Über Rebecca Solnit

Rebecca Solnit, Jahrgang 1961, ist eine der bedeutendsten Essayistinnen der USA. Sie schreibt u.a. für Harper’s und das politische Onlinemagazin TomDispatch. Solnits Themen reichen von Politik, Geschichte und Feminismus bis hin zu Kunst und Literaturwissenschaft. Für ihr Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Solnit hat bislang siebzehn Bücher veröffentlicht, auf Deutsch erschien zuletzt bei Hoffmann und Campe ihr internationaler Bestseller Wenn Männer mir die Welt erklären. Rebecca Solnit lebt in San Francisco.

 

Kirsten Riesselmann ist Kulturjournalistin und Übersetzerin von u.a. Leslie Jamison, Katie Roiphe, John Jeremiah Sullivan und Kristin Dombek. Sie lebt in Berlin.

Fußnoten

Einmal habe ich mich mit dem Kulturhistoriker Joel Dinerstein unterhalten, als er noch an seinem Projekt über American Cool arbeitete, und ihn gefragt, warum so wenige Frauen auf der Liste der »100 coolsten Amerikaner« stünden. Dann begriff ich, dass die Weigerung, sich verbindlich zu zeigen oder überhaupt irgendwie zu reagieren – was den Kern maskuliner Coolness ausmacht –, bei einer Frau viel eher als Katatonie oder inakzeptable Arroganz gewertet wurde. Was ihn cool macht, macht sie kühl.

Manchmal heißt es, dass schwarze Frauen bis zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung kein Wahlrecht hatten. Das trifft auf den Großteil der Südstaaten zu, und zwar auf schwarze Frauen und Männer gleichermaßen. Es trifft nicht auf die Gesamtheit der USA zu: In Chicago bildeten schwarze Frauen noch vor 1920 eigene Wählerinnengruppen, weil Frauen in Illinois seit 1913 wählen durften. In vier Bundesstaaten im Westen – Wyoming, Utah, Colorado und Idaho – hatten Frauen bereits seit dem 19. Jahrhundert das Wahlrecht. Asiatinnen und Frauen mit Native-American-Hintergrund wurden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auf andere Art entrechtet, und manche weiße Frau innerhalb der Wahlrechtsbewegung sprach voller Geringschätzung über schwarze Frauen und schloss sie aus. Nach dem Bürgerkrieg war Elizabeth Cady Stanton, Feministin der ersten Stunde, nicht gewillt, auch für das Wahlrecht schwarzer Männer einzutreten: Das sei ein gänzlich anderes Thema; eine Aussage, die schließlich dazu führte, dass sie und ein ganzer Teil der Frauenrechtsbewegung diesen Kampf nicht unterstützten, teils sogar aktiv dagegen Stellung bezogen. Rassistisch motivierter Wahlrechtsentzug wurde im 21. Jahrhundert wieder zum beherrschenden Thema.

Del Martin, die 1955 zu den Mitbegründerinnen der ersten Gruppe gehörte, die sich in den USA für die Rechte von Lesben einsetzte (»Daughters of Bilitis«), heiratete im Februar 2004 ihre Freundin Phyllis Lyon, mit der sie zu diesem Zeitpunkt bereits 51 Jahre liiert war. Diese Hochzeit markiert den Beginn der ersten Welle gleichgeschlechtlicher Hochzeiten in San Francisco. Durch sie gewann der Kampf für die Homo-Ehe deutlich an Fahrt und kulminierte 2015 in der Entscheidung des Supreme Court.

Im März 2016 wurde Ghomeshi in allen vier Anklagepunkten wegen sexueller Nötigung und dem einen wegen Würgens freigesprochen. Während des Prozesses drangsalierte und schikanierte sein Anwalt die Opfer, und der Richter bezichtigte sie der Lüge oder der Vorenthaltung von Beweismitteln. Einem zweiten Prozess ging Ghomeshi aus dem Weg, indem er sich zu einem sogenannten peace bond verpflichtete, der für einen gewissen Zeitraum Wohlverhalten vom Angeklagten einfordert.

Seitdem ich diesen Essay geschrieben habe, hat der Rolling Stone eine Geschichte über Vergewaltigung an der University of Virginia (UVA) veröffentlicht – und dann wieder zurückgezogen. Der Artikel konzentrierte sich auf ein angebliches Opfer, dessen Aussagen nicht überprüft wurden und sich als tatsächlich nicht akkurat herausstellten. Die Mainstreammedien und die Twitter-Welt beschäftigten sich obsessiv mit diesem Fall und bedachten das Opfer und seine Unwahrheiten mit beträchtlicher Berichterstattung – auf eine Art, die nahelegte, dass das Hauptproblem der UVA falsche Vergewaltigungsvorwürfe seien, einer Universität, an der längst das FBI ermittelt und deren Leitung vorgeworfen wird, seit vielen Jahren falsch mit Dutzenden Vorfällen sexueller Nötigung umgegangen zu sein. 2004 berichtete der Charlottesville Hook: »In derselben Zeitspanne gaben 60 Studentinnen der UVA an, sexuell belästigt worden zu sein, die meisten von Kommilitonen. Und trotzdem ist laut mehreren Quellen aus der Verwaltung der UVA in den vergangenen fünf Jahren nicht ein Sexualstraftäter der Universität verwiesen oder zumindest zeitweilig von den Lehrveranstaltungen ausgeschlossen worden.« Aber nach dem Rolling-Stone-Debakel hinterließen Dutzende von Artikeln den Eindruck, als gäbe es an der UVA nur eine Vergewaltigungsgeschichte – und zwar eine, die nicht stimmte.

Nachdem ich das hier geschrieben habe, war Sulkowicz massiven Angriffen in den sozialen Medien ausgesetzt, im Netzwerk der Männerrechtsbewegung und anderswo. Als ich 2016 ihren Namen googelte, wurde mir als zweiter Treffer »Emma Sulkowicz Lügnerin« vorgeschlagen. Auf dem Campus der Columbia University wurden Plakate aufgehängt, die sie als »hübsche kleine Lügnerin« bezeichneten, und ein Twitter-Account namens @fakerape hatte es auf sie abgesehen, bis er abgeschaltet wurde.

Die Satirezeitschrift Onion kam 2011 mit folgender Schlagzeile heraus: »College-Basketballstar überwindet heldenhaft die tragische, von ihm verübte Vergewaltigung.«

»Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein alleinstehender Mann, der ein beträchtliches Vermögen besitzt, einer Frau bedarf.«

Hoffnungsfroh machen wir weiter

in Liebe zu allen Neulingen

und ihrem herrlichen Lärm:

Atlas

Ella und May

Isaac und Marti

Berkele

Brooke, Dylan und Solomon,

Daisy und Jake;

und ein Dankeschön an die Leser*innen

und alle, die so richtig Alarm schlagen

Einführung

Der längste und zugleich jüngste Essay in diesem Buch handelt vom Schweigen. Als ich angefangen habe, ihn zu schreiben, dachte ich noch, es ginge mir um die vielen verschiedenen Arten, wie Frauen zum Schweigen gebracht werden. Allerdings wurde mir schnell klar, dass auch die Art und Weise, mit der Männer zum Schweigen gebracht werden, untrennbar zu meinem Thema gehört, ja, dass jeder und jede in einem komplexen Geflecht unterschiedlichster Ausprägungen des Schweigens lebt, zu dem auch das gegenseitige Anschweigen gehört, das wir gemeinhin als »Gender-Rollen« bezeichnen. Dies hier ist ein feministisches Buch, aber keines, das nur mit der Erfahrungswelt von Frauen zu tun hat, sondern mit der von uns allen – von Männern, Frauen, Kindern und von Menschen, die Geschlechterbinarität und -grenzen infrage stellen.

In diesem Buch geht es genauso um Männer, die glühende Feministen sind, wie es um Männer geht, die Serienvergewaltiger sind, und es ist geschrieben in dem Wissen darum, dass solche Kategorien durchlässig sind und wir sie deswegen immer nur eingeschränkt benutzen dürfen. Dieses Buch beschäftigt sich mit den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen, die eine wieder auflebende feministische Bewegung in Nordamerika und auf der ganzen Welt bewirkt. Diese Bewegung nimmt nicht nur Einfluss auf die Gesetzeslage, sondern verändert auch unser Verständnis davon, was Zustimmung, Macht, Rechte, Gender, Stimme und Repräsentation eigentlich sind. Es ist eine herrlich transformative Bewegung, die vor allem von jungen Leuten getragen wird: an den Universitäten, in den sozialen Medien und auf der Straße, und meine Bewunderung für diese furchtlose, sich von sämtlichen Anwürfen vollkommen unbeeindruckt zeigende neue Generation von Feminist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen ist grenzenlos. Genauso groß allerdings ist auch meine Angst vor dem sich gegen sie richtenden Backlash, einem Backlash, der per se ein Beweis dafür ist, dass der Feminismus als Teil eines breiter angelegten Befreiungsprojekts eine Bedrohung darstellt für Patriarchat und Status quo.

Dieses Buch ist eine Rundreise zu Orten des Gemetzels, zugleich eine Feier der Befreiung und der Solidarität, der Einsicht und der Empathie und eine Überprüfung der Begriffe und Werkzeuge, mit denen wir uns all diesen Dingen vielleicht nähern können.

Die Mutter aller Fragen

2015

Vor einigen Jahren habe ich einen Vortrag über Virginia Woolf gehalten. Bei der anschließenden Diskussionsrunde schienen einige Leute sich vor allem für die Frage zu interessieren, ob Woolf nicht hätte Kinder haben sollen. Auf diese Frage antwortete ich pflichtschuldig, Woolf habe zu Beginn ihrer Ehe, als sie sah, wie viel Freude ihre Schwester Vanessa Bell an ihren Kindern hatte, ganz offensichtlich übers Kinderkriegen nachgedacht. Mit der Zeit aber habe sie es zunehmend für unklug gehalten, sich fortzupflanzen, was möglicherweise mit ihrer psychischen Labilität zu tun hatte. Vielleicht aber, so meine These, habe sie auch einfach Schriftstellerin sein und ihr Leben der Kunst widmen wollen, was sie schließlich mit außergewöhnlichem Erfolg getan habe. In meinem Vortrag hatte ich Woolf zustimmend zitiert: wie sie den »Engel im Haus« tötete, diese innere Stimme, die vielen Frauen befiehlt, aufopferungsvolle Dienerin des Haushalts und des männlichen Egos zu sein. Ich war doch etwas überrascht, dass mein Plädoyer für die Überwindung konventioneller Weiblichkeit nun gerade zu dieser Diskussion geführt hatte.

Ich hätte dem Publikum damals sagen sollen, dass es so ermüdend wie müßig sei, Woolfs Status in Fortpflanzungsdingen zu ergründen, und dass uns das wegführe von den großen Fragen, die ihr Werk eigentlich an uns stellt. (Ich glaube, ich sagte stattdessen irgendwann: »Ach, scheiß doch auf diesen Quatsch!«, was im Grunde dasselbe aussagte und die Diskussion abwürgte.) Schließlich schenken viele Menschen Babys das Licht der Welt, aber nur ein Mensch schenkte uns Zum Leuchtturm und Drei Guineen, und um Letzteres ging es bei unserer Diskussion über Woolf.

Diese Art von Fragen waren mir damals längst sattsam bekannt. Zehn Jahre zuvor, bei einem Gespräch, in dem es um ein Buch gehen sollte, das ich über Politik geschrieben hatte, beharrte der mich interviewende Brite darauf, nicht über die Erzeugnisse meines Geistes, sondern über die Frucht meiner Lenden beziehungsweise den Mangel daran zu reden. Auf der Bühne drangsalierte er mich mit der Frage, warum ich denn keine Kinder hätte. Keine meiner Antworten stellte ihn zufrieden. Er schien der Ansicht zu sein, dass ich Kinder haben müsse und dass es vollkommen unverständlich sei, warum ich keine hatte, weswegen wir eher darüber sprechen müssten, warum ich denn keine hätte, als über die Bücher, die ich ja immerhin hatte.

Als ich von der Bühne ging, lief mir die Pressesprecherin meines schottischen Verlags – schlank, Mitte zwanzig, pinkfarbene Ballerinas an den Füßen und hübscher Verlobungsring am Finger – mit wutverzerrtem Gesicht entgegen. »Das würde er einen Mann niemals fragen!« fauchte sie. Sie hatte recht. (Diesen Satz, nett als Frage getarnt, benutze ich jetzt immer, wenn ich einem dieser Fragensteller den Wind aus den Segeln nehmen will: »Würden Sie einem Mann diese Frage stellen?«) Solche Fragen scheinen aus der Wahrnehmung zu resultieren, dass es nicht »die Frauen« gibt, also die 51 Prozent der Menschheit, die in ihren Wünschen so vielfältig und in ihrem Begehren so geheimnisvoll sind wie die restlichen 49 Prozent auch, sondern nur »die Frau«. Und »die Frau« soll heiraten und sich vermehren, soll Männer rein- und Babys rauslassen wie ein Förderband der gesamten Spezies. In Wirklichkeit sind solche Fragen nichts als die Feststellung, dass wir, die wir uns gern als Individuen sehen und selbstbestimmt unserer Wege gehen, im Irrtum sind. Gehirne sind hochindividualisierte Phänomene, die unterschiedlichste Dinge hervorbringen: Gebärmüttern entspringt nur eine Art der Schöpfung.

Wie es der Zufall will, gibt es viele Gründe, warum ich keine Kinder habe: Ich bin gut in Sachen Verhütung; obwohl ich Kinder liebe und das Tantesein genieße, schätze ich auch das Alleinsein sehr; ich bin bei unglücklichen, wenig freundlichen Menschen aufgewachsen und wollte weder deren Art des Elternseins wiederholen noch jemanden in die Welt setzen, der mir ähnliche Gefühle entgegenbringt wie ich meinen Erzeugern; die Erde kann nicht noch mehr Erste-Welt-Menschen aushalten, und die Zukunft ist sehr unsicher; außerdem wollte ich schon immer wirklich gerne Bücher schreiben, was so, wie ich es bislang getan habe, ein einigermaßen zeitaufwendiger und nervenaufreibender Beruf ist. Meine Kinderlosigkeit ist nicht dogmatisch bedingt. Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht welche bekommen, und es wäre mir gut damit gegangen – so gut, wie es mir mit meiner jetzigen Situation auch geht.

Manche Menschen wollen Kinder, können aber aus unterschiedlichen privaten Gründen – medizinischen, emotionalen, finanziellen oder beruflichen – keine bekommen. Andere wiederum wollen keine Kinder. Das geht niemanden etwas an. Nur, weil sich die Frage prinzipiell beantworten lässt, bedeutet das nicht, dass man dazu verpflichtet ist, sie zu beantworten beziehungsweise sie sich überhaupt stellen zu lassen. Die Frage meines britischen Gesprächspartners war ungehörig, weil sie impliziert, dass Frauen Kinder haben sollten und dass die reproduktiven Aktivitäten einer Frau selbstverständlich von öffentlichem Interesse sind. Grundsätzlich lag dieser Frage die Annahme zugrunde, dass es für eine Frau nur eine richtige Art zu leben gibt.

Aber wahrscheinlich ist sogar das noch zu optimistisch: Wenn man sich anschaut, wie kontinuierlich auch Mütter noch als unzulänglich dargestellt werden, ist es fraglich, ob es für Frauen überhaupt eine »richtige Art« gibt. Eine Mutter wird durchaus mal wie eine Verbrecherin behandelt, weil sie ihr Kind für fünf Minuten allein gelassen hat, obwohl der Kindsvater das schon seit mehreren Jahren tut. Einige Mütter haben mir erzählt, dass sie nach der Geburt ihrer Kinder wie einfältige, nicht Verstandesbegabte behandelt wurden, die mit Nichtachtung gestraft gehörten. Viele Frauen in meinem Bekanntenkreis haben zu hören bekommen, dass man sie im Beruf nicht für voll nehmen könne, weil sie ja doch irgendwann schwanger würden und gingen. Vielen beruflich erfolgreichen Müttern dagegen wird unterstellt, dass sie irgendwen vernachlässigen. Es gibt also schlicht keine gute Antwort auf die Frage, wie man als Frau zu sein hat. Vielleicht liegt die Kunst eher in der Art, wie wir die Frage zurückweisen.

 

Bislang haben wir über offene Fragen gesprochen. Dabei gibt es auch geschlossene Fragen, Fragen, auf die es, wenn es nach dem Fragenden ginge, nur eine einzige korrekte Antwort gibt. Es sind Fragen, die einen zurück in die Herde stoßen oder einen in die Hinterläufe zwicken, wenn man sich zu weit von der Herde wegbewegt, Fragen, die ihre Antworten schon in sich tragen und die ausschließlich auf Durchsetzung und Bestrafung abzielen. Eines meiner Lebensziele ist es, wahrhaft rabbinisch zu werden: jede geschlossene Frage mit einer offenen zu beantworten, die innere Autorität zu besitzen, um immer dann, wenn sich Eindringlinge nähern, eine gute Torwächterin zu sein und zumindest daran zu denken, »Warum fragen Sie mich das?« zurückzufragen. Das nämlich, so habe ich festgestellt, ist immer eine gute Antwort auf eine unfreundliche Frage, und geschlossene Fragen sind meistens unfreundlich. In dem Gespräch, das in ein Verhör über das Kinderkriegen ausartete, wurde ich jedoch überrumpelt (und hatte zudem einen schlimmen Jetlag), weswegen mir nur das Erstaunen darüber blieb, warum solch üble Fragen so berechenbar gestellt werden.

Ein Teil des Problems ist vielleicht, dass wir gelernt haben, von uns selbst das Falsche zu verlangen. Unser kulturelles Umfeld ist durchdrungen von einer Art Poppsychologie, die sich obsessiv um die Frage dreht: Bist du glücklich? Diese Frage stellen wir so reflexhaft, dass der Wunsch, ein Apotheker mit Zeitmaschine könnte einen lebenslangen Vorrat an Antidepressiva nach Bloomsbury liefern, damit eine unvergleichliche feministische Prosakünstlerin sich wieder im Leben zurechtfindet und viele Würfe Woolf-Babys hervorbringt, nur natürlich erscheint.

Fragen zum Thema Glücklichsein setzen üblicherweise voraus, dass wir wissen, wie ein glückliches Leben aussieht. Oft wird Glück als Ergebnis guter Organisation beschrieben: Wer sein Leben richtig aufstellt – Eheschließung, Nachwuchs, Eigentum, erotische Erfahrungen –, wird glücklich. Dabei würde eine Millisekunde Nachdenken reichen, um einzusehen, dass zahllose Menschen all das haben und trotzdem unglücklich sind.

Ständig bekommen wir Formeln in Einheitsgröße an die Hand, Formeln, die ganz oft ganz schmerzhaft nicht aufgehen. Trotzdem werden sie uns eingetrichtert. Wieder und immer wieder. Sie werden zu Gefängnissen und Strafen. Das Gefängnis der Vorstellungen lässt viele in die Falle eines Lebens tappen, das ordnungsgemäß von den richtigen Rezepten begleitet wird, aber trotzdem zutiefst unglücklich ist.

Möglicherweise ist das Problem ein literarisches: Wir sollen mit einem einzigen Handlungsstrang auskommen, der zu einem guten Leben führt, obwohl gar nicht wenige von denen, die eben diesem Handlungsstrang folgen, trotzdem ein schlechtes Leben haben. Wir tun so, als gäbe es genau einen guten Plot mit genau einem Happy End, während das Leben um uns herum doch in so vielfältigen Formen erblüht und wieder vergeht.

Sogar diejenigen, deren Leben nach der perfekten Version des bekannten Handlungsstrangs verläuft, werden nicht unbedingt glücklich. Was gar nicht notwendigerweise ein Drama ist. Ich kenne eine Frau, die siebzig Jahre lang glücklich verheiratet war. Sie hat ein langes, sinnerfülltes Leben nach ihren eigenen Maßstäben gelebt und wird von ihren Nachkommen geliebt und respektiert. Aber als glücklich würde ich sie trotzdem nicht bezeichnen. Ihr Mitgefühl für die Schwachen und ihre Sorge um die Zukunft haben ihr eine mutlose Weltsicht beschert.

Wer beschreiben will, was diese Frau anstelle von Glück im Leben gehabt hat, braucht eine präzisere Sprache. Möglicherweise gelten für jeden Menschen einfach sehr unterschiedliche Kriterien für ein gutes Leben: zu lieben und geliebt zu werden oder Befriedigung zu erfahren, geehrt zu werden, Sinn, Tiefe, Engagement oder Hoffnung zu erleben.

Als Schriftstellerin habe ich immer nach Wegen gesucht, um dem schwer Fassbaren und Übersehenen Gewicht zu geben, feine Nuancen und Schattierungen von Bedeutsamkeit zu beschreiben, das Leben in der Öffentlichkeit wie in der Einsamkeit gleichermaßen zu feiern und – so hat es John Berger formuliert – »eine andere Art zu erzählen« zu entdecken. Weswegen es auch so niederschmetternd ist, wenn man die immer gleichen alten Erzählweisen vorgesetzt bekommt.

Die »Verteidigung der Ehe«, die in Wirklichkeit nichts anderes ist als die Verteidigung des alten hierarchischen Konstrukts, das die Ehe war, bevor Feminist*innen anfingen, sie zu reformieren, reklamieren betrüblicherweise nicht nur die Konservativen für sich. Der inbrünstige Glaube, der heterosexuelle Zwei-Eltern-Haushalt sei für Kinder etwas geradezu magisch Tolles, sitzt tief, und zwar in viel zu vielen Teilen dieser Gesellschaft. Das führt dazu, dass viele in unglücklichen Ehen verbleiben, was sich auf alle Beteiligten zerstörerisch auswirkt. Ich kenne Menschen, die lange gezögert haben, eine schreckliche Ehe zu beenden, weil eine Situation, die für einen oder sogar beide Elternteile unerträglich ist, sich angeblich auf Kinder segensreich auswirke. Sogar Frauen mit gewalttätigen Männern werden oft dazu genötigt, in einer Konstellation zu verharren, die schon für sich genommen so wundervoll zu sein hat, dass die Details nicht weiter ins Gewicht fallen. Form sticht Inhalt. Und trotzdem habe ich immer wieder erlebt, wie viel Freude eine Scheidung bereiten und welch vielfältige Formen eine glückliche Familie annehmen kann, angefangen bei alleinerziehendem Elternteil plus Kind bis hin zu unendlich unterschiedlichen Konstellationen von Patchwork-Familien.

Nachdem ich ein Buch über mich und meine Mutter geschrieben hatte, die einen brutalen, seinem Beruf ergebenen Mann geheiratet, vier Kinder bekommen und oft vor Zorn und Unglück geradezu gekocht hat, wurde ich von einer Interviewerin in einen Hinterhalt gelockt: Sie fragte mich, ob mein gewalttätiger Vater der Grund sei, warum es mir nicht gelungen sei, selbst einen Lebenspartner zu finden. Ihre Frage war voller erstaunlicher Annahmen darüber, was ich mit meinem Leben wohl vorgehabt hatte, und unterstrich das Recht, sich in dieses Leben einzumischen. Mein Buch Aus der nahen Ferne handelte, so dachte ich, indirekt von meinem langen Weg in ein wirklich schönes Leben. Gleichzeitig war es der Versuch, mir über die Wut meiner Mutter und deren Ursprung klarzuwerden, den ich unter anderem in ihrem Gefangensein in konventionellen weiblichen Rollen- und Erwartungsmustern verortete.

Ich habe getan, was ich mit meinem Leben tun wollte, und das, was ich tun wollte, entsprach nicht dem, was meine Mutter oder die Interviewerin sich vorgestellt hatte. Ich wollte Bücher schreiben, von großzügigen, intelligenten Menschen umgeben sein und tolle Abenteuer erleben. Männer – Romanzen, Affären und Langzeitbeziehungen – gehörten zu diesen Abenteuern genauso dazu wie ferne Wüsten, arktische Meere, Berggipfel, Aufstände und Katastrophen sowie die Erforschung von Ideen, Archiven, Schriften und anderen Biographien.

Die Rezepte für ein erfülltes Leben, die uns unsere Gesellschaft anbietet, verursachen offenbar eine ganze Menge Unglück, sowohl auf Seiten derer, die nicht in der Lage oder willens sind, diese Rezepte zu befolgen, und deswegen stigmatisiert werden, als auch auf Seiten derer, die brav nach Rezept leben, aber das Glück trotzdem nicht finden. Selbstverständlich gibt es Menschen mit einem Leben in Standardausführung, die sehr glücklich damit sind. Ich kenne einige davon, genauso wie ich eben auch sehr glückliche kinderlose und zölibatär lebende Mönche, Priester und Äbtissinnen, schwule Geschiedene und alles dazwischen kenne. Letzten Sommer wurde meine Freundin Emma von ihrem Vater zum Traualtar geführt, gefolgt von seinem Mann am Arm von Emmas Mutter. Alle vier, plus Emmas neuem Ehemann, stehen einander nahe, sie sind eine außergewöhnlich liebevolle Familie, die sich politisch für Gerechtigkeit einsetzt. Diesen Sommer war ich auf zwei Hochzeiten, bei beiden gab es keine Bräute, sondern jeweils zwei Bräutigame. Bei der ersten weinte der eine Bräutigam, weil ihm die meiste Zeit seines Lebens das Recht zu heiraten verwehrt worden war und er nicht geglaubt hatte, dass er seine eigene Hochzeit noch erleben würde.

Und trotzdem schwirren dieselben alten Fragen noch immer durch den Raum – auch wenn sie oft gar nicht wie Fragen daherkommen, sondern eher wie ein recht durchsetzungsstarkes Zwangssystem. In der traditionellen Weltanschauung ist Glück etwas essenziell Privates und Selbstbezogenes: Verstandesbegabte Menschen folgen ihrem Eigeninteresse, und wenn sie das mit Erfolg tun, sollten sie glücklich sein. Schon die Definition dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, ist eng, und Altruismus, Idealismus und öffentliches Leben (ausgenommen Ruhm, Status oder materieller Erfolg) haben nur wenig Platz auf der Agenda. Die Vorstellung, dass ein Leben primär nach Sinnhaftigkeit streben sollte, tritt nur selten auf den Plan. Die standardisierten Tätigkeiten werden nicht nur als per se sinnhaft erachtet, nein, man begreift sie als die einzigen sinnvollen Optionen.

Einer der Gründe, warum die Mutterschaft hartnäckig als Schlüssel zur weiblichen Identität gilt, ist der Glaube, dass sich nur über Kinder die eigene Liebesfähigkeit befriedigen lässt. Aber neben dem eigenen Nachwuchs kann man doch noch so vieles andere lieben, es gibt so viele Dinge, die Liebe benötigen, und so viel Arbeit, die in dieser Welt mit Liebe getan werden muss.

Etliche derer, die die Motive kinderloser Menschen infrage stellen – es heißt, sie seien egoistisch, weil sie die mit Elternschaft einhergehenden Opfer nicht bringen wollen –, nehmen andererseits nicht zur Kenntnis, dass Menschen, die ihre Kinder intensiv lieben, vielleicht weniger Liebe für den Rest der Welt übrighaben. Die Autorin und Hochschullehrerin Christina Lupton hat kürzlich über all die Dinge geschrieben, auf die sie verzichten musste, als die aufreibenden Aufgaben einer Mutter sie fest im Griff hatten, darunter:

»alle Arten, sich um die Welt zu kümmern, die nicht so leicht Bestätigung erfahren wie das Elternsein, aber fundamental notwendig sind, wenn Kinder gedeihen sollen. Damit meine ich das Schreiben und das Erfinden, die Politik und den Aktivismus, das Lesen und das Sprechen in der Öffentlichkeit, das Protestieren, Lehren und Filmemachen … Fast alle Dinge, die ich am meisten wertschätze und von denen ich mir am ehesten Verbesserungen für die Conditio humana verspreche, sind brutal inkompatibel mit der tatsächlichen sowie der imaginierten Arbeit, die Kinderbetreuung bedeutet.«

Als Edward Snowden vor einigen Jahren plötzlich die Bildfläche betrat, war ich fasziniert davon, wie viele Menschen unfähig waren, zu begreifen, warum sich da ein junger Mann nicht an das Glücksrezept hielt und ein gutes Gehalt, einen sicheren Job und ein Haus auf Hawaii drangab, um der meistgesuchte Flüchtige der Welt zu werden. Sie alle schienen davon auszugehen, dass Snowden ein eigennütziges Motiv haben müsse, wahrscheinlich nach Geld oder Aufmerksamkeit gierte – schließlich handeln doch alle Menschen egoistisch.

Während der ersten Kommentarwelle schrieb Jeffrey Toobin, Rechtsexperte des New Yorker, dass Snowden »ein grandioser Narzisst« sei, »der es verdient, im Gefängnis zu sitzen«. Ein weiterer strenger Kritiker verkündete: »Ich glaube, wir haben es bei Edward Snowden mit nichts als einem narzisstischen jungen Mann zu tun, der wild entschlossen ist, schlauer zu sein als der Rest der Welt.« Andere wiederum vertraten die Ansicht, Snowden enthülle Regierungsgeheimnisse der USA, weil er von einem feindlich gesinnten Land dafür bezahlt worden sei.

Snowden kam einem vor wie ein Mensch aus einem anderen Jahrhundert. In seiner ersten Kontaktaufnahme mit dem Journalisten Glenn Greenwald nannte er sich »Cincinnatus« – nach dem römischen Staatsmann, der für das Wohl seiner Gesellschaft eintrat, ohne sich davon einen Vorteil zu versprechen. Schon dieser Name war ein Hinweis darauf, dass Snowden seine Ideale und Handlungsmodelle weitab von den Standardformeln für Lebensglück ausgebildet hat. Andere Zeiten und Kulturen haben schon häufiger gänzlich andere Fragen formuliert als jene, die wir heute stellen: Was ist das Sinnvollste, was du mit deinem Leben anstellen kannst? Wie groß ist dein Beitrag zur Welt oder zur Gemeinschaft? Lebst du gemäß deinen Prinzipien? Was ist dein Vermächtnis? Wofür steht dein Leben? Vielleicht ist unsere Obsession mit dem Glück eine Art, uns all diese Fragen nicht stellen zu müssen, eine Möglichkeit zu ignorieren, wie großräumig unser Leben, wie wirkmächtig unsere Arbeit und wie weitreichend unsere Liebe sein kann.

Im Kern der Glücksfrage steht ein Paradoxon. Todd Kashdan, Psychologieprofessor an der George Mason University, hat vor einigen Jahren von Studien berichtet, die ergeben haben, dass Menschen, die es für wichtig halten, glücklich zu sein, häufiger Depressionen entwickeln als andere: »Das Leben rund um den Versuch zu organisieren, glücklich zu sein, und Glück zum Hauptlebensziel zu machen, verhindert es, tatsächlich glücklich zu werden.«

In England hatte ich dann doch noch meinen rabbinischen Augenblick. Als ich den Jetlag überwunden hatte, wurde ich noch mal auf einer Bühne interviewt, diesmal von einer Frau mit affektiert flötendem Akzent. »Sie sind also«, tirilierte sie, »von der Menschheit verletzt worden und daraufhin schutzsuchend aufs Land geflohen.« Was sie damit sagen wollte: Ich war ein ausnehmend klägliches Exemplar, das hier zur Schau gestellt wurde, eine Ausreißerin aus der Herde. Ich wandte mich ans Publikum: »Ist jemand von Ihnen schon mal von der gesamten Menschheit verletzt worden?« Man lachte mit mir. In diesem Augenblick wussten wir, dass wir alle unseren Hau hatten, alle gemeinsam in dieser Sache drinsteckten und dass es unser aller Aufgabe ist, das eigene Leiden zu thematisieren und gleichzeitig zu lernen, es anderen nicht zuzufügen. Genauso ist es mit der Liebe, die so vielfältige Erscheinungsformen hat und sich auf so viele Dinge richten kann. Viele Fragen im Leben sind es wert, gestellt zu werden. Aber vielleicht können wir uns, schlau wie wir sind, klarmachen, dass nicht jede Frage auch eine Antwort braucht.

1 Das Schweigen wird gebrochen