Misha Glenny

Die grenzenlose Welt des
organisierten Verbrechens

Aus dem Englischen von
Sebastian Vogel

Tropen Sachbuch

Impressum

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Tropen

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »McMafia.
Crime Without Frontiers« im Verlag The Bodley Head, London

© 2008 by Misha Glenny

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero Media GmbH, München

unter Verwendung von Fotos von © BBCW

Autorenportrait aus S. 1: © Francesco Zizola/NOOR

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50379-1

E-Book: ISBN 978-3-608-11050-0

 

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort zur Neuauflage von McMafia

Einleitung

Erster Teil
Der Zusammenbruch des Kommunismus

Kapitel 1
Tod eines Amerikaners

Kapitel 2
Blutige Habsucht

Kapitel 3
Mafia – Die Geburtshelferin des Kapitalismus

Kapitel 4
Die Verbreitung des Phänomens

Zweiter Teil
Gold, Geld, Diamanten und Banken

Kapitel 5
»Alija« – Die Immigrationswelle nach Israel

Kapitel 6
Xanadu I – Die Bombay-Dubai-Connection

Kapitel 7
Xanadu II – Die Kapitaldrehscheibe und ihre Schattenseite

Kapitel 8
Nigeria – Die Inszenierung des Verbrechens

Kapitel 9
Südafrika – Schwarz und Weiß

Dritter Teil
Drogen und Cyberkriminalität

Kapitel 10
Freunde

Kapitel 11
Der Marsch der Angst

Kapitel 12
Code Orange

Vierter Teil
Die Zukunft des organisierten Verbrechens

Kapitel 13
Die »Überunterwelt«

Kapitel 14
Die Zukunft des organisierten Verbrechens

Epilog

Zehn Jahre später

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungsverzeichnis

Quellen

Danksagungen









Für Kirsty

Vorwort zur Neuauflage von McMafia

McMafia ist der Titel eines Buches und einer Fernsehserie. Das Buch ist ein Sachbuch, die Fernsehserie ist Fiktion; dennoch hängen beide eng zusammen. Die Hauptfiguren der Fernsehserie sind zwar ausnahmslos erfunden und das Gleiche gilt auch für viele Handlungsstränge, aber es handelt sich dennoch um vollkommen authentische Abbilder der Gestalten, die ich während der Recherchen zur Ursprungsversion von McMafia und in den nachfolgenden Jahren, als ich mich mit anderen Aspekten des globalen Verbrechens beschäftigte, kennengelernt hatte.

Wenn Sachbuchautoren ein Buchprojekt in Angriff nehmen, rechnen sie meist nicht damit, dass sich damit die Möglichkeit einer Verfilmung für Kino oder Fernsehen verbindet. Eine Wirklichkeit, über die gut und wahrheitsgetreu berichtet wird, hat meist zu viele eigenartige Wendungen und verschlungene Sackgassen, als dass man sie – insbesondere in Form einer fiktiven Handlung – in die Vorgaben der anderen Medien quetschen könnte. Nach meinem Eindruck hegen Sachbuchautoren sogar gewisse Vorbehalte gegen Romanschriftsteller. Während sie sich auch dann an die Fakten halten müssen, wenn sich daraus ein sehr seltsamer Handlungsverlauf ergibt, kann der Romancier sich seinen Stoff einfach ausdenken.

Als ich das Buch McMafia schrieb, glaubte ich nicht, dass das fertige Produkt auf Interesse als Quellenmaterial für einen Dokumentarfilm stoßen würde. Zwar bemühten sich Produktionsfirmen mehrmals darum, die Idee mit dieser oder jener Begründung an Fernsehanstalten zu verkaufen, aber die Projekte wurden nie konkret. Deshalb war ich trotz dieses früheren Interesses überrascht, dass eine große britische Produktionsfirma kurz nach Erscheinen des Buches eine Option erwarb. »Option« bedeutet: Man erhält eine bescheidene Geldsumme für die Zusage, die Film- oder Fernsehrechte nicht an ein anderes Unternehmen zu verkaufen. Anschließend prüfen die Inhaber der Option, ob es möglich ist, einen geeigneten Drehbuchautor, einen guten Regisseur und – am wichtigsten – ausreichende Finanzmittel aufzutreiben, um aus dem Projekt tatsächlich einen Film oder eine Fernsehsendung zu machen.

Freunde, Kollegen und Agenten hatten mich darauf vorbereitet, dass es vom Basislager der Option bis zum Everest-Gipfel der tatsächlichen Produktion und Ausstrahlung ein langer, mühsamer Weg ist. Das Ganze ähnelt dem Schlangen- und Leiterspiel, wobei die Schlangen aber gegenüber den Leitern im Verhältnis 15 zu 1 in der Überzahl sind.

Und ja, viele Klischeevorstellungen über diese neue Welt, die ich nun kennenlernen sollte, stimmen: Es gibt viel leeres Gerede in diesem Land. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft das Buch als »unglaublich«, »großartig« oder »wegweisend« bezeichnet wurde und wie oft alle mich liebten. Und ja, einmal wurde ich tatsächlich nach Los Angeles eingeflogen, aß in einem spektakulären Restaurant zu Abend und erhielt die feierliche Mitteilung, McMafia werde in den Vereinigten Staaten zu einer großen Fernsehsendung gemacht. Und das war dann das letzte Mal, dass ich etwas davon hörte. Wie viele andere, die flüchtig Bekanntschaft mit dieser Branche machen, so stehe auch ich ratlos vor der Frage nach ihrer Wirtschaftlichkeit.

Da ich davon ausgegangen war, dass die Serie nie verwirklicht würde, war ich auch nie enttäuscht, wenn das Projekt immer wieder an dieser oder jener Hürde scheiterte. Anfang 2013 hatte ich wieder einmal Kontakt mit einem amerikanischen Fernsehkanal, der dieses Mal aber nicht nur die Option, sondern alle Rechte an dem Buch vollständig und für alle Zeiten kaufen wollte. Es war kein großartiges Geschäft, aber da ich nie daran geglaubt hatte, dass das Buch als Spielfilm auf die Fernsehschirme kommen würde, stand ich kurz davor, zu unterschreiben.

Als es so weit war, fragten zwei Briten, der Drehbuchautor Hossein Amini und der Regisseur James Watkins, bei mir an, ob ich mit ihnen an einer Fernsehserie auf der Grundlage des Buches arbeiten wolle. Beide hatten beträchtliche Erfahrungen mit Spielfilmen und waren in den Studios heiß begehrt. Hoss war mit seiner Adaption des Romans Die Flügel der Taube von Henry James für den Oscar nominiert und hatte unter anderem auch den ungewöhnlichen Hollywoodfilm Drive geschrieben. James war Autor und Regisseur von Eden Lake und hatte bei Die Frau in Schwarz Regie geführt. Das war ein hochkarätiger Hintergrund. Wie viele Kreative, die aus dem Filmgeschäft kommen, so wollten auch diese beiden ihr Tätigkeitsfeld auf das Fernsehen erweitern.

Fernsehen ist heute das neue Hollywood. Derzeit erleben wir einen »Kampf der Plattformen«, wie er manchmal genannt wird: HBO, Showtime, Netflix, Amazon, die BBC, Canal+ und verschiedene skandinavische Fernsehsender – um nur einige zu nennen – streiten derzeit um die Frage, welches Modell die meisten Zuschauer anlocken und die größte Zustimmung finden wird. Deshalb stecken die Fernsehanstalten heute derart große Geldsummen in hochkarätige Fernsehfilme, dass der Zuschauer manchmal nur schwer entscheiden kann, was er sich als nächstes ansehen will.

Zwischen Fernseh- und Filmproduktionen besteht aber auch ein wichtiger Unterschied. In Hollywood ist der Regisseur der König; beim Fernsehen ist der Drehbuchautor das wichtigste Mitglied im Team. Wenn Hoss und James eine größere Fernsehserie drehen wollten, würden sie die entscheidenden Mitwirkenden sein.

Schon nach einem fünfminütigen Gespräch mit den beiden war ich überzeugt: Wenn wir eine Fernsehanstalt dazu bringen konnten, sich des Themas von McMafia anzunehmen, waren sie diejenigen, mit denen ich arbeiten wollte. Mit Hilfe meines Agenten Nick Marston, der die Idee von McMafia als Spielfilmserie von Anfang an unterstützt hatte, und unter Beteiligung von Dixie Linder von der Londoner Filmfirma Cuba Productions dauerte es nicht lange, bis man bei der BBC die von Hoss und James entwickelte Vision aufgriff. An den beiden beeindruckte mich vor allem, dass sie die Welt, die ich in dem Buch abbilden wollte, begriffen und richtig einschätzten. Es war sofort klar, dass sie die Authentizität jeder Fernsehsendung, an der sie mitwirkten, für entscheidend wichtig hielten. Deshalb wollten sie, dass ich nicht nur auf dem Papier als Berater beteiligt war, sondern sie auch wirklich beriet.

Seit die BBC den Auftrag für die Serie vergeben hat, bin ich an der Verwirklichung der außergewöhnlichen Vision von Hoss und James beteiligt. Ich war im Autorenzimmer dabei, als zu Hoss und James mit Laurence Coriat, David Farr und Peter Harness drei weitere talentierte Drehbuchautoren hinzukamen, die ausführlich über die Handlung und die emotionale Entwicklung der Hauptfiguren diskutierten. Einer solchen Meisterklasse in der Kunst des Drehbuchschreibens zusehen zu dürfen, war ein großes Privileg.

Zu meiner Freude kann ich sagen, dass einige Geschichten aus dem ursprünglichen Buch sich in unterschiedlicher Form in der Fernsehserie wiederfinden. Aber in diesem Buch lesen Sie nicht die ergreifende, fiktive Geschichte von Hoss und James. Das Buch McMafia ist die wahre Story. Mit wahren Menschen und wahren Lebensgeschichten.

Einleitung

Es war der Abend des 30. April 1994. In Woking, einem Ort in der Grafschaft Surrey, hatte der Frühling Einzug gehalten. Das Barnesbury Estate war nicht ganz ein Mittelschicht-Wohnviertel, aber an Ehrgeiz mangelte es in diesem Teil Südenglands nicht. Als auf dem Willow Way, einer ruhigen Straße mit Reihenhäusern, die Dunkelheit hereinbrach, standen die Autos schon in den Garagen, und die Familien hatten sich zum Abendessen oder zum samstagabendlichen Fernsehvergnügen niedergelassen.

Gegen 21 Uhr stieg vor dem Haus Nummer 31 ein Mann aus einem roten Toyota. Mit einer blau-weißen Schachtel in der Hand schlenderte er zur Haustür und klopfte. Drinnen genoss die 33-jährige Geophysikerin Karen Reed, die ihren Lebensunterhalt mit der Analyse seismischer Daten verdiente, gerade ein Glas Weißwein und eine Unterhaltung mit einer Freundin. Durch das Fenster hörten sie dumpf die Stimme des Mannes: »Haben Sie eine Pizza bestellt?« Als Karen die Tür öffnete, zog der Pizzabote eine Pistole Kaliber .38 und schoss ihr mit ruhiger Zielsicherheit mehrere Male in den Kopf. Dann lief er zurück zum Auto und fuhr davon.

Karen Reed war an diesem Abend nicht das beabsichtigte Opfer. Aber der Irrtum des Mörders hatte einen Grund. Sein eigentliches Ziel war Karens Schwester Alison Ponting, die als Produzentin für den BBC World Service arbeitete. Sie wohnte zu jener Zeit mit Karen zusammen, war aber an dem fraglichen Abend zufällig nicht zu Hause. Der Auftrag zu dem Mord kam wahrscheinlich von Djokar Dudajew, dem Präsidenten der Republik Tschetschenien.

Alison hatte 1986 den stämmigen armenischen Frauenheld Gacic Ter-Oganessian geheiratet, den sie ein paar Jahre zuvor während ihres Russischstudiums an der Universität kennengelernt hatte. Die Eheschließung bot den Anlass zu einer ganzen Kette unwahrscheinlicher Ereignisse, und die führten acht Jahre später dazu, dass der Wirbelsturm aus Tod, Imperialismus, Bürgerkrieg, Öl, Kriminalität und nationalistischen Kämpfen, der als Kaukasuskonflikt bekannt ist, über die schläfrige Kleinstadt Woking hereinbrach.

Eineinhalb Jahre vor dem Mord an Karen waren die beiden Brüder Ruslan und Nasarbeg Utsijew nach London gekommen. Sie waren von Präsident Dudajew beauftragt, für den neuen tschetschenischen Staat den Druck von Pässen und Geldscheinen in die Wege zu leiten. Ruslan war der engste Berater des launischen Dudajew und ein Hardliner in dessen von Flügelkämpfen geplagter Regierung. Sein Bruder galt als Experte für Kampfsport und allgemein als Mietgorilla. Neben ihrem offiziellen Auftrag, die Papiere für den angestrebten tschetschenischen Staat drucken zu lassen, hatten sie noch mehrere andere Dinge vor: Sie sollten sich bei einem amerikanischen Geschäftsmann einen Kredit von 250 Millionen Dollar für die Modernisierung der riesigen tschetschenischen Ölraffinerien sichern, die Verhandlungen mit dem deutschen Energiekonzern Stinnes AG über den raschen Verkauf tschetschenischen Öls zu Weltmarktpreisen zum Abschluss bringen, und – wie die Ermittler später erfuhren – 2000 Flugabwehrraketen des Typs »Stinger« kaufen. Für derart heikle Verhandlungen brauchten die Vertreter der tschetschenischen Regierung einen geschickten Dolmetscher und Organisator. Ruslan erinnerte sich daran, dass die BBC-Produzentin Alison Ponting ihn früher einmal interviewt hatte, und bat sie um Hilfe. Sie schlug ihren Ehemann Ter-Oganessian vor und hoffte dabei vielleicht, dass er eine einträgliche Stellung fände.

Seit Alisons Mann in London wohnte, hatte er sich zu einem äußerst geschickten Schlawiner entwickelt. Ter-Oganessian war überall und nirgends: Er schmuggelte, gründete Scheinfirmen zur Geldwäsche und war sich auch für einfache Arbeiten nicht zu schade, als seine mutmaßlich kriminellen Geschäfte im Sande verliefen. Anfangs verstanden sich die drei kaukasischen Machos prächtig: Sie feierten wüste Partys, zu denen sie immer neue Callgirls einluden. Wie nicht anders zu erwarten, litt Alison zunehmend unter dem Verhalten ihres Mannes und der beiden Tschetschenen, und kaum anders erging es auch den wohlhabenden Bewohnern des Apartmentblocks »Bickenhall Mansions«, wo die Utsiejew-Brüder eine Bleibe gefunden hatten – das Haus lag nur einen Steinwurf entfernt von Sherlock Holmes’ angeblicher Wohnung in der Baker Street 221b.

Irgendwann verschlechterte sich das Verhältnis zwischen dem Armenier und den Tschetschenen. Die englischen Strafverfolgungsbehörden gaben später an, Ter-Oganessian habe herausgefunden, dass die Stinger-Raketen in Aserbaidschan stationiert und im Krieg gegen sein Heimatland Armenien verwendet werden sollten. Es gab aber noch eine andere Theorie: Demnach waren die Stinger-Geschosse für Tschetschenien bestimmt, und die Utsijew-Brüder hatten sich mit Ter-Oganessian wegen des Geldes zerstritten. Eines aber ist sicher: Ter-Oganessian machte führende Angehörige des armenischen Geheimdienstes auf die Aktivitäten der Utsijew-Brüder aufmerksam, und aus Los Angeles, dem Zentrum der armenischen Diaspora in den Vereinigten Staaten, wurden mehrere Killer nach London in Marsch gesetzt.

Die Utsijew-Brüder wurden grausam ermordet. (Ruslans Leiche wurde zerlegt, und man entdeckte sie erst, als sie auf dem Weg in die Vorstadt Harrow im Norden Londons aus einer Packkiste fiel.) Ter-Oganessian sitzt wegen der Morde lebenslänglich in Haft, und ein Mitangeklagter, ein Offizier des armenischen Geheimdienstes, erhängte sich kurz vor dem Prozess im Gefängnis von Belmarsh.

Als ich damals die Berichte über den Fall las, war ich entsetzt, nicht zuletzt weil ich herausgefunden hatte, dass David Ponting, der Vater von Alison und Karen, Dozent für Schauspiel an der Universität Bristol war, wo ich die ersten Semester studiert hatte. Seine Einmannshow über Dylan Thomas hatte bei mir während meiner Studienzeit einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ponting hatte mich in die Grundlagen der Radioproduktion eingeführt, und darauf konnte ich später als Mitteleuropakorrespondent der BBC zurückgreifen.

Nach dem Mord an Karen nahm Alison das Angebot an, in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden. Seiner Kinder beraubt, zog Ponting in die Vereinigten Staaten und arbeitete dort eine Zeit lang als Schauspieler. Später tauchte auch er unter.

Die Pontings waren sanftmütig und bescheiden. Eine Familie, die weniger als sie mit politischen Mafiamördern aus der früheren Sowjetunion zu tun hat, kann man sich kaum vorstellen. Aber ein Beamter, der mit dem Fall der Utsijew-Brüder befasst war, sagte damals: »Wir hatten es plötzlich mit Verbrechen und Politik aus einem Teil der Welt zu tun, von dem, um ehrlich zu sein, keiner von uns bei der Polizei, ob in der Hauptstadt oder in Surrey, jemals etwas gehört hatte. Wir wussten nichts über die Kriege, über die Verbrechen und die Politik – ehrlich gesagt, wir waren völlig ratlos.«

Auf der ganzen Welt bildete sich eine neue Staatsform heraus: der versagende Staat. Und mit den Auswirkungen wurde Großbritannien zum ersten Mal konfrontiert.

IN DER ERSTEN HÄLFTE der 1980er-Jahre löste sich die Nachkriegsordnung auf. Der Zerfall verlief nicht nach einer erkennbaren Gesetzmäßigkeit, sondern in Form einer Reihe scheinbar völlig getrennter Ereignisse: Die japanische Autoindustrie erlebte einen spektakulären Aufschwung; das kommunistische Ungarn wandte sich klammheimlich an den Internationalen Währungsfonds (IWF) und sondierte die Möglichkeit einer Mitgliedschaft; die indische Wirtschaft stagnierte; Südafrika-Präsident Frederik Willem de Klerk nahm erste diskrete Kontakte mit dem inhaftierten Nelson Mandela auf; in China begann Deng Xiaoping mit Reformen; und Margaret Thatcher suchte in Großbritannien die Konfrontation mit den Gewerkschaften.

Für sich betrachtet, wirken diese und andere Ereignisse wie ein Spiegelbild des alltäglichen politischen Auf und Ab oder im besten Fall wie kleine Anpassungen der Weltordnung. In Wirklichkeit jedoch lösten besonders außerhalb der großen Machtzentren in Europa und den Vereinigten Staaten mächtige unterschwellige Strömungen eine Reihe wirtschaftlicher Krisen und Umwälzungen aus, die weitreichende Folgen für die Entstehung jenes Phänomens haben sollten, das heute als Globalisierung bezeichnet wird.

Eine Entwicklung jedoch hatte ihre festen Wurzeln in den Vereinigten Staaten und bei ihrem wichtigsten europäischen Verbündeten: Großbritannien. Die Welt unternahm erste Schritte in Richtung Liberalisierung der internationalen Finanz- und Warenmärkte. Amerikanische und europäische Konzerne und Banken, die zuvor ausländische Investitionen und den Devisenumtausch streng unter Kontrolle gehalten hatten, priesen nun die Öffnung der Märkte.

Dann folgte 1989 der Zusammenbruch des Kommunismus, zuerst in einigen Staaten Osteuropas, dann in der mächtigen Sowjetunion selbst. Ohne neue Ideen, knapp bei Kasse und im Rennen um technische Überlegenheit hoffnungslos im Hintertreffen, brach der Kommunismus binnen weniger Tage zusammen. Es war ein gewaltiges Ereignis, und in Verbindung mit den Globalisierungsprozessen löste es ein exponentielles Wachstum der Schattenwirtschaft aus. Diese riesigen wirtschaftlichen und politischen Veränderungen strahlten auf die ganze Welt aus.

Insgesamt erlebten Handel, Investitionen und Wohlstand einen weltweiten Aufschwung. Der Wohlstand war allerdings sehr ungleich verteilt. Unzählige Staaten fanden sich im Fegefeuer des sogenannten »Übergangs« wieder, einem Bereich mit ständig wechselnden Grenzen. In diesem Niemandsland gehörte es zum wirtschaftlichen Überleben vielfach dazu, dass man nach der Waffe griff und sich nahm, was man bekommen konnte.

Der Zusammenbruch des Kommunismus war für den Westen natürlich ein Triumph. Er bewies, dass die Demokratie der kommunistischen Diktatur in jeder Hinsicht überlegen war. Europa feierte die deutsche Wiedervereinigung und die Befreiung vieler früherer Ostblockstaaten. Das neue Russland, so schien es, war ganz zufrieden damit, die militärische Vorherrschaft in der Region aufzugeben und den früheren Erzrivalen der NATO, den Warschauer Pakt, aufzulösen. Trotz anfänglicher Widerstände gestattete Moskau den anderen Völkern der sterbenden Sowjetunion die Gründung eigener, unabhängiger Staaten und die Erfüllung ihrer nationalen Bestrebungen.

Im Rückblick was es auch der Höhepunkt meines eigenen Lebens. Als Teenager hatte ich mich in westlichen Organisationen engagiert, die in ganz Osteuropa die bedrängte Opposition unterstützten, unter anderem die Solidarność in Polen und die Charta 77 in der Tschechoslowakei. Ich hatte alles Mögliche getan – Dokumente übersetzt, aber auch zerlegte Fotokopiergeräte in Einzelteilen durch den Eisernen Vorhang zu den Dissidenten geschmuggelt. So stand ich auch nur fünf Meter hinter Václav Havel und Alexander Dubček, den großen moralischen Führungsgestalten der Tschechoslowakei, als sie im November 1989 von einem Balkon über dem Prager Wenzelsplatz zur Menge sprachen. Damals spürte ich, dass hier wirklich etwas erreicht worden war, und was die Zukunft Europas wie auch der ganzen Welt betraf, war ich vorsichtig optimistisch.

Aber die anfängliche Euphorie wurde schon früh gedämpft: Manches deutete – zugegebenermaßen in abgelegenen Regionen – darauf hin, dass die neue Welt des Friedens und der Demokratie bald mit Problemen konfrontiert werden könnte. Aus entlegenen Winkeln des Kaukasus, der Region an der Südgrenze Russlands, kamen hin und wieder Berichte über Kämpfe. In Angola und anderen Teilen Afrikas gingen Konflikte, die als Stellvertreterkriege zwischen amerikanisch und sowjetisch orientierten Armeen begonnen hatten, nicht mit dem Kalten Krieg zu Ende, sondern verschärften sich sogar noch. Dann zerfiel das frühere Jugoslawien in einem mörderischen Bürgerkrieg, und damit stand das neue, vereinigte Europa vor einer Herausforderung, der es in keiner Weise gewachsen war.

Die neuen Verhältnisse stürzten die alten internationalen Institutionen in Verwirrung. Überall musste man improvisieren, und niemand begriff so ganz die Folgen der eigenen Taten.

Eine Gruppierung jedoch erkannte in der verwirrenden Mischung aus Umwälzungen, Hoffnung und Unsicherheit eine echte Chance. Diese Männer (und gelegentlich auch Frauen) begriffen instinktiv, dass der steigende Lebensstandard im Westen, die wachsenden Handels- und Migrationsströme sowie die verminderte Fähigkeit vieler Regierungen, ihre Staaten zu überwachen, eine Goldgrube bildeten. Sie waren organisierte oder unorganisierte Verbrecher, aber auch gute Kapitalisten und Unternehmer, und sie hatten die Absicht, sich nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage zu richten. Deshalb waren ihnen – genau wie den multinationalen Konzernen – die großen Volkswirtschaften am liebsten: Sie suchten sich ihre Partner und Märkte auf allen Kontinenten und waren in jeder Hinsicht ebenso kosmopolitisch wie Shell, Nike oder McDonald’s.

Zuerst machten sie sich in Russland und Osteuropa bemerkbar, aber sehr schnell erweiterten sie ihren Einfluss auch auf weit voneinander entfernte Länder wie Indien, Kolumbien und Japan. Mir fielen sie Anfang der 1990er-Jahre auf, während ich als Mitteleuropakorrespondent der BBC über den Krieg im früheren Jugoslawien berichtete. Die Beute, die paramilitärische Einheiten nach der Zerstörung bosnischer und kroatischer Städte und Dörfer nach Hause brachten, diente als Kapital zum Aufbau großer Verbrechensimperien. Die Chefs dieser Syndikate wurden schnell sehr reich. Wenig später richteten sie Schmuggelnetzwerke ein, die illegale Waren und Dienstleistungen aus der ganzen Welt ins Konsumparadies der Europäischen Union einschleusten.

Als Balkan-Berichterstatter wurde ich zu vielen Konferenzen eingeladen, auf denen erörtert wurde, welche politischen Fragen hinter den verheerenden Kriegen in der Region standen. Es dauerte nicht lange, dann erhielt ich auch Einladungen zu Versammlungen, in denen es um Sicherheitsfragen ging. Politiker, Polizisten und nichtstaatliche Organisationen wollten erfahren, was auf dem Balkan und darüber hinaus hinter der gewaltigen Macht des organisierten Verbrechens steckte. Aber die meisten Kenntnisse über die neue globale Verbrechenswelle stammten im besten Fall aus Einzelfallberichten. Noch nie hatte jemand alle Puzzlesteine zusammengefügt.

Anfangs sah ich mir die Netzwerke und Motive der kriminellen Gruppen auf dem Balkan an, aber dabei wurde mir eines sehr schnell klar: Wenn ich die dortigen Verbrechen verstehen wollte, musste ich meine Recherchen auch auf andere Teile der Erde ausweiten: auf Russland, Südamerika, Afrika, Indien und China, wo die kriminellen Waren produziert werden, sowie auf die Regionen der Konsumenten – die Europäische Union, Nordamerika, Japan und den Nahen Osten.

Neben vielen anderen Nachwirkungen führte der Zusammenbruch der Sowjetunion auch dazu, dass ein breiter Gürtel der Instabilität entstand. Er ging vom Balkan aus und erstreckte sich bis in den Kaukasus, zu den sogenannten »stans« des sowjetischen Mittelasien und zum Westrand Chinas sowie zur Nordwestgrenze Pakistans.

Es war die »neue Seidenstraße«, eine mehrspurige Autobahn des Verbrechens, die diesen Gürtel mit anderen Problemregionen wie Afghanistan verband und den schnellen, einfachen Transport von Menschen, Drogen, Bargeld, bedrohten Tier- und Pflanzenarten und kostbarem Tropenholz aus Asien nach Europa und weiter in die Vereinigten Staaten ermöglichte.

Die Anhäufung unsicherer neuer Staaten am Südrand der früheren Sowjetunion entstand, als sich die Globalisierung immer weiter beschleunigte. Und als entlang der »neuen Seidenstraße« das Gerangel um die Macht begann, wuchs auch der Bedarf an Geld, mit dem man politischen Einfluss kaufen konnte. Wer in den zerfallenden Staaten größeren Ehrgeiz hatte, brauchte den anarchischen Landkorridor für drei zusammenhängende Transaktionen: erstens zum Transfer von Geld in die Sicherheit westlicher Banken und Immobilien, zweitens zum Verkauf illegaler Waren und Dienstleistungen in die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und im Osten bis nach Japan, und drittens zum Kauf und Verkauf von Waffen innerhalb der ehemaligen UDSSR sowie zu ihrem Export in die Krisengebiete der Welt.

»In den Jahren 1993/94 begann ich mit meiner Tätigkeit als Strafverfolger. Dabei war mir klar, dass die Globalisierung sich allmählich auf ein ganzes Spektrum verschiedener Fragen auswirkte«, erzählte mir Jon Winer in seinem feudalen Büro wenige Häuserblocks vom Weißen Haus entfernt. Unter der Clinton-Regierung hatte er eine Strategie gegen das organisierte Verbrechen ausgearbeitet und die neuen Entwicklungen früher bemerkt als die meisten anderen. »Das Musterbeispiel war El Salvador«, fuhr er fort. »Nach dem Krieg entschlossen sich die Leute, ihre Waffenlager zu nutzen und mit kriminellen Banden Geld zu verdienen. Dann haben wir plötzlich gesehen, wie die rechtsgerichteten paramilitärischen Einheiten und linke Guerillas zusammenarbeiteten! Einbrüche, Entführungen von Autos und Menschen, Autodiebstahl …«

Das Phänomen, auf das Winer gestoßen war, behindert noch heute immer wieder Friedensinitiativen, mit denen der Krieg im Umfeld der zerfallenden Staaten beendet werden soll. Wenn es Diplomaten gelingt, die Kämpfe zu beenden, stehen sie vor einer desolaten regionalen Wirtschaft und vor einer Gesellschaft voller testosterongetriebener junger Männer, die sich an ihre Allmacht gewöhnt haben und nun plötzlich arbeitslos sind. Wer dauerhafte Stabilität hersteilen will, muss ihnen eine nützliche Tätigkeit verschaffen. Andernfalls ist es für solche Menschen eine unwiderstehliche Versuchung, sich zu organisierten kriminellen Gruppen zusammenzutun. Rückblickend betrachtet, so Winer, war das Ausmaß dieses Problems in El Salvador und in anderen Konflikten der 1980er-Jahre noch eine Kleinigkeit im Vergleich zu dem, was sich in den 1990er-Jahren abspielte: »In El Salvador waren Entführungen oder Drogen nicht die Haupteinnahmequelle. Geht man aber auf den Balkan oder in den Kaukasus, bezieht die Gesellschaft tatsächlich ihre Haupteinnahmen aus krimineller Tätigkeit. Damit gab es nun ein ganz anderes Vorbild!«

In der globalisierten Welt mit ihren immer engeren Verknüpfungen verstärkten sich die Auswirkungen der ungeheuren Veränderungen in der internationalen Ordnung, wie sie unter anderem aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion erwuchsen. In den ersten Jahren nach diesem Ereignis hatte niemand auch nur die geringste Vorstellung davon, was der plötzliche Zustrom gewaltiger Einnahmen aus Bodenschätzen und kriminellen Geschäften für die legale Ökonomie und die Schattenwirtschaft tatsächlich bedeutete. Und diejenigen, die gewisse Veränderungen in der Funktionsweise der Welt bemerkten, waren vielfach verblüfft. Was konnte ein Polizist, der im verschlafenen Woking seine Runde machte, schon über die mörderischen Konflikte im Kaukasus wissen?

In der Wissenschaft und Forschung hat man viel Energie darauf verwendet, die Prozesse der »statthaften« Globalisierung zu verstehen, eines Prozesses, der im Wesentlichen gesetzlich geregelt ist und sich quantitativ erfassen lässt. Aber seit der Liberalisierung der internationalen Finanz- und Warenmärkte auf der einen Seite und dem Zusammenbruch des Kommunismus auf der anderen wuchs der Anteil der Schattenwirtschaft am weltweiten Bruttoinlandsprodukt beträchtlich an. Glaubt man den Zahlen des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und verschiedener Forschungsinstitute in Europa und Nordamerika, so macht sie heute zwischen 17 und 25 Prozent der weltweiten Umsätze aus.

Solche Zahlen schließen natürlich eine Vielzahl verschiedener »Sünden« ein, darunter auch die Steuerhinterziehung, die man nicht auf ein Wachstum der grenzüberschreitenden kriminellen Verschwörungen zurückführen kann. Aber angesichts der Tatsache, dass die Schattenwirtschaft in unserer Welt zu einer so wichtigen ökonomischen Kraft geworden ist, muss man sich eigentlich wundern, dass wir uns wenig Mühe geben, ihre Funktionsweise und ihre Verknüpfung mit der legalen Wirtschaft zu erforschen. Die Schattenwirtschaft ist keineswegs völlig anders als ihr im Licht stehendes Gegenstück, das selbst ebenfalls häufig weniger transparent ist, als man vielleicht vermutet oder wünscht. Sowohl im Bankwesen als auch im Warenhandel operiert der Kriminelle viel näher an der Legalität, als man glaubt.

Dieser große, nicht geregelte Bereich der Wirtschaft ist ein Sumpf, der einer Fülle von Sicherheitsproblemen Nahrung gibt. Auf demselben Nährboden gedeiht sicher auch der internationale Terrorismus. Verbrechen und die Anhäufung von Geld oder politischer Macht haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten als unvergleichlich schädlicher erwiesen. Dass gewaltige Mittel in die Bekämpfung des Terrorismus gesteckt wurden, während man andere Sicherheitsprobleme vernachlässigte, ist die Folge eines chronischen Missmanagements insbesondere durch die Regierung von Präsident George W. Bush. Erstaunlicherweise nehmen Korruption und Verbrechen im Irak in allen Meinungsumfragen seit dem Einmarsch der USA in den Sorgen der Bevölkerung den gleichen Rang ein wie der Terrorismus. Kriminalität wird nicht nur im Irak, sondern im gesamten Nahen Osten auch dann noch lange bestehen bleiben, wenn der Terrorismus zurückgegangen ist.

Vom Balkan, den ich gut kannte, begab ich mich auf eine Reise um die ganze Welt. Ich wollte den erstaunlichen Aufschwung des organisierten Verbrechens und der Schattenwirtschaft in den letzten zwanzig Jahren nachzuzeichnen versuchen. Unterwegs lernte ich faszinierende Menschen mit großer Intelligenz, Energie, Mut, Witz und Scharfsinn kennen. Viele von ihnen waren Verbrecher, manche waren Opfer, und wieder andere waren Politiker, Polizisten oder Juristen. Fast alle erzählten mir mit Vergnügen ihre seltsamen, beängstigenden und manchmal auch lustigen Geschichten. Das Thema bringt es mit sich, dass viele von ihnen sich nicht namentlich zu erkennen geben wollten und dass zahlreiche Namen verändert werden mussten. Allen, die ich interviewt und befragt habe, danke ich dafür, dass sie mir ihre weitreichenden Einsichten mitgeteilt haben.

Ich hoffe, dass ihre Geschichten zur Beantwortung der Frage beitragen, welchen Platz das organisierte Verbrechen in unserer globalisierten Welt einnimmt. Auch hoffe ich, einige nützliche Hinweise geben zu können, wie Politiker und Polizei die damit verbundenen Probleme angehen können, damit weniger Männer und Frauen wie Karen Reed der Schattenwelt zum Opfer fallen.

Erster Teil

Der Zusammenbruch des Kommunismus

Kapitel 1

Tod eines Amerikaners

Fünfzehn Minuten lang wurden die Glocken geläutet, während der Sarg in die St.-Nedelja-Kirche getragen wurde. An der Spitze des Trauerzugs ging der Patriarch Maxim, Oberhaupt der bulgarisch-orthodoxen Kirche, ihm folgten mehrere tausend Trauernde. Es war, als sei ganz Sofia an diesem stürmischen, kalten Freitag im März 2003 gekommen, um Ilja Pavlov die letzte Ehre zu erweisen, dem Mann, der für sie die 1990er-Jahre geprägt hatte.

Am Ende des Gottesdienstes schlossen dreißig Brüder aus der Freimaurerloge des Verstorbenen, der Ancient, Free and Accepted Masons of Scotland, die Türen der Kathedrale. In schwarz glänzende Anzüge gekleidet und mit weißem Blumensträußen in der Hand, vollzogen die Männer ein geheimes Ritual, damit »Bruder Pavlov schneller in den Ewigen Orient eingehen konnte«. Auf seinem Weg zum »Allmächtigen Baumeister aller Welten« wurden dann Bruder Pavlov sein Anzug, seine Handschuhe und das Wappen der Loge mitgegeben.

Ein Minister der Regierung verlas ein Schreiben des Premierministers Simeon Sakskoburggotski (Simeon II. von Sachsen-Coburg und Gotha), des ehemaligen Königs von Bulgarien, der jedoch auf den Thron verzichtet hatte, um das Land aus dem Morast der späten 1990er-Jahre zu ziehen, und in den Parlamentswahlen vom 17. Juni 2001 hatte die erst kurz zuvor gegründete »Nationale Bewegung Simeon II.« bei den Wahlen einen Erdrutschsieg errungen. »Wir werden Ilja Pavlov immer in Erinnerung behalten«, stand in dem Kondolenztelegramm des Exkönigs, »denn er hat in einer Zeit, die für das Volk sehr schwierig war, Arbeitsplätze für viele Familien geschaffen. Wir werden seiner sowohl wegen seines Geistes als Geschäftsmann als auch wegen seiner ungewöhnlichen Energie immer seiner gedenken.«

Parlamentsabgeordnete, Künstler, die Vorstandsvorsitzenden der wichtigsten Ölkonzerne und Banken, zwei frühere Miss Bulgarien sowie die gesamte Fußballmannschaft von Lewski, des erfolgreichsten Fußballvereins des Landes, nahmen an den Trauerfeierlichkeiten teil. Auch eine andere prominente Gruppe seiner Bekannten war anwesend, und die waren der bulgarischen Öffentlichkeit vor allem unter ihren Spitznamen bekannt: »Der Schädel«, »Der Schnabel«, »Dimi der Russe« und »Der Doktor«.

Auffallend war aber, dass eine wichtige Persönlichkeit fehlte: Jim Pardew, der Botschafter der Vereinigten Staaten in Bulgarien. Eine Woche zuvor, am 7. März, als Ilja Pavlov durch eine einzige Kugel getötet worden war, während er abends um Viertel vor acht vor der Zentrale seines Großkonzerns Multigroup gerade telefonierte, hatte die Botschaft unbequeme Fragen gestellt. Der Tod eines so bekannten, reichen US-Bürgers auf fremdem Boden gab für die Vereinigten Staaten und ihre Vertreter natürlich Anlass zu ernster Besorgnis.

Ins Weiße Haus hätte Pavlov es nie geschafft, denn er war nicht in Amerika geboren. Aber in der mächtigen Armee eingebürgerter Einwanderer war er ein herausragender Fußsoldat. Nur eines war seltsam an Pavlovs Ehrgeiz, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erwerben: Zwei aufeinanderfolgende US-Botschafter in Sofia hatten sich energisch dagegen ausgesprochen. Beide Diplomaten sprachen persönlich in Washington vor und versuchten zu verhindern, dass Pavlov überhaupt ins Land gelassen wurde, von der Verleihung der US-Staatsbürgerschaft ganz zu schweigen. Doch Pavlov hatte in den Vereinigten Staaten auch seine Fürsprecher. Obwohl das FBI seine früheren Aktivitäten unter die Lupe nahm und trotz der erhöhten Sicherheitsbedenken nach dem 11. September 2001, erhielt er seinen amerikanischen Pass.

In den 1970er- und 1980er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde Bulgarien, was die armseligen Lebensbedingungen anging, in ganz Europa nur von Rumänien und Albanien übertroffen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich durch die nebligen Straßen von Sofia irrte und nach einem Restaurant oder Café suchte, um die Langeweile zu vertreiben. Da ich Ausländer und Journalist war, bestand mein persönliches »Gastgeschenk« stets in mindestens zwei Aufpassern vom DS (dem bulgarischen Geheimdienst), die mich auf Schritt und Tritt verfolgten. Mit ihrer Gegenwart sorgten sie dafür, dass ich bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen ich einfache Leute zu einem Gespräch überreden konnte, im besten Fall auf ein wenig Plauderei über das Wetter hoffen durfte.

Aber allmählich begriff ich, dass unter der deprimierend eintönigen Oberfläche eine durchaus lebhafte Aktivität gärte, die den Nährboden für interessantere Lebensweisen bot – nicht für das schmerzhafte Märtyrertum der Intellektuellen und Dissidenten, die gegen die Ungerechtigkeiten des Kommunismus kämpften, sondern für Menschen, die durch Zufall und Glück einen Weg gefunden hatten, um sich Teile des Systems zu ihrem Vorteil zurechtzubiegen.

In den 1970er-Jahren, als Teenager, verfügte Ilja Pavlov über eine ganz besondere Fähigkeit, mit der er sich vom größten Teil seiner Altersgenossen abhob: Er war ein guter Ringer und in seiner Gewichtsklasse sogar bulgarischer Meister. Wäre er schlau oder ein begabter Rockgitarrist gewesen, hätte er vermutlich Schwierigkeiten bekommen, denn solche Begabungen führten für junge Leute meist zu einem Leben der Rebellion und des Ungehorsams. Die größten Idole jedoch waren in Bulgarien nicht die Fußball- oder Tennisspieler, sondern die Muskelmänner. Vor dem Zusammenbruch des Kommunismus waren die Ostblockstaaten führend im Gewichtheben, Ringen und Boxen. Vielversprechende Sportler und Sportlerinnen wurden dabei im Streben nach olympischem Ruhm mit Steroiden vollgepumpt.

Ein erfolgreicher Ringer, der in jeder Hinsicht ein Profi war, konnte mit öffentlicher Anerkennung (und nebenbei mit Vorteilen wie schnellem Sex), Geld, einer Wohnung und einem Auto rechnen (wobei die beiden letzten Dinge ansonsten nur für besonders gefeierte junge Leute erschwinglich waren). Das alles hatte Pavlov vorausgesehen, als er dazu ausgewählt wurde, das »Institut für Körperkultur« in Sofia zu besuchen, Bulgariens Kaderschmiede für zukünftige Olympiasieger.

Pavlov hatte sogar einen doppelten Vorteil, denn sein Vater leitete in Sofia ein Restaurant mit Bar, wo der forsche junge Mann arbeitete. »Wenn man damals Barkeeper oder Kellner war, hatte man eine ganz gute soziale Stellung«, erklärte Emil Kijulew, einer seiner ehemaligen Kollegen. »Er hat sich mit einer Menge kräftiger junger Kerle herumgetrieben, und die Leute haben zu ihm aufgeblickt. Auf diese Weise kam er auch mit den Sicherheitsdiensten in Kontakt.«

Für einen ungebildeten jungen Hitzkopf wie Pavlov war der bulgarische Geheimdienst nicht das Orwellsche Unterdrückungsinstrument, das die Menschen im Westen darin sahen. Manchen Bulgaren ebnete er den Weg zu Status und Einfluss. Wenn die oft vorgebrachte Behauptung zutrifft, dass Pavlov als Informant für den DS arbeitete, konnte er mit Belohnungen rechnen. Die wichtigste erhielt er in Form einer hübschen jungen Frau namens Toni Chergelanowa, die 1982 seinen Heiratsantrag annahm. Ein noch besserer Fang als das Mädchen war ihr Vater Petur Chergelanow, der für die Staatssicherheit arbeitete. Pavlov hatte in die Führungsetage der Geheimpolizei eingeheiratet.

Der bulgarische Staatssicherheitsdienst wurde von seinen sowjetischen Vorgesetzten wegen seiner Effizienz und Zuverlässigkeit besonders geschätzt. Er blieb in der Regel unsichtbar, und wenn er doch einmal die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregte, enttäuschte er nie – der DS war die treibende Kraft hinter dem Tod des bulgarischen Dissidenten Georgi Markov, der in London für die BBC arbeitete und 1978, als er gerade über die Waterloo Bridge ging, von einem Regenschirm mit vergifteter Spitze erschlagen wurde.

Aber die Beseitigung von Staatsfeinden im Stil von John Le Carré war nur das Sahnehäubchen auf dem Kuchen. Das wichtigste und einträglichste Geschäft des bulgarischen Geheimdienstes war der Schmuggel mit Drogen, Waffen und Hightech. »Der Schmuggel ist unser kulturelles Erbe«, erzählte mir Ivan Krastev, Bulgariens führender Politikwissenschaftler. »Unser Staat war immer eingeklemmt zwischen großen Ideologien, zwischen orthodoxem und römisch-katholischem Glauben, Islam und Christentum, Kapitalismus und Kommunismus. Die Imperien waren untereinander voller Feindseligkeit und Misstrauen, gleichzeitig aber die Heimat vieler Menschen, die über die verbotenen Grenzen Handel betreiben wollten. Auf dem Balkan wissen wir, wie man sich über solche Grenzen hinwegsetzen kann. Wir sind imstande, das raueste Meer und das unwegsamste Gebirge zu überqueren. Wir kennen jeden geheimen Pass, und wenn das nicht klappt, kennen wir auch den Preis jedes Grenzpolizisten.«

Durch die Macht des totalitären Staates gestärkt, nutzte der DS diese wildromantische Tradition weidlich aus. Schon in den 1960er-Jahren gründete er eine Firma namens Kintex, die das Monopol für den Waffenexport aus Bulgarien hatte und sich ihre Märkte in Krisengebieten wie dem Nahen Osten und Afrika suchte. Ende der 1970er-Jahre wurde Kintex um eine Abteilung für »verdeckten Transit« erweitert. Sie hatte vor allem die Aufgabe, Waffen zu Aufständischen nach Afrika zu schmuggeln, aber schon wenig später dienten die gleichen Kanäle auch zum illegalen Menschenhandel, zum Handel mit Drogen und sogar zum Schmuggel von Kunstwerken und Antiquitäten.

Andere Unternehmen spezialisierten sich darauf, das in Bulgarien hergestellte Amphetamin Kaptagon in den Nahen Osten zu verkaufen, wo es wegen seiner angeblich aphrodisischen Wirkung eine äußerst beliebte Droge war. In der Gegenrichtung nahmen rund 80 Prozent des Heroins, das für den westeuropäischen Markt bestimmt war, ihren Weg von der Türkei über den Grenzübergang Kapitan Andreewo-Kapıkule nach Bulgarien und in die Hände des DS. Bulgarien verdiente damit nicht nur viel Geld, der Handel trug auch dazu bei, das kapitalistische Westeuropa mit billigem Heroin zu überschwemmen und zu destabilisieren.

Mithilfe des DS konnte Bulgarien zum Dreh- und Angelpunkt für den Vertrieb illegaler Waren und Dienstleistungen zwischen Europa, dem Nahen Osten und Mittelasien werden. Der Geheimdienst achtete auch streng darauf, dass kein anderer sich in dem Geschäft breitmachte. Die bulgarische Grenzpolizei war gnadenlos, und jedem, der ohne Erlaubnis mit geschmuggelten Drogen oder Waffen gefasst wurde, drohten drakonische Strafen. Hinter dieser Entschlossenheit stand nicht der Wunsch, die Gesetze einzuhalten (eine Vorstellung, die dem Geheimdienst ein Gräuel war), sondern sie sollte das wirtschaftliche Monopol des DS sichern.

Nach den Vorschriften des schwerfälligen Ostblock-Handelsbündnisses Comecon, das über die »sozialistische internationale Arbeitsteilung« bestimmte, war Bulgarien das Zentrum der Elektronikbranche, während Moskau der Tschechoslowakei die Anweisung erteilt hatte, sich auf die Produktion von Kraftwerkturbinen zu konzentrieren, und Polen Düngemittel herzustellen hatte.

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