder ihr Getränk. Ich glaube, wenn der Saft kurz davor ist, Wein zu werden, nennen ihn die Leute Most.

Beim Treten dann in die Pedale haben meine Beine sich wie Gummi angefühlt, und in meinem Kopf schlugen mir zwei Fäuste an die Schläfen. Wir mochten die Räder nicht mehr fahren. Wir stiegen ab und schoben und sangen laut und fröhlich unsre Lieder. Die Offiziere haben voller Wut gebrüllt, aber was konnten die schon groß machen? Ha! Herrlich! Man stelle sich das nur mal vor: eine ganze Kompanie Soldaten, ein jeder sechzehn Jahre alt, und alle stockbesoffen!

Dieses Erlebnis ist noch gar nicht lange her. In der Kaserne gaben sie mir ein Gewehr und eine graue Uniform. Seitdem bin ich eine Nummer. Auswendig kenn ich sie noch nicht. Ist auch nicht nötig, denn sie hängt auf einem kleinen Schild um meinen Hals.

Morgen, heißt es, sind wir an der Front.

Ich habe Angst vor morgen. Aber was noch schlimmer ist: Es macht mir Schmerz. Ich glaub nicht, dass es Heimweh ist. Bei Heimweh, als ich noch klein war, im Landschulheim, da hab ich weinen können. Mit dicken Tränen im Gesicht. Jetzt aber ist das nicht mehr so. Jetzt laufen meine Tränen innen. Niemand wird sie sehen. Und es gibt keinen, der mich schluchzen hört.

 

Ich liege hier an diesem Bahndamm ganz allein. Die anderen Jungs sind alle weg.

Unser Transport soll erst spät am Abend aus dem Bahnhof rollen. Wegen der Jagdbomber, so wird gesagt. Es heißt, dass Amerikaner nach Dunkelheit nicht fliegen. Und deshalb transportiert man uns dann eben durch die Nacht.

 

Die andren Jungs sind bei Frauen in der Stadt. Schon seit dem späten Morgen sind sie dort. Bei Müttern und bei deren Töchtern. Sie kamen zu dieser Böschung hier und haben meine Kameraden abgeholt. Zu ihren Häusern hin. Zu Bratkartoffeln. Und zu Spiegelei. So haben sie gesagt. Das eine oder andere Mädchen war mit ihrer Oma hier. Wahrscheinlich mussten ihre Mütter zur Arbeit irgendwo in die Fabrik. Die Mädchen waren schüchtern. Und die Frauen hatten Mitleid im Gesicht. Ja. Mitleid. In ihren Augen hab ich das gesehn. Das war der Grund, warum ich nicht mitgegangen bin. Mitleid ist, was nicht in mein Leben passt. Seit dem Tag, als mich ein Raufbold aus unsrer Straße vor meinem eigenen Elternhaus zusammenschlug, passt das nicht. Weil es dieses verdammte Mitleid war, das ich in Mutterns Augen lesen musste, als sie mir das Blut …

 

Donnerstag

An dieser Stelle war ein Schatten auf mein Papier gefallen. Gestern. Danach hatte ich eine Frau sagen hören: »Willst du denn ganz allein am Bahndamm sein?«

Ich drehte mich um und blinzelte nach oben. Immer wenn ich gegen so einen milchig-grell-grauen Himmel sehen muss, schießt mir das Wasser in die Augen, und das ärgert mich.

Ich weiß, dass ich beim Aufsatzschreiben Vergangenheit und Gegenwart stets durcheinanderbringe. Mit diesem Tagebuch geht mir das ebenso. Eines Tages werde ich die Fehler in diesem Tagebuch verbessern, aber jetzt scheint mir das nicht wichtig. Jetzt ist nur eines wichtig: diese Frau! Weil sie jetzt in meinem Leben ist! Und weil sie es nicht verhindert hat, dass ich in den Viehwaggon gestiegen bin zu den anderen Jungs!!! Am Abend von dem Tag von gestern hat sie es mitangesehen, wie meine Tränen innen liefen. Danach ist der Zug die Nacht hindurch gerollt. Und jetzt ist heute. Mein Rücken lehnt an einem Baum. Ich hocke am Rand von einem Wald. Über einer gelben Wiese. Der Hauptfeldwebel sagt, der Fluss da vorne, weit unter uns, ist die Donau. Das Dorf im Westen heißt Wexdorf, sagt der Hauptfeldwebel, und die Amerikaner werden nicht lange auf sich warten lassen. Jetzt aber erst noch mal zu gestern.

Die Frau am Bahndamm hatte weite Hosen an. Ihr grauer Pullover war dick gestrickt. Zopfmuster heißt die Art. Ich hatte auch mal einen. In der Kaserne haben sie ihn mir abgenommen.

Ich weiß nicht, wie ich schreiben soll, dass sie schön ist, diese Frau von gestern. Sehr, sehr schön. Eine Dame! Große Augen, glaube ich. Dunkle Haare. Und die Lippen hat sie nicht geschminkt.

Ich stehe auf, und die Dame sagt: »Du siehst traurig aus.« Sie hat Falten auf der Stirn. Es sind sehr schöne Falten. Sie sieht auf mein Oktavheft und lächelt zu mir her: »Was tust du hier so ganz allein? Zeichnen?«

»Nein«, sage ich. »Schreiben.«

»Du könntest morgen weiterschreiben«, sagt sie. »Oder an dem Tag danach.«

»Ja«, sage ich und denke: »Auch nächstes Jahr oder gar nicht mehr.«

»Alleinsein ist nicht gut«, sagt sie. »Ich weiß, wovon ich spreche.« Dann gibt sie mir die Hand: »Zieh mich hoch«, sagt sie, »die Sohlen meiner Schuhe sind aus Holz. Wenn du mir nicht hilfst, kann ich dich nicht mit zu mir nach Hause nehmen.« Ich greife nach ihrer andren Hand und ziehe sie die steile Böschung hoch. Oben, am Rand von einer Wiese, sagt sie: »Danke. Und du kannst mir meine Hände wiedergeben.« Ich frage mich, ob sie wohl hört, wie laut mein Herz jetzt schlägt.

Ein Stück weiter gibt es einen Pfad mit Kies. Die Dame lacht mich an. Geht vor mir her. Auf der Straße durch den Ort sehe ich, dass sie groß gewachsen ist. Größer als ich. Macht nichts. In ein paar Jahren wird das anders sein. Soweit ich weiß, wächst man noch bis einundzwanzig.

In den Gassen dieser kleinen Stadt begegnen wir nur selten andren Menschen. Wer vorbeikommt, sagt »grüß Gott« und lächelt nicht.

Von meinen Kameraden ist weit und breit keiner zu sehn. Hoffentlich kuckt wenigstens einer mal aus dem Fenster. Wenn ja, dann pfeift er leise durch die Zähne. Reibt sich die Augen. Weil er meine Dame sieht.

Sie bewohnt zwei Zimmer in einem Haus, das grau und hässlich ist. In der Flurgarderobe hänge ich alles auf, was ein Soldat besitzt: Koppelzeug, Brotbeutel, Gasmaske und Bajonett, den langen Wintermantel, die Schirmmütze und den Stahlhelm. Der Karabiner 08 kommt in die Ecke.

Die Dame stößt eine Tür auf, die sicher einmal weiß gewesen ist, jetzt aber sehr viel Farbe braucht. Ich glaube, überall in Deutschland brauchen Fenster Farbe.

»Mach’s dir im Wohnzimmer bequem«, sagt sie. »Ich richte mich ein wenig her.«

Ein Kanonenofen hält das Zimmer mühsam warm. Die Möbel passen nicht zusammen. Sie wirken wie bei andren Leuten abgeholt, weil Bomben und Brände alles flachgemacht haben, was vorher einmal Großstadt war. Die Dame sieht mir nicht so aus, als hätte sie mal auf dem Land gelebt.

An allen Wänden hängen Bilder. Ein Kunstbild nur, doch daneben Fotos. Viele. Und auf allen ist derselbe Mann zu sehen. Einmal steht er in der Badehose an einem hellen Strand. Dann ist er Soldat. Manchmal Offizier. Mal sitzt er auf einer Kanone und lacht, mal hat er Blumen in der Hand. »Einmarsch in Paris«, steht unter diesem Bild. Eines ist bei einem Fotografen gemacht worden, das kann man deutlich sehn. Der Mann ist Major mit vielen Orden. Er sieht ernst in die Kamera. Seine Augen sagen mir nichts, weil sie schwarz sind. Sehr sogar. Auch die Haare sind schwarz, mit einem schnurgeraden Scheitel, der wie eine weiße Narbe durch all das Schwarze geht.

In dem Zimmer wird es mir zu eng. Ich laufe auf den schmalen Korridor hinaus und seh die Dame in der Küche beim Kartoffelschälen. Sie erlaubt mir, ihr zu helfen. Ihre Hände sind so schön wie ihr Gesicht. Allerdings ein wenig rot an allen Knöcheln.

Wir essen in der Küche. Was wir essen, weiß ich gar nicht mehr. Ach ja, doch: Kartoffelsalat mit Würstchen. Wir reden nicht sehr viel. Nach dem Essen fragt sie mich: »Wie alt bist du?«

»Fünfzehn«, sage ich, »im Sommer sechzehn.«

»Lass uns auf den nächsten Sommer trinken«, sagt die Dame. Sie nimmt eine Flasche Zwetschgenwasser aus dem Küchenschrank. Ich hatte bisher nur einmal Schnaps getrunken. Auf der Hochzeit meiner Schwester. Aber das sage ich der Dame nicht, sondern nehme das Glas und schütte die klare Flüssigkeit mit einem Ruck nach hinten weg. Es wird mir warm im Magen. Heiß. Herrlich. Wunderbar.

Sie setzt sich wieder auf den Küchenstuhl. »Du machst ein Gesicht, als hättest du Gift getrunken.«

»Schmeckt auch so«, sage ich. »Der Mann auf den Fotos in der Stube – ist das Ihr Mann?«

»Ja«, sagt die Dame leise.

»Trinkt er Schnaps, ohne sich zu schütteln?«

»Ja«, sagt sie. »Er trinkt neuerdings sehr viel. Dabei kann er so gut wie nichts vertragen. Vielleicht sollte ich dir von ihm erzählen.«

Ich will gar nichts von ihm hören, aber ich sage: »Tun Sie das nur.«

Sie nickt. Erzählt. Niemals nennt sie seinen Namen. Wenn sie sagt: »Er hat das getan«, oder: »Jenes wurde ihm abverlangt«, würde ich gern versinken. Sie merkt es nicht.

Das muss ein wunderbarer Mann sein, dieser Mann. Anfangs ging es nicht recht vorwärts, doch dann trat er ein, in die Partei. Von da an ging’s bergauf. Im Grunde ist er Mathematiker, Militärmathematiker, Taktiker, Denker, Schachspieler mit Soldaten. Ein Mann, der weiß, was er beschützt. Und wen er anzugreifen hat. Er weiß ja auch, warum. Nur sie, seine Frau, weiß das nicht immer. Wenn sie aus den Fenstern seiner Kaserne schaute, sah sie die raureifbedeckten Bäume rings um den Exerzierplatz rum. Er hingegen sah nur die Soldaten. Trotzdem. Er ist ein wunderbarer Mann. Wirklich. Sie hat Kunstgeschichte studiert und Literatur. Bis zur Hochzeit. Danach gab es gesellschaftliche Pflichten. Auch jene Zeit war schön. Bälle mit den jungen Fähnrichen des Mannes. Unbeschwerte Sommertage, als sie noch nicht wissen konnte, wohin dies Leben einmal führt. Sie war verwirrt, als ihr Mann erklärte, der Krieg sei gut und nicht mehr zu vermeiden. Anfangs gab es Siege. Später Bomben. Was einmal schön gewesen war, wurde nur noch still. Einsam. Grau. Ja. So war das gewesen. Ich seh, wie sie ihren Kopf zur Seite legt.

Sie hat alles zu sich selbst gesprochen und ist dabei ganz klein geworden auf dem Küchenstuhl. Weint sie jetzt? Nein, das wohl nicht.

Ich bin müde. Die Angst ist wieder da. Mir ist übel. Vielleicht verreckt der Major jetzt irgendwo. Auch ich mag Bäume, die voller Raureif sind. Besonders, wenn eine flache gelbe Sonne sie bescheint. Ob ich ihr das sagen soll? Nicht nötig. Sie merkt ja gar nicht mehr, dass ich in ihrer Nähe bin. Gott, ist mir übel!

»Verzeihen Sie«, sage ich in die schweigende Küche hinein, »aber es wird Zeit für mich.«

Ich gehe über den engen Korridor und sammle alle Dinge ein, die ein Soldat herumzuschleppen hat. Die Hände der Dame legen sich auf meine Schultern. Sie dreht mich zu sich um. Ihre Augen sind mir nah, kommen näher, immer näher, und verschwimmen. Ein Hauch legt sich auf meinen Mund. Ihr Mund. Auf meinen Lippen, die noch spröde sind von der letzten Wache, in einer kalten Nacht, wandern spielend diese andren Lippen. Weich und zart. Die Lippen fragen, verhalten, fordern, drängen, öffnen.

Und geben.

Mir ist wie sterben.

Und dann ist es vorbei, so unverhofft, wie es begann. Ich stehe mit dem schweren Militärzeug zwischen meinen Fingern und mag die Augen nicht mehr öffnen. Mein Herz schlägt harte, schnelle Schläge durch den Kopf.

Mehr von dem Glück! Mehr! Bitte mehr!

Nichts. Das Schweigen sagt, auch Glück kann sterben.

Große Augen lächeln. Werden traurig. Eine Hand streicht durch mein Haar.

Der Lederriemen mit Gasmaske, Brotbeutel, Bajonett wiegt Zentner. Der Haken, an den ich alles hängen will, ist hoch. Ich muss mich recken.

»Was tust du?«, fragt die Dame leise.

»Ich bleibe hier«, sage ich zu ihr. »Zum Bahnhof kann ich jetzt nicht mehr zurück.«