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Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt

Mit den Händen sehen

Mein Leben und meine Medizin

Herausgegeben von
Friedrich-Karl Sandmann

Insel Verlag

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Inhalt

Provence, eine unerwartete SMS am 10. August 2016

Mein Elternhaus als Fundament
Kindheit, Jugend und Aufbruch

Herbert Grönemeyer
»Das, was er macht, ist eine Kunst, eine große Kunst«

Meine neue Heimat
Mannschaftsarzt beim FC Bayern

Uli Hoeneß
»Der Verein hat ihm sehr viel zu verdanken«

Freundschaft und Vertrauen
Der FC Bayern, eine große Familie

Ottmar Hitzfeld
»Er kann unglaubliches Vertrauen schenken, nur durch seine Stimme«

Zwei Ikonen – ein Segen für den Fußball
Uli Hoeneß und Franz Beckenbauer

Jupp Heynckes
»Wir beide stehen uns nah, weil wir gemeinsame Werte teilen«

Das unerwartete Ende
Entscheidungsspiel in Porto am 15. April 2015

Franz Beckenbauer
»Es ist eine Gabe, die man hat und die man nicht lernen kann«

Eine Ehre für mich
Franz Beckenbauer holt mich zur Nationalmannschaft

Joachim Löw
»Medizin, Therapie und Heilen, das ist sein Leben«

Oliver Bierhoff
»Er hat etwas Künstlerisches und ist menschlich unglaublich fein«

Der Triumph in Brasilien
Deutschland wird Weltmeister

Klaus Eder
»Er hat mich gelehrt, in den Körper hineinzuhorchen«

Fredi Binder
»Seine Aussagen waren Gesetz«

Heilen, ohne zu schaden
Meine Medizin

Stimmen aus der Praxis
»Die Patienten spüren die besondere Atmosphäre bei uns«

Usain Bolt
Der Jahrhundertsprinter

Usain Bolt
»Er gibt keine Ruhe, bis du geheilt bist«

Begegnungen mit besonderen Menschen
Wie Freundschaften entstehen

Jacques Herzog
»Sein Vorgehen hat eine fast künstlerische Komponente«

Meine zweite Leidenschaft
Musik und bildende Kunst

Karin Müller-Wohlfahrt
»Jeder sollte des anderen Engel sein«

Maren de Martino
»Er geht sehr geradlinig seinen Weg«

Glückliche Fügungen
Gedanken zum Schluss

Provence, eine unerwartete SMS am 10. August 2016

Die SMS auf meinem Telefon schreckt mich auf. Ich bin in Frankreich, mache Urlaub mit meiner Frau und freue mich auf entspannte Tage mit meinen Kindern und Enkeln. Das ganze Jahr über bin ich unterwegs gewesen – vor allem in Sachen Fußball. Die Europameisterschaft 2016 in Frankreich stand an, und ich begleitete die Fußballnationalmannschaft auch vorher bei den Qualifikations- und Vorbereitungsspielen. Für Urlaub und Familie blieb da wenig Zeit. Schließlich fand ich eine Woche, in der ich frei machen konnte. Lesen, im Garten arbeiten, laufen oder schwimmen gehen, Zeit in der Natur verbringen … Ich liebe Südfrankreich und das Haus, das meine Frau Karin in der Nähe von Mougins für uns gefunden und so besonders eingerichtet hat. Es ist für mich der ideale Rückzugsort. Das Haus liegt, umgeben von üppiger Vegetation, geschützt auf einer Anhöhe, etwa 20 Kilometer vom Meer entfernt. Karin hat einen wunderbaren Garten angelegt mit wuchtigen Bäumen und mediterranen Pflanzen. Von der Terrasse aus gesehen, verstellt nichts den Blick in die Landschaft und hier oben kann man seinen Gedanken freien Lauf lassen.

Jetzt aber schaue ich auf die SMS: »Doc, ich habe Muskelschmerzen, ich kann nicht trainieren. Was kann ich machen? Was empfiehlst du mir?« Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, denn der, der mir da schreibt, ist gerade in Brasilien, um seinen Titel als Olympiasieger zu verteidigen, und ich bin auf einem anderen Kontinent. Mir ist sofort klar, jetzt zählt jede Minute. Karin sieht mein besorgtes Gesicht und fragt, was los ist. Ich erzähle ihr von der SMS.

Zufällig ist meine engste Mitarbeiterin in der Praxis, Imke, gerade auf dem Weg zu uns, auch sie wollte ganz in der Nähe endlich einmal Urlaub machen und bei Freunden die Sonne und das Meer genießen. Eigentlich sind wir alle heute bei U2-Frontmann Bono und seiner Frau Ali zum Mittagessen eingeladen. Als Imke eintrifft, überlegen wir, was zu tun ist. Mein Gefühl sagt: Ich muss nach Brasilien – irgendwie und möglichst schnell. Dann, als könnte sie meine Gedanken lesen, sagt meine Frau: »Du musst hin.« Ich merke, wie mich ihre Entschlossenheit erleichtert. Sie hat nicht eine Sekunde lang gezögert. Wieder einmal tritt sie zurück, ohne mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Wieder einmal unterstützt sie mich zu 100 Prozent.

Imke ist bereit mitzukommen, aber es fehlt die Zeit, in das Ferienhaus ihrer Freunde zurückzufahren, um zu packen, und auch ich habe kaum etwas dabei, vor allem keinen Reisepass und schon gar nicht meinen Medizinkoffer. Also rufe ich in der Praxis an und schlage Alarm: »Sucht schnell alles zusammen und schickt jemanden in meine Wohnung, um den Reisepass zu holen.« Zwei Mitarbeiterinnen der Praxis packen die Medizin ein und finden meinen Pass, rasen zur Übergabe mit dem Auto an den Frankfurter Flughafen, während Imke und ich von Nizza nach Frankfurt geflogen sind. Jetzt kann es losgehen! Usain Bolt weiß, dass wir kommen.

Erst im Flugzeug nach Rio de Janeiro legt sich meine Anspannung langsam. Ich denke an die vergangenen Urlaubstage, an die Kinder und an Karin, und ich stelle fest: Immer wieder passiert so viel Unvorhergesehenes in meinem Leben – und viele glückliche Fügungen.

Mein Elternhaus als Fundament
Kindheit, Jugend und Aufbruch

Mein Elternhaus war ein gutes Fundament, wir lebten bescheiden und hatten doch alles, was man brauchte. Glaube, Musik, Disziplin und Sport prägten mein Leben. In einem anderen Umfeld wäre ich nicht der geworden, der ich bin. Heute sehe ich, wie gut ich es gehabt habe und wie behütet wir waren, doch damals wurde mir unser kleines ostfriesisches Dorf schnell zu klein.

Mit meinen beiden Brüdern Hajo und Dieter teilte ich mir ein kleines Zimmer, denn wir hatten, wie alle Häuser in unserem Dorf, nach dem Krieg eine Flüchtlingsfamilie mit zwei Kindern aufgenommen. Auch eine Lehrerin wohnte einige Jahre mit uns in diesem kleinen Backsteinhaus und ein junges Dienstmädchen. Ich bin der jüngste von drei Brüdern und wurde 1942 während eines Luftangriffs in Leerhafe in Ostfriesland geboren.

Damals hatten wir eine Kuh, ein Schwein, ein Schaf, Hühner und einen großen Gemüse- und Obstgarten. Wir sind mit der Natur aufgewachsen, der Lebenszyklus von Mensch und Tier war uns vertraut und wir haben den Wandel der Jahreszeiten intensiv erlebt. Diese Erfahrung wünsche ich eigentlich jedem Kind. Wir haben gesehen, wie eine Kuh kalbt, und waren dabei, wenn ein Schwein geschlachtet wurde. Sicherlich hat dieser intensive Kontakt mit der Natur dazu beigetragen, dass ich später als Arzt nicht mit chemischen Wirkstoffen arbeiten wollte und sie bis heute nicht gern einsetze.

Meine Mutter hat abwechslungsreich und gesund gekocht. Im Sommer hat sie, wie das damals üblich war, für den Winter vorgesorgt und in Gläsern Obst und Gemüse eingekocht. Aus Zuckerrüben wurde Sirup hergestellt. Freitags gab es immer Fisch, sonntags einen Braten – und gebacken wurde natürlich auch. Wir haben damals sogar selbst »gute Butter« hergestellt, was in den ersten Nachkriegsjahren verboten war und heimlich geschehen musste. Am Monatsende war das Geld immer knapp und wir mussten im Kaufmannsladen anschreiben lassen. Das Buch, in dem festgehalten wurde, was meine Mutter gekauft hat, habe ich später gefunden und war sehr berührt von der Genügsamkeit meiner Eltern. Wenn das Gehalt meines Vaters ausgezahlt war, beglich er die Rechnung beim Kaufmann und für uns Kinder gab es dann immer eine Tafel Schokolade, die wir unter uns Dreien natürlich genau aufteilen mussten. Ich glaube, dass mir Schokolade nie mehr so gut geschmeckt hat wie dieses köstliche Stück, das es einmal im Monat gab.

Meine Mutter stammte aus Göttingen, wo sie meinen Vater, der dort studierte, kennenlernte. Wie es vor dem Krieg noch weitgehend üblich gewesen war, hatte sie als Haustochter bei der bekannten Professorenfamilie Siemens gearbeitet. Es war eine große Umstellung für sie, aus der quirligen Universitätsstadt Göttingen an den Rand Deutschlands nach Leerhafe in Ostfriesland umgepflanzt zu werden. Sie hatte jedoch eine wunderbare, positive Lebenseinstellung und nahm das, was ihr das Leben schenkte, dankbar an. Dabei war es für sie mit vier Männern im Haushalt bestimmt nicht immer einfach.

Sie hat meine Frau Karin sehr gemocht und gemeinsam haben sie, als wir schon in München lebten, oft Ausflüge gemacht oder sind mit dem Käfer Cabrio in die Stadt gefahren. In Karins Modeatelier bekam sie Kleider nach Maß, die sie stolz getragen hat. Sie ist 87 Jahre alt geworden. Nach dem Tod meines Vaters hat sie noch einmal ein neues Leben entdeckt und es genossen, selbst verwöhnt zu werden, zum Beispiel bei Familienurlauben.

Die Reisen nach Göttingen liebte ich als Kind, vor allem, weil mir mein Großvater so wichtig war. Wir hatten eine enge Beziehung. Meine Eltern fuhren mit uns Jungen im Auto, einem Lloyd, der in den fünfziger Jahren so erfolgreich und beliebt war, aber aus reiner Pappe gebaut zu sein schien, nach Göttingen oder in den Harz. Meiner Mutter haben wir es zu verdanken, dass wir zu Hause reines Hochdeutsch sprachen und kein Plattdeutsch. Mein Vater, der unter anderem in Leipzig, Tübingen und Göttingen studiert hatte, sprach ebenfalls ein gewähltes Hochdeutsch, aber als Ostfriese konnte er natürlich auch Platt.

Schon früh hat mich die Sehnsucht nach dem Süden gepackt

Das Leben in meinem Elternhaus war ein gutes Fundament für meinen späteren Weg, und heute bin ich dankbar dafür. Damals aber habe ich nur nach vorne gedacht und wollte schnell weg aus diesem mich in jeder Hinsicht einengenden Dorf. Jetzt denke ich oft über die Vergangenheit und meine Kindheit nach, und dann sehe ich, wie gut ich es gehabt habe und wie behütet ich war. Ich wünschte, ich hätte dies meinen Eltern zu Lebzeiten einmal gesagt.

Wir lebten bescheiden und hatten doch alles, was man brauchte. Aber als Jugendlicher habe ich immer die Städter beneidet. Im Dorf gab es zu wenige Jungen, mit denen ich hätte Sport treiben können. Es gab rechts und links Bauernhöfe, einen Schuster, einen Bäcker, einen Kaufladen, einen Schmied mit Tankstelle, zwei Gastwirtschaften, die Grundschule, die Kirche und ein paar Häuser, in denen Angestellte oder Arbeiter mit ihren Familien wohnten. Das Ortsbild von damals gibt es heute nicht mehr. Die Grundschule wurde abgerissen, und viele kleine Bauernhöfe liegen brach. Wer will heute noch die mühevolle Landwirtschaft betreiben – schon gar, wenn sie nicht mehr rentabel ist?

Besonders die Sommerferien habe ich immer herbeigesehnt. An manchen Tagen gab es eine flirrende Hitze und wir badeten in kleinen Teichen oder Lehmkuhlen. Damals sind wir aber auch bei 16 Grad ins Wasser gesprungen. Ich schätze mich glücklich, dort oben in Ostfriesland aufgewachsen zu sein. Dort sind meine Wurzeln. In einem anderen Umfeld wäre ich sicher nicht der geworden, der ich heute bin. Aber irgendwann hat mich in dieser rauen Gegend, die meine Heimat war, die Sehnsucht nach dem Süden gepackt und nie mehr losgelassen.

Mit 17 Jahren bin ich zum ersten Mal zusammen mit meinem Freund Wolfgang Junge an die französische Atlantikküste gereist. Zuerst sind wir mit dem Zug nach Köln, dann mit dem Fahrrad nach Valenciennes und von dort per Anhalter nach Paris gefahren, danach weiter nach Biarritz am Atlantik nahe der spanischen Grenze. Dort habe ich ein anderes, unbeschwertes Lebensgefühl kennengelernt. Wir haben uns von Melonen, Obst, Baguettes oder Sardinen aus der Büchse ernährt und hin und wieder – wenn wir uns etwas Besonderes gönnen wollten – einen Milchkaffee oder einen Rotwein getrunken. In Biarritz habe ich Surfen mit dem Longboard gelernt. Damals kannte man das bei uns noch nicht. Dieser Sport hatte eine faszinierende Wirkung auf mich, sodass ich später wieder und wieder Surfgebiete aufgesucht habe. In der Jugendherberge von Biarritz schliefen wir in Hängematten draußen – und auch Mädchen übernachteten dort. Mädchen so nahe um mich zu wissen – ich war bis dahin ja meist nur mit meinen Brüdern und anderen Jungen zusammen gewesen – war atmosphärisch von ganz besonderem Reiz, überhaupt war diese Reise ein fast magisches Erlebnis! Damals ist meine Liebe zu Frankreich geweckt worden, die mir bis heute erhalten geblieben ist. Meine Eltern ahnten nicht, dass wir bis an den Atlantik reisten, denn wir hatten behauptet, mit dem Fahrrad im Sauerland unterwegs zu sein. Ich aber hatte immer Fernweh und wollte einfach nur weit weg.

Meinen Eltern habe ich schließlich nach der Rückkehr gestanden, dass wir nicht ins Sauerland, sondern bis nach Südwestfrankreich gefahren waren. Meine Mutter fiel fast in Ohnmacht. Ich organisierte eine Landkarte, um zu zeigen, wo wir überall gewesen waren. Meine Eltern hatten selbst noch nie eine so weite Reise gemacht – und so waren sie sprachlos. Meinem Vater musste ich allerdings versprechen, solch ein Abenteuer ohne seine Erlaubnis nicht noch einmal zu unternehmen. Aber die Verlockung, dem Ruf der Freiheit zu folgen, war jedes Jahr aufs Neue zu groß.

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1 Unser erstes Familienfoto nach dem Krieg, 1945

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24 Meine Brüder und ich waren unzertrennlich, trotz des Altersunterschieds. Dieter war drei Jahre älter und Hajo fünf Jahre. Die Fotos sind von 1948, 1950 und 1962.

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5 Nach dem Kirchgang empfingen meine Eltern immer Gäste im Pfarrhaus und auf der Terrasse, Foto von 1957.

Im Jahr darauf waren wir sogar noch wagemutiger. Wir trampten wieder nach Biarritz an den Atlantik zum Surfen. Auf dem Nachhauseweg sind wir dann über das spanische Pamplona durch die Pyrenäen ans Mittelmeer gereist, am Mittelmeer entlang nach Italien und über die Schweiz zurück nach Deutschland. Manchmal hatten wir Glück, per Anhalter in tollen Autos mitfahren zu dürfen, einmal in einem luxuriösen Mercedes, dessen Fahrer, der Chauffeur des Eigentümers, keine Lust hatte, die Strecke von Genua bis Zürich allein zu fahren.

Wir waren stolz auf unsere Reisen und Begegnungen, und in der Schule wurden wir von unseren Mitschülern dafür bewundert. Allerdings ist meine ostfriesische Heimat ja nicht gerade bekannt dafür, dass den Menschen dort das Temperament durchgeht. Also haben auch wir uns eher zurückgehalten. Angeberei durfte nicht sein und wir wussten auch, dass viele der Jungen aus unserer Schule während der Sommerferien in der Landwirtschaft helfen mussten. Da war an weite Reisen nicht zu denken.

In Ostfriesland ist es fast immer windig, oft weht eine so steife Brise, dass die Bäume sich biegen und sie schräg von West nach Ost geneigt wachsen. In den Wintermonaten standen die Felder unter Wasser und verwandelten die ostfriesische Landschaft in riesige vereiste Flächen. Es gab noch keine Schöpfwerke an den Flussläufen zum Meer, die den Wasserstand hätten regulieren können. Manchmal war alles so vereist, dass wir statt des Fahrrads die Schlittschuhe nahmen, um voranzukommen. Wir mussten uns der rauen Natur anpassen, weil Wetter und Gezeiten das Leben bestimmten.

Viele Winter waren nicht nur sehr kalt, sondern oft auch stürmisch, und der 15 Kilometer lange Schulweg schien an manchen Tagen endlos zu sein. Einen Teil der Strecke fuhren wir, meine Brüder und ich, mit dem Rad, den anderen mit dem Zug und dann gingen wir noch zwei Kilometer zu Fuß. Um 6 : 30 Uhr mussten wir aus dem Haus. Meinem Vater oder den Eltern anderer Schulkinder wäre es nicht im Traum eingefallen, uns mit dem Auto zur Schule zu bringen. Die 20-minütige Zugfahrt von Wittmund nach Jever, wo ich das Mariengymnasium besuchte, war für mich allerdings sehr wichtig und die Zeit fest eingeplant, um die Hausaufgaben von Klassenkameraden abzuschreiben, die ich fast nie gemacht habe.

So wie die Natur Ostfrieslands sich eher karg und rau zeigte, gab es auch in meiner Kindheit keinen Überfluss, dafür Disziplin und Strenge – die Erwartungen an Kinder waren ganz andere als heute. Mein Vater war Pastor in Leerhafe und – wie meine Mutter als Pastorenfrau – immer »im Dienst«. Jeden Tag wurde eine Andacht gehalten und gesungen. Für die Gottesdienste gab sich mein Vater die größte Mühe, die Bibel so auszulegen, dass die ausgewählten Textpassagen verständlich wurden und samt der moralischen Botschaft zu den Alltagserfahrungen der Menschen passten. Die aus der Bibel gewonnene christliche Ethik bestimmte seine Grundhaltung. Er war ein gottesfürchtiger und rechtschaffener Mann und konnte gegenüber der Gemeinde auch sehr laut werden, wenn es etwas zu kritisieren gab. Er hatte seinen Standpunkt und vermittelte diesen manchmal so nachdrücklich, dass die während seiner Predigt einsetzende Stille von unglaublicher Kraft war – sie ging einem sprichwörtlich durch Mark und Bein. Es gab wohl niemanden, der von dieser Macht seines Wortes unbeeindruckt geblieben wäre.

Glaube, Musik und Disziplin haben mich geprägt

In meinem protestantischen Elternhaus gab es drei zentrale Dinge, die den Rahmen unseres Lebens bildeten: Glaube, Musik – und Disziplin. Meinen Eltern waren außerdem noch Bescheidenheit – man kann auch sagen: eine Haltung der Demut – wichtig, meinem Vater sportlicher Ehrgeiz.

Ein Ereignis aus meiner frühen Kindheit vermittelt gut, in welcher Atmosphäre ich aufgewachsen bin: In der Weihnachtszeit schrieb ich einen Wunschzettel und listete alles auf, was mir in den Sinn kam. Mein Vater war fassungslos, als er sah, was ich mir da zu wünschen wagte. Ich hatte einen Skianorak, Handschuhe, einen Elektrobaukasten, Teile für die elektrische Eisenbahn und noch kleinere Dinge auf den Wunschzettel gesetzt. Diesen Zettel bekam ich dann so um die Ohren, dass ich mich heute noch gut daran erinnere. Für meinen Vater war mein Verhalten schlicht ungehörig. »Wie kannst du nur solche Ansprüche haben?«, fragte er mich, und ich fühlte mich tief beschämt. Ein Wunsch wäre in Ordnung gewesen, aber so viele waren maßlos.

Heute weiß ich, dass mein Vater als Pastor ein relativ geringes Einkommen hatte und dass wir drei anspruchsvolle Kinder waren. Wir trieben viel Sport, spielten Musikinstrumente, waren immer hungrig und aßen viel. Wir hatten Wünsche und erwarteten monatlich ein kleines Taschengeld. Damals habe ich meinen Vater als streng empfunden, und wir Kinder wollten es ihm immer recht machen – seine Anerkennung bedeutete uns alles. Er ist mit 63 Jahren an seinem dritten Herzinfarkt gestorben. Er hat sich vermutlich im wahrsten Sinne des Wortes alles zu sehr zu Herzen genommen und konnte schwer etwas loslassen. Ihm fehlte meines Erachtens eine gewisse Gelassenheit gegenüber dem Leben.

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6 Mein Vater arbeitet am Schreibtisch in seinem Studierzimmer an der Sonntagspredigt, 1964.

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7 Unser schönes Pfarrhaus in Leerhafe

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8 Die romanisch-gotische Leerhafer Kirche, der Blick auf den Altar

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9 Die Kirche stand direkt neben dem Pfarrhaus auf einer vor Hochwasser schützenden Warft.

 

Bei uns zu Hause ging es um andere Werte als um Geld. Bescheidenheit war eine Tugend, die uns von klein auf vermittelt wurde, sicher auch, weil sie in der Zeit damals notwendig war. Auch gab es eine Wertschätzung für die Rituale des Alltags. Meinen Eltern waren gute Manieren und gemeinsame Mahlzeiten wichtig. Meine Mutter legte Wert auf einen entsprechend gedeckten Tisch, der uns bewusst machen sollte, wie wenig selbstverständlich das Essen war. Wir lernten, es nicht im Vorbeigehen hinunterzuschlingen, sondern sich dafür hinzusetzen, zu beten und dann erst zu essen – alle gemeinsam. Heute in Zeiten von »Coffee to go« kann ich das Verständnis meiner Eltern von »guten Sitten« nachempfinden und auch mir bedeutet ein Essen mit meiner Familie an einem schön gedeckten Tisch viel. Indem man sich hier zusammenfindet, ergibt sich erst die Möglichkeit für Gespräche und dafür, Interesse und Anteilnahme am eigenen Leben zu erfahren. In den vergangenen Jahren hatte ich zu wenig Gelegenheit dazu, weil ich oft weg oder lange in der Praxis war, aber wenn ich heute gemeinsame Mahlzeiten im Kreis meiner großen Familie erlebe, bin ich ein glücklicher Mensch.

Mein um drei Jahre älterer Bruder Dieter – der Mittlere – war eigentlich in allem besser als ich. Er war zwar auch faul in der Schule, hatte aber gute Noten, war ein begnadeter Musiker und ein sehr guter Sportler. Die Liebe zum Sport habe ich von ihm übernommen. Später aber hat er durch mich die Medizin entdeckt und sich entschlossen, zusätzlich noch Medizin zu studieren und zu promovieren – nachdem er bereits Diplomingenieur der Elektrotechnik war.

Mein fünf Jahre älterer Bruder Hajo war ausgesprochen wissensdurstig und an allem interessiert, fast wie ein Universalgelehrter. Er hat in mir die Liebe zur klassischen Musik und zur Malerei geweckt. Nach dem Latinum im Gymnasium lernte er an der Universität noch Griechisch und Hebräisch, um dann Theologie zu studieren. So wurde er Pastor wie mein Vater.

Was mich betrifft, so habe ich gegen die Schule angesehen und mich morgens mit einem deftigen Fluch auf sie von meinen Eltern verabschiedet. Nichts hat mich dort wirklich interessiert – außer Sport. Im Unterricht habe ich nicht selten vollkommen abgeschaltet, so sehr habe ich mich gelangweilt. Damals wurden noch Ohrfeigen verteilt und die Lehrer waren nicht zimperlich. Ich erinnere mich, wie demütigend ich es empfunden habe, als der Schuldirektor mich einmal auf dem Schulhof vor aller Augen ohrfeigte. Mein Vater war entrüstet, als ich ihm davon erzählte, und hat den Direktor am nächsten Tag zur Rede gestellt. Für einen außenstehenden Beobachter wäre bei dieser Szene nicht ganz klar gewesen, wer in der Schule das Sagen hatte.

Mein Vater hat so manchen Aufsatz für mich geschrieben und weil wir nur ungefähr wussten, was als Thema drankommen würde, hat er vorausschauend drei Themen bearbeitet. Und tatsächlich, eines davon war es dann oft. Wenn ich eine Klassenarbeit in Latein hinter mir hatte, fragte er mich meistens: »Na, wie war's?« Ich zeigte ihm den Durchschlag der Matrize, die ich mit nach Hause genommen hatte, und so wusste er als alter Lateiner immer, welche Note ich vermutlich bekommen würde, und war ganz zufrieden, wenn es dann noch eine Vier war.

Dass mich die Schule wenig bis gar nicht interessierte, hat mein Vater – obwohl er sich Sorgen machte – mit ziemlicher Gemütsruhe hingenommen. Beim täglichen Abfragen der Lateinvokabeln meinte er nur: »Du hast ein Gedächtnis wie ein Sieb.« Ich konnte mir keine Vokabeln merken, war in Latein so schwach – und meine Versetzung immer wieder gefährdet. Was meinen Vater allerdings grundsätzlich aufbrachte, war ein Mangel an Ehrgeiz. Wenn es selbst ihm zu bunt wurde, weil ich wieder einmal fast gar nichts für die Schule getan hatte, sagte er: »Wenn du nicht lernen willst, kannst du auch Bauer werden, dann kannst du gleich morgen beim Nachbarn anfangen.« Das saß, denn ich hatte die mühsam wirtschaftenden Bauernhöfe und das harte Leben der Landwirte vor Augen. Möglicherweise habe ich seine Art, die damals so streng auf mich wirkte, mit der er sich aber unentwegt für mich einsetzte, schließlich doch verstanden und verinnerlicht. Und wie es scheint, habe ich auch etwas von der Durchsetzungskraft meines Vaters geerbt. Das hat mir später in meinem Leben in manch harter Auseinandersetzung geholfen.

Zum Glück hatte ich auch in der Schule eine »Verbündete«, meine Klassenlehrerin Frau Oberstudienrätin Wischke, die es gut mit mir meinte und die mich mochte. Ihr und meinem Vater verdanke ich, dass ich das Abitur schaffte. Dennoch habe ich eine Klasse wiederholen müssen und wurde wegen Latein und Religion – ausgerechnet Religion – nicht versetzt.

Als ich einmal von der Schule verwiesen werden sollte – das Lehrerkollegium hatte dies in einem damals noch möglichen sogenannten Consilium Abeundi entschieden –, ist mein Vater regelrecht ins Zimmer des Direktors hineingeschossen und hat ihn barsch aufgefordert, diesen Entschluss rückgängig zu machen, was dann sogar auch geschehen ist. Zu dieser Zeit konnte man bereits von der Schule verwiesen werden, wenn man zu lange Haare hatte. So etwas wurde bei uns zu Hause schon gar nicht geduldet, die Ohren mussten frei sein und durften nicht von den Haaren bedeckt werden – an solchen Äußerlichkeiten kann es also nicht gelegen haben.

Mein Spitzname Mull ist übrigens in meiner Schulzeit entstanden. In der Klasse gab es mehrere Schüler mit dem Nachnamen Müller und so wurde ich – durch die Fantasie meiner Mitschüler und eine gewisse Dynamik – zuerst Muller und irgendwann Mull genannt. Bekannte und Freunde nennen mich auch heute noch so – und manchmal sogar meine Frau.

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1012 Ich trainierte meist zu Hause und alle 14 Tage auf dem Sportplatz in Wittmund.

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13 Bundesjugendspiele am Mariengymnasium Jever, 1958

So erfolglos ich in der Schule war, so erfolgreich war ich im Sport

Wichtiger als die Schule waren mir damals andere Aktivitäten: Ich spielte jeden Tag Klavier und Posaune, später auch Orgel. Und wichtiger noch war der Sport: Täglich trainierte ich für mich allein – ein bis zwei Stunden Sprint, Weitsprung, Hochsprung, Kugelstoßen, Speer- und Diskuswerfen oder Mittelstreckenlauf auf holprigen Feldwegen.

In Leerhafe gab es zu dieser Zeit keinen Sportplatz oder Sportverein, aber ich hatte trotzdem alles, was ich brauchte: Ich war mein eigener Trainer und auf unserer Allee konnte ich sprinten, hatte eine selbst gebaute Weit- und Hochsprunganlage, einen Kugelstoßring im Garten. Den Speerwurf trainierte ich an Wochenenden gerne am 10 Kilometer langen Strand von Wangerooge. Und das bedeutete: Werfen, Laufen, Werfen, Laufen und so weiter, immer dem Speer hinterher. Mit dieser Trainingsmethode brachte ich es immerhin auf 70 Meter Weite. Zu Hause trainierte ich den Speerwurf auf einer hinter unserem Haus gelegenen Kuhwiese. Darüber verlief eine Überlandleitung, über die ich ohne Probleme werfen konnte, bis mir eines Tages – ich trainierte in der Abenddämmerung – der Speer ausrutschte und sich mit Schwung in die Drähte eindrehte: Die Leitungen gerieten aneinander, Funken sprühten, Kurzschluss! Der Speer fiel in zwei Hälften vom Himmel und das ganze Dorf versank in Dunkelheit.

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14 Nur auf der 150 Meter langen Allee, der Zufahrt zu unserem Pfarrhaus, konnte ich den Sprint trainieren – für mich ideale Bedingungen.

Ich habe bei Wind und Wetter trainiert. Wenn es regnete, war ich sofort durchnässt – damals gab es ja noch keine Funktionswäsche. Aber nichts konnte mich vom Training abhalten. Im Winter trug ich dicke Schafwollunterhemden, die meine Mutter für mich gestrickt hatte, und darüber mehrere Pullover.

Mein Vater beklagte sich fast nie über eine schlechte Schulnote, wenn ich aber nicht trainiert hatte, was sehr selten vorkam, war er maßlos enttäuscht. Ich erinnere mich, wie er mich einmal abends, als ich schon ins Bett gehen wollte, fragte: »Hast du heute trainiert?« Er wusste, dass ich das Training an diesem Tag hatte ausfallen lassen. Es war schon nach zehn Uhr abends und ich zog mich wieder an, lief acht Kilometer die dunkle Straße entlang und ging erst danach zu Bett. Unser Vater hat seinen sportlichen Ehrgeiz auf seine drei Jungen übertragen, und er wollte, dass wir mit Disziplin und Strenge lernen, was es heißt, Ziele zu erreichen. In seiner Jugend war er selbst ein guter Ruderer und Turner gewesen, im Zweiten Weltkrieg aber schwer verwundet worden.

So erfolglos ich in der Schule war, so erfolgreich war ich im Sport. 1961 belegte ich völlig überraschend den dritten Platz bei den Deutschen Junioren-Mehrkampf-Meisterschaften im – wie es damals hieß – internationalen Fünfkampf. Am Abend zuvor war ich erst spät von einer Klassenfahrt aus Berlin zurückgekommen und hinter mir lag eine Woche, in der wir wenig geschlafen hatten. Ich kam also ziemlich übermüdet zu Hause an und mein Vater sagte: »Du weißt schon, dass du morgen einen Wettkampf hast in Hamm?« Ich war fest davon ausgegangen, dass der Wettkampf erst am darauffolgenden Tag sein würde. Schnell packte ich meine Sachen zusammen, mein Vater gab mir sein Auto und mit dem VW-Käfer fuhr ich in das mir unbekannte über 270 Kilometer entfernte Hamm, wo ich spät in der Nacht ankam und nur noch auf einem Hotelflur auf einer Luftmatratze übernachten konnte. Am nächsten Morgen – ich hatte ja keinen Trainer – musste ich alles allein organisieren: zum Stadion fahren, Meldebüro aufsuchen, Startnummer besorgen, Startgeld bezahlen und anderes mehr. Trotz der chaotischen Woche und der fast schlaflosen letzten Nacht war ich in einer Topverfassung und auch meine Zielsetzung war klar. Ich weiß nicht mehr wie, habe aber in allen Disziplinen so gut abgeschnitten, dass es für den dritten Platz reichte. Mit dabei war auch Kurt Bendlin, einer der später weltbesten Zehnkämpfer, Weltrekordhalter und Goldmedaillengewinner, mit dem mich heute noch eine Freundschaft verbindet. Er gewann damals Gold. Den Mehrkampf habe ich immer sehr geliebt: Speerwurf, Diskus, ich bin gelaufen, gesprintet und gesprungen und hatte an alldem Spaß!

Der Jazz wurde zu meiner zweiten großen Leidenschaft

An den Wochenenden bin ich mit einem alten Moped, das ich gemeinsam mit einem Freund heimlich gekauft hatte, in das 30 Kilometer entfernte Wilhelmshaven gefahren. Wenn die Eltern schon im Bett lagen, fuhr ich leise los. Die Strandhalle spielte die beste Musik und dort traf man die hübschesten Mädchen. In Wilhelmshaven gab es mehrere Kneipen, in denen sehr gute englische Bands spielten. Aber wir haben auch selbst Musik gemacht: Dixieland-Jazz! Ich war Posaunist der Old Marytown Jazzband, die ich mit Freunden gegründet hatte, und an Sommerabenden spielten wir bei Riverboatshuffles auf den Helgoland- oder Inselfährschiffen und verdienten damit ein wenig Geld.

Manchmal war ich erst früh am Morgen wieder zurück, kurz bevor meine Eltern aufwachten. Und wenn mein Vater mich fragte: »Na, wann bist du denn nach Hause gekommen?«, habe ich vage geantwortet: »… war schon nach zwölf«. Wenn es sehr spät geworden war und Gefahr bestand, die Eltern könnten schon wach sein, habe ich das Moped lange vor meiner Ankunft geschoben, um jeden Lärm zu vermeiden. Um zehn Uhr morgens läuteten die Glocken in der romanisch-gotischen Dorfkirche für den Sonntagsgottesdienst, und da ich die Orgel spielte, musste ich auf alle Fälle zeitig und vor meinem Vater in der Kirche sein.

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15 & 16 Mit meinem besten Freund Wolfgang Junge gründete ich 1958 die Old Marytown Jazzband: Henning Hinze am Saxofon, Bandleader Jochen Ewald an der Trompete, Ulf Wenk an der Tuba, am Klavier Wolfgang Junge und ich an der Posaune.

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17 Mit Wolfgang war ich immer in den Ferien unterwegs, entweder in Frankreich, in Spanien – oder, wie hier, auf der Insel Helgoland.

Nach dem Gottesdienst wurde gemeinsam mit den Kirchenvorstehern bei uns zu Hause die Kollekte gezählt und anschließend gab es das sonntägliche Mittagessen – und zwar immer um Punkt zwölf Uhr: Zuerst die Suppe, dann den obligatorischen Sonntagsbraten, den meine Mutter schon am Samstag zubereitet hatte, und zum Nachtisch Vanillepudding – zum Beispiel mit Erdbeeren oder auch mit Eischnee. Das Essen und die Bewirtung der Gäste waren Hoheitsgebiet meiner Mutter. Wir hatten häufig Besuch, und meiner Mutter war es zu verdanken, dass das Haus offen und die Atmosphäre herzlich war. Das Pfarrhaus war in einem übersichtlichen Dorf natürlich das Zentrum – gesellschaftlich wie kulturell.

Meine Mutter ging in der Familie, aber auch in der Gemeinde auf. Sie war eine sehr gute Gastgeberin. Sie kochte, wenn es notwendig war, auch für 80 Gäste eine deftige Erbsensuppe mit Mettwürsten in einem riesigen Kessel. Oder sie bereitete im Gemeindesaal für ebenso viele Gäste eine große Teetafel vor. Dazu gab es ostfriesischen Butterkuchen und goldbraunen Ostfriesentee mit Kluntje – das Beste, was Ostfriesland an Kulinarischem zu bieten hat. Das Messingstövchen gehört zu den wenigen Dingen, die mich noch heute täglich an die Zeit damals erinnern. Dieses Stövchen war sozusagen der Mittelpunkt des Wohnzimmers: Hierauf wurde der Tee warm gehalten und frischen Tee gab es alle paar Stunden.

Ich wollte Arzt werden – mein Vater war strikt dagegen

Mit einem Medizinstudium sympathisierte ich, seit ich 16 Jahre alt war. Der Vater meines Schulfreundes Wolfgang Junge war chirurgischer Chefarzt an einem Unfallkrankenhaus. Einmal durften wir mit in den Operationssaal: Ein Unfallpatient mit schwersten Verletzungen an Leber, Milz, Zwerchfell und Lunge musste notoperiert werden und wir durften zuschauen. Das, was ich zu sehen bekam, faszinierte mich derart, dass ich von da an Arzt werden wollte.

Ich interessierte mich aber ebenso für Elektrotechnik und baute mit einem Freund gerne Funkgeräte oder Rundfunkempfänger. Ich hätte mir auch vorstellen können, Architekt zu werden.

Mein Vater war von der Idee, dass ich Arzt werden wollte, gar nicht angetan. Er hätte sich so sehr gewünscht, dass ich Theologie studiere. Als Pastor hatte er geradezu eine Aversion gegen »die Halbgötter in Weiß«. Seiner Ansicht nach verdarb der Arzt-Beruf den Charakter, und er sagte mir sehr deutlich, dass er mich, falls ich diesen Weg wählen würde, finanziell nicht unterstützen könne.

Als die Schule für mich endlich vorbei war und ich das Abitur mehr schlecht als recht bestanden hatte, war mir klar, dass der Notendurchschnitt nicht für das Medizinstudium reichte. Ich war aber optimistisch, dass ich es irgendwie schon schaffen würde.

Bevor ich mich für eine Uni und ein Studienfach entschied – es herrschte Wehrpflicht –, ging ich zur Bundeswehr. Ich träumte davon, zu den Gebirgsjägern in Bayern oder zu einer Fallschirmspringereinheit in Süddeutschland eingezogen zu werden – jedenfalls hatte ich mich darum beworben. Ich wollte meinen Wehrdienst weit genug von Leerhafe entfernt leisten. Das war mein sehnlichster Wunsch. Stattdessen landete ich im nahen Varel bei den Panzergrenadieren, gerade eineinhalb Stunden von zu Hause entfernt.

Wegen der in Aussicht gestellten finanziellen Abfindung nach erfolgreich absolvierter Offizierslaufbahn verpflichtete ich mich für zwei Jahre und wurde Leutnant der Reserve. Ich muss sagen, ich fand Gefallen an der manchmal recht harten Ausbildung. Auch 35-Kilometer-Märsche bei Eis und Schnee habe ich lediglich als Herausforderung gesehen. Am Ende bekam ich 7500 D-Mark Abfindung. Diese Summe hat mir das Studium ermöglicht.

Mit der Medizin klappte es wie erwartet zunächst nicht. Ich schrieb mich schließlich in Kiel für mehrere naturwissenschaftliche Fächer ein und hegte insgeheim die Hoffnung, doch noch ein Medizinstudium aufnehmen zu können. Während meines Studiums setzte ich mein Training bei Holstein Kiel fort und wurde mit der Mehrkampfmannschaft schleswig-holsteinischer Landesmeister im Fünfkampf.

In dem Jahr, in dem ich mich immatrikuliert hatte, gab es eine heftige öffentliche Debatte unter den Universitäten und mit den Landesregierungen, ob man nicht versuchsweise auch Abiturienten zum Medizinstudium zulassen sollte, die nicht den erforderlichen Notendurchschnitt – den sogenannten Numerus clausus – erreicht hatten. In Kiel war einer der engagiertesten Verfechter für eine solche Zulassung Professor Alkmar von Kügelgen. Nach seiner Meinung sollten nicht allein die Noten maßgeblich sein, sondern eine charakterliche Eignung, eine gute Allgemeinbildung, kreative Freizeitgestaltung und ein musisches Interesse. Darüber hinaus sollte es eine Aufnahmeprüfung und ein Kolloquium geben. Seinem Einfluss ist es zu verdanken, dass man Studenten der Naturwissenschaft nachträglich zum Medizinstudium zuließ, wenn sie die Aufnahmeprüfung bestanden. Das war eine einmalige Chance für mich und für etwa 350 andere Studenten, die sich bewarben. Aber nur 15 sollten genommen werden. Für die endgültige Auswahl waren auch der Lebenslauf, eine Intelligenzprüfung und Anatomiekenntnisse entscheidend.

Für das Anatomiestudium hatte ich von unserem Hausarzt Bücher geschenkt bekommen. Darin habe ich sozusagen Tag und Nacht gelernt, bis ich richtig fit war – die alten Bände mit den vergilbten Seiten, den wunderbaren Illustrationen des Körperbaus, der Organe, Knochen, Sehnen, Muskeln und so weiter stehen heute noch in meiner Praxisbibliothek. Ich konnte jeden Knochen zeichnen und alle Vorsprünge, Öffnungen und Leisten genau beschreiben.

Vor der Aufnahmeprüfung schien es, als würde sich mein bisheriger Werdegang als großes Glück erweisen, da Professor von Kügelgen – so wurde in einem Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1966 zitiert – eine präzise Vorstellung von einem angehenden Mediziner hatte, der ich mit einer Ausnahme ziemlich genau entsprach: »Wer ein tüchtiger Arzt werden will, sollte als Junge ein Segelflugzeug gebastelt haben, in einer Kammermusikbesetzung Cello bis zum frühen Haydn gespielt haben und möglichst nicht sitzengeblieben sein.«

Als ich zu Professor von Kügelgen gerufen wurde, erzählte ich ihm von meinen sportlichen Interessen und meinen Wettkampferfolgen, und er fragte mich: »Was machen Sie sonst noch?« Also schilderte ich meine Musikbegeisterung und zählte die Instrumente auf, die ich spielte. Daraufhin fragte er: »Was machen Sie sonst noch?« Also berichtete ich ihm von meiner Leidenschaft für Physik und Elektrotechnik. Er stellte mir Fragen über mein bisheriges Leben und meine Freizeitgestaltung. Dabei schaute er, während ich antwortete, andauernd aus dem Fenster, sodass ich den Eindruck gewinnen musste, er interessiere sich gar nicht wirklich für mich. Aber er hat mich verstanden. Irgendwann muss er sich wohl gesagt haben: Dem gebe ich eine Chance – und so war es. Ein paar Tage später erhielt ich den Bescheid, dass ich ausgewählt worden war. Der Jubel in mir war unvorstellbar groß – ebenso meine Erleichterung, es geschafft zu haben.

 

Das Schicksal hat es immer gut mit mir gemeint. Die Weichen waren gestellt, wie so oft, und so begann ich 1965 mit meinem Medizinstudium in Kiel. Mein Vater hat das noch erlebt, und obwohl er ja von meinem Berufswunsch alles andere als begeistert gewesen war, werden ihm meine Zielstrebigkeit und meine Zähigkeit gefallen haben.

Von der kleinen Gruppe, die damals das Studium als Quereinsteiger beginnen konnte, haben später alle das Physikum – die erste ärztliche Prüfung – mit einer Eins bestanden. Wir haben aber nicht immer nur gelernt, sondern den Kieler Sommer in vollen Zügen genossen: haben am Strand in Schlafsäcken und in Strandkörben übernachtet, Musik gemacht, sind geschwommen und gesegelt. Einer hat bei den Vorlesungen immer für die anderen mitgeschrieben, und wir hatten, wenn es wirklich darauf ankam, das, was ich eine hohe Lernkapazität nennen würde. Wir haben uns gegenseitig abgefragt und in den Prüfungen so geglänzt, dass die Professoren ihre Freude an uns hatten. Vor allem für Professor von Kügelgen waren wir der leibhaftige Beweis, dass aus einem mittelmäßigen Abiturienten ein erfolgreicher Medizinstudent werden konnte. Nach dem Physikum bin ich mit mehreren Kommilitonen für ein Semester nach Innsbruck gewechselt. Durch die Nähe zu den Alpen waren wir allerdings öfter beim Skilaufen und in der Natur als im Hörsaal und es wurde ein Bummelsemester.

Die Klinischen Semester habe ich dennoch alle gut bestanden. Mit meiner Doktorarbeit begann ein neuer Abschnitt. Ich beschäftigte mich mit Herzvolumenmessungen an Tieren, was extrem aufwendig und zeitintensiv war. Die Ergebnisse sollten herzkranken Kindern zugutekommen. Für die nötigen Experimente musste ich auf dem Wochenmarkt Kaninchen und Schweine und später aus dem Tierheim Hunde beschaffen, um an ihnen Messungen vorzunehmen. Diese führte ich abends bis nachts in einem Röntgenraum, der dann nicht beansprucht wurde, durch. Mittels einer Glasfaseroptik, die ich über der Aorta angebracht hatte, wurde eine Röntgendichtemessung vorgenommen und densitometrisch eine Verdünnungskurve des Kontrastmittels erstellt, das über einen Katheter in die linke Herzkammer injiziert wurde. Über diese sogenannte Washout-Kurve konnte das Volumen der linken Herzkammer in etwa bestimmt werden. Eine Zusammenfassung meiner Forschungsarbeit wurde damals zur Freude meines Doktorvaters Professor Paul Heintzen in einer amerikanischen Fachzeitschrift, dem American Journal of Cardiology, veröffentlicht und 1971 habe ich die Promotion erlangt. Die Tiere kamen übrigens nicht zu Schaden.

Auf nach Berlin – ein Traum ging in Erfüllung

Nach dem Studium stellte sich mir die Frage, wohin jetzt. Ich war frei – und alle Junggesellen strebten nach Berlin. Das Flower-Power-Gefühl der sechziger Jahre war von Kalifornien nach Berlin herübergeschwappt. In Berlin war immer etwas los. Das reizte mich. Ich war lebenshungrig und ehrgeizig – das prägte meine Berliner Jahre. Zuerst wohnte ich im Wedding, dann in Kreuzberg in einer Mietwohnung, die seit der Vorkriegszeit nicht mehr renoviert worden war, und bewusst nicht im Studentenwohnheim. Bequem war das nicht, denn zur Wohnung gab es nur eine Toilette auf halber Treppe und kein Badezimmer. Um sich zu waschen, musste man sich kaltes Wasser in eine Schüssel gießen oder – zum Beispiel nach dem Joggen – in einer Zinkwanne kaltes mit heißem Wasser vermischen und es als Duschersatz über sich gießen. Damals fand ich das herrlich.

Mit dieser Lust am Leben war ich also 1971 nach Berlin gezogen und wurde Medizinalassistent bei dem legendären Herzchirurgen Emil Bücherl, der 1969, zwei Jahre nach Christiaan Barnard, eine der ersten Herztransplantationen durchgeführt hatte. Ein echter Pionier also. Nach dem Dienst habe ich mich spätnachmittags manchmal schlafen gelegt, damit ich abends wieder fit war. Mit Freunden traf ich mich dann immer um 23 Uhr im Café Bleibtreu in Charlottenburg und kam oft erst spätnachts wieder nach Hause. So einen Lebenswandel kann man nur in jungen Jahren durchhalten!

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Mein Vorgänger als Mannschaftsarzt war Professor Manfred Weigert. Er war als orthopädischer Chirurg und Chefarzt einer orthopädischen Klinik dermaßen ausgelastet, dass die Spieler oft lange auf ihn warten mussten, dafür verfügte er über enorme Erfahrung. Als ich bei Hertha BSC anfing, hatte ich keine vergleichbaren Erfahrungen, denn als Mannschaftsarzt so schnell auf Akutfälle reagieren zu müssen ist etwas ganz anderes, als in der Klinik einen Patienten nach dem anderen zu behandeln.

Ich überlegte mir, wie ich es den Spielern leichter machen könnte, und begann damit, sie bereits während des Trainings am Olympiastadion zu beobachten und zu untersuchen, sodass sie nicht in die Klinik kommen mussten. Ich fing also an, die Spieler vor Ort anzuschauen und, wenn notwendig, auch dort zu behandeln. Durch meine Ausbildung in der Massage hatte ich gelernt, wie sich ein gesunder Muskel anfühlt und wie sich ein verletzter Muskel davon unterscheidet. Ich konnte meinen Händen vertrauen und dem, was sie mir als Signal meldeten. Zur Seite stand mir damals der sehr erfahrene und geschätzte Sportphysiotherapeut Peter Bentin. Trotz des gelungenen Starts bei der Hertha wusste ich, dass ich üben, üben, üben musste, wenn ich es schaffen und akzeptiert werden wollte. Die Möglichkeit einer Ultraschall- oder Kernspinuntersuchung gab es damals noch nicht. Heute sage ich: Gott sei Dank.

Nach dem Training fuhr ich jedes Mal durch halb Berlin zurück in die Klinik, schließlich hatte ich am Virchow-Krankenhaus immer noch meine Hauptaufgabe zu erfüllen. So schnell wie möglich wollte ich meine Facharztausbildung abschließen und wusste, dass ich dafür erstklassige Leistung erbringen musste.

Die Mannschaft von Hertha BSC hat mich und meine Behandlungsmethoden gut angenommen. Vielleicht wird auch der eine oder andere Nationalspieler, es gab damals bei Hertha vier oder fünf, im Gespräch mit Bayern-Spielern positiv über mich gesprochen haben, sodass man schließlich in München auf mich aufmerksam wurde.

Aber ich erinnere mich auch an einen Fall, auf den ich nicht stolz bin – wo ich versagt habe. Der exzellente Mittelfeldspieler Lorenz Horr hatte Leistenprobleme. Mir aber fehlte damals noch die nötige Kenntnis auf diesem Gebiet, denn Leistenbeschwerden sind bei Fußballspielern – ohne die einschlägige Erfahrung – schwierig zu diagnostizieren und zu behandeln. Dem Trainer hatte ich empfohlen, ihn spielen zu lassen, obwohl Lorenz Horr aufgrund seiner Schmerzen nicht spielen wollte und eigentlich nicht konnte. Bereits nach zwanzig Minuten musste er ausgewechselt werden. Wegen dieser Entscheidung habe ich heute noch ein schlechtes Gewissen. Aufgrund dieser Fehldiagnose habe ich mich, als ich schon in München lebte, im Präpariersaal des Anatomischen Institutes der Ludwig-Maximilians-Universität intensiver denn je der Leistengegend gewidmet. Ich wollte das Wissen repetieren und noch eingängiger studieren: Ich wollte die Leiste im wahrsten Sinne des Wortes unbedingt »begreifen«.

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18 & 19 Unsere Hochzeit 1974 auf Schloss Auel in der Nähe von Köln: Familienfoto mit Brautpaar, vermutlich fotografierte mein Bruder Dieter.

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20 1976 unternahmen wir unsere erste Italienreise mit dem Käfer Cabrio. Im Haus in der Toskana war es so kalt, dass wir uns mit offenem Verdeck im Auto in der Sonne aufwärmten und, mit einer Mercedes-Schreibmaschine auf dem Schoß, an der Examensarbeit meiner Frau arbeiteten.

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21 Station im Kornfeld auf der Reise nach Irland, Sommer 1973