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Oliver Erhardt

Luca und die Reise am Tag außerhalb der Zeit

Auflage 1.2

Copyright © 2017 Oliver Erhardt

© 2017 Oliver Erhardt

1. Auflage

Text und Umschlaggestaltung: Oliver Erhardt

Lektorat, Korrektorat: Eva Behle

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN Hardcover: 978-3-7439-7001-4

ISBN e-Book: 978-3-7439-7002-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Roswitha Jacobsen

unsere Grundschullehrerin

„So, wie lautet der Satz des Pythagoras?“, höre ich schwach die Stimme von Frau Beckendorf. Ich hoffe, dass mir die Frage erspart bleibt, obwohl ich die Antwort weiß. Zum Glück komme ich nicht dran. Thorsten hat sich freiwillig gemeldet. Der Streber. Nur noch ein paar Minuten Mathematik in diesem Schuljahr. Gedankenverloren schaue ich aus dem Fenster im Erdgeschoss auf den Schulhof. Er ist menschenleer und ruhig, so mag ich ihn. Ich sehe zurück zu Frau Beckendorf, die macht pflichtbewusst ihren Unterricht weiter, obwohl sie uns gerade die Zeugnisse gegeben hat und die meisten ihr eh nicht mehr zuhören.

Ich schiebe mein Mathematikbuch, das vor mir auf meinem Tisch liegt, zur Seite. Darunter kommt mein Erdkundebuch zum Vorschein. Ich schlage meine Lieblingsseite auf und lese die Überschrift nochmal: „Unbekannte Höhlen in Venezuela“ Ich mag Erdkunde. Da haben wir einen Lehrer, der ist eigentlich gar keiner, eher so ein Weltenbummler.

Herr Fischers Worring heißt er und der erzählt uns immer tolle Geschichten von seinen Reisen durch die Welt. Noten sind ihm egal. Ich wollte ihn unbedingt mal fragen, ob er auch schon in Venezuela war, denn dort reise ich morgen mit meinem Vater zum Tauchen hin. Das wird riesig werden.

Ich blättere weiter und sehe Bilder von unglaublich schönen Höhlen, in denen man tauchen kann. „Genau das Richtige für mich“, freue ich mich. Endlich kann ich die neue Schule vergessen. Das erste Jahr auf der Weiterführenden war schrecklich.

In jedem Fach einen anderen Lehrer zu haben, war total ungewohnt für mich und von meiner Grundschule kam auch keiner meiner Klassenkameraden hier aufs Humboldt Gymnasium. Bis heute habe ich keine richtigen neuen Freunde finden können. In den Pausen spiele ich keinen Fußball, wie die anderen und im Sport bin ich auch keine große Leuchte, wo wir zurzeit Volleyball spielen. Das macht mich nicht gerade beliebt. Manschaftswettkämpfe mag ich einfach nicht.

Ich kann gut schwimmen und tauchen, aber Schwimmen haben wir vielleicht erst in einem Jahr. Eine lange Zeit. Ich bin ruhig geworden, denn nur, wenn ich mich angenommen und verstanden fühle, komme ich aus mir heraus. Dann kann ich auch ganz anders sein, aber hier fühle ich mich noch nicht wohl und ich frage mich, ob das jemals so sein wird.

Endlich klingelt es. „Sommerferien!“, freue ich mich.

„Und nutzt die 6 Wochen der Ferien und macht was für die Schule, sonst habt ihr hinterher alles vergessen und wir fangen wieder bei null an!“, brüllt Frau Beckendorf vergeblich der herausstürzenden Meute entgegen. Dann bemerkt sie resignierend, dass ich der Einzige im Klassenraum bin, der ihr noch zuhört. Ganz in Ruhe packe ich meine Bücher in die Schultasche, schiebe den Stuhl ran und sage, als ich an ihr vorbei gehe: „Tschüss Frau Beckendorf, ich wünsche ihnen schöne Ferien.“ „Was?“, sagt sie verwirrt, „Oh, ja Luca, ich wünsche dir auch schöne Sommerferien.“ Ich verlasse das Klassenzimmer und auf dem Flur werde ich fast umgerannt. Viele Schüler laufen schreiend über den Gang während andere lachend zusammenstehen und ihre Zeugnisse vergleichen.

Ich drücke mich eng an der Wand entlang. Keiner bemerkt mich und das ist auch gut so, denke ich und zucke zusammen, als jemand unerwartet meinen Namen ruft: „Hey Luca, warte!“ Als ich mich kurz umdrehe, sehe ich Jonas winken. Ich bleibe aber nicht stehen und antworte knapp: „Ich muss nach Hause. Meine Mutter wartet nicht so gerne mit dem Essen auf mich.“ Was für ein Unsinn, denke ich sofort bei mir. „Alles klar, man sieht sich!“, ruft mir Jonas, nicht verärgert, hinterher. „Schöne Ferien dann. Ich schreib dich mal an, wenn ich aus Bayern zurück bin.“ „Ja, mach das!“, schreie ich zurück gegen den Lärm. „Ich wünsche dir auch schöne Ferien Jonas!“

Ich versuche so locker und unbeschwert wie möglich zu klingen. Eigentlich ist Jonas ganz ok, ich sitze in Erdkunde neben ihm, aber im Moment will ich einfach nur hier raus.

So gehe ich über den Schulhof, dann noch an der Turnhalle vorbei, durch das Schultor und ich hab‘s geschafft. Ich atme tief durch. „Die fünfte Klasse; kein besonders gutes Zeugnis; alles kann nur besser werden“, denke ich, fasse die Riemen meiner Schultasche fester und renne los.

„Vergiss jetzt die Schule, morgen geht es in eine andere Welt!“

Luca hatte eine schöne Grundschulzeit mit vielen Freunden. Die kamen morgens bei ihm zu Hause vorbei, um mit ihm gemeinsam zur Schule zu gehen. Ihre Klassenlehrerin war wie eine Mutter zu ihnen. Sie wollte ihre Kinder so gut wie möglich auf das Leben nach der Grundschule vorbereiten, doch dass er sich so fremd und einsam auf der neuen Schule fühlen würde, hatte Luca nicht erwartet.

Übernächster Tag

„Bist du bereit?“ fragt mein Vater. „Alles in Ordnung bei mir!“, sage ich. „Überprüf‘ nochmal die Sauerstoffflasche, deine Uhr und den Ortungssender.“ „Habe ich schon.

Die Sauerstoffflasche ist voll und die Batterien sind auch neu.“ „Deine Handlampe hast du hoffentlich nicht vergessen?“

„Nein, habe ich nicht und meine Hüfttasche habe ich auch um, falls ich schöne Muscheln finden sollte“, antworte ich leicht genervt. „Dann kann es ja losgehen“, sagt mein Vater in bester Laune. Ich bin auch sehr gespannt, was uns hier erwartet.

Wir waren letztes Jahr auf Lanzarote in einigen Grotten tauchen. Das war schon klasse, aber dieses Höhlensystem hier ist weitaus größer und teilweise noch unerforscht. Wir setzen Taucherbrille und Stirnlampe auf und nehmen das Mundstück der Sauerstoffflasche in den Mund. Ich schaue zu meinem Vater und hebe den Daumen, als Zeichen, dass alles ok ist. Er erwidert das Zeichen und nickt mir zu, dann taucht er ins Wasser ab und ich folge ihm, in eine uns unbekannte Welt.

Es ist wunderschön durch das kristallklare, türkisblaue Wasser zu schwimmen, das im Schein unserer Lampen besonders intensiv leuchtet. Das Wasser funkelt und spiegelt sich an der gezackten Höhlendecke und malt sich ständig verändernde Figuren dorthin. Glitzernde Fischschwärme überholen mich und verschwinden lautlos in einem kleinen Höhlengang rechts von mir. Mit meiner Handlampe leuchte ich ihnen hinterher.

Ich sehe nach vorne und folge wieder den Flossen meines Vaters. Ich habe ihn zusätzlich als grünen Punkt sichtbar auf dem Display meines Armbands. So kann ich ihn, selbst wenn wir uns aus den Augen verlieren sollten, leicht wiederfinden. Hin und wieder kommen wir an Abzweigungen vorbei.

Sie ähneln einer Kreuzung und manchmal gehen bis zu sechs verschiedene Wege von ihr ab. Immer wieder leuchte ich in seitlich vorbeikommenden Gänge, die wie große, schwarze Löcher finster vor mir liegen. Vielleicht gibt es ja etwas Interessantes zu entdecken. Eine große Höhle zu erreichen wäre toll. Doch wir haben uns vorher auf einer Karte die erforschten Tauchmöglichkeiten des Höhlensystems angesehen und deshalb weiß ich, dass es bis zur nächsten bekannten, größeren Tropfsteinhöhle noch ein gutes Stück ist.

So tauchen wir eine Zeit lang hintereinander durch diese einzigartige Welt, die man von Tropfsteinhöhlen kennt, nur sind diese unterschiedlich breiten Gänge, weit über die Hälfte mit Wasser gefüllt. Das Licht unserer Handlampen gleitet an den seltsamen Felsgebilden und den Höhlenwänden entlang, bis sich der Strahl meiner Lampe schlagartig im Nichts verliert. Da muss ein sehr großer Höhlengang rechts von mir sein, stelle ich erstaunt fest. Ich leuchte neugierig in die Richtung, doch nichts reflektiert das Licht meiner Lampe. Ich folge einem Gefühl und schalte die Handlampe aus.

Es dauert eine Weile, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Da glaube ich etwas zu sehen. Ich schaue gebannt in den schwarzen Gang, der vor mir liegt und es kommt mir vor, als ob etwas in der Ferne leuchten würde.

Ich schwimme ein Stück in den Gang hinein und kneife die Augen zusammen. Ich konzentriere mich so sehr darauf etwas in der Ferne zu entdecken, dass ich den großen Fisch, der mit weit aufgerissenem Mund und kleinen, spitzen Zähnen vor mir auftaucht, zuerst nicht bemerke. Erst als er direkt vor meiner Taucherbrille ist, erschrecke ich mich und stoße ziemlich viel Sauerstoff aus. Die Blasen sprudeln nur so vor mir nach oben und nachdem sie aufgestiegen sind, ist auch der Fisch aus dem schwachen Schein meiner Stirnlampe wieder verschwunden. Ich merke, dass ich die Zeit vergessen habe, schalte meine Handlampe wieder ein und kehre um. Ich muss wieder zu meinem Vater gelangen.

Ich schwimme bis zur Abzweigung zurück und nehme die alte Route wieder auf. Ich tauche schneller, um ihn bald einzuholen. Wie weit mag er mittlerweile schon weg sein, überlege ich und schaue auf mein Armband. Doch auf dem Display sehe keinen grünen Punkt mehr, der mir sagen würde, wo er sich befindet. Ich klopfe mit dem Finger darauf, doch es bleibt schwarz. „Das gibt es doch nicht.“ Ich schaue nach vorne. Von meinem Vater ist nichts zu sehen.

Mit meiner Handlampe leuchte ich ringsum in den breiten Höhlengang. Keine Spur von ihm. „Was, wenn er in einen anderen Gang geschwommen ist?“, frage ich mich und schwimme zurück zur letzten Kreuzung. Dort angekommen leuchte ich abwechselnd über und unter Wasser in alle Gänge hinein. Da ist er auch nicht. „Papa“, rufe ich ihn, doch ich bekomme keine Antwort.

Sollte ich ohne Führung weiterschwimmen, könnte ich mich schnell verirren, überlege ich. „Ich warte hier erstmal“, entscheide ich mich. „Mein Vater hat bestimmt schon bemerkt, dass ich nicht mehr hinter ihm bin. Er wird umkehren und dann hier vorbeikommen. „Ja, das ist ein guter Plan“, beruhige ich mich und halte mich schwimmend auf der Stelle. Gleich wird er hier sein.

Doch die Minuten vergehen und nichts geschieht. Ungeduldig schaue ich immer wieder auf meine Armbanduhr. Ich leuchte abwechselnd über und unter Wasser in alle Richtungen.

Ich rufe ihn und warte vergebens auf eine Antwort.

„Ich muss jetzt etwas unternehmen“, beschließe ich.

„Möglicherweise sind wir aneinander vorbeigeschwommen und er sucht mich an dem Eingang zur großen Höhle.

„Ja genau, so wird es gewesen sein“, bin ich mir jetzt sicher.

„Er sucht mich bestimmt dort.“ So schnell ich kann schwimme ich zurück und schon nach kurzer Zeit erreiche ich wieder den Eingang zu dem großen, dunklen Höhlengang.

„Hier ist die Wahrscheinlichkeit am größten sich zu treffen“, hoffe ich. „Papa!“, rufe ich ihn so laut ich kann, warte und leuchte immer wieder umher. Doch ich bekomme keine Antwort und sehe ihn auch nicht. Alles bleibt still, nur das leise Rauschen des Wassers ist zu hören. Ich schaue beunruhigt auf meine Uhr und stelle fest, dass ich seit gut einer halben Stunde schon alleine bin. „Wo ist er nur? Hoffentlich ist ihm nichts passiert?“ Ich schaue nochmal auf das Display, es ist immer noch schwarz.

Da glaube ich plötzlich eine Bewegung in dem großen Gang zu erkennen. „Papa bist du das?“, rufe ich und leuchte in den Gang. Diesmal interessieren mich die bunten Fischschwärme nicht mehr, die durch den Lichtstrahl meiner Lampe gleiten. Entschlossen schwimme ich in das große dunkle Loch.

Mit meiner Handlampe nach vorne gerichtet erkunde ich aufmerksam den Gang. „Da bewegt sich doch etwas. Das wird er sein“, glaube ich ihn zu sehen. Mit neuer Hoffnung verfolge ich mein unsichtbares Ziel, bis ich unerwartet keine Luft mehr bekomme.