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Erschrockene Erschrecker

Warten, Warten, Warten

Der heulende Hallodri

Der heimliche Begleiter

Tante Fia sieht schwarz

Traurige Gestalten

Die verzauberte Ranke

Rutschpartie ins Nichts

Durchs dunkle Dickicht

Auf der Lauer

Monster gegen Magier

Die Botschaft aus dem Wurzelwerk

Wo ist Linus?

Ich sehe Dich!

Das Geheimnis wird gelüftet

 

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Heuler.

»Todsicher«, raunte sein Kollege Glotzer. »Hier kommt jede Minute wer zum Erschrecken vorbei. Das wirst du schon sehen.«

Die zwei Geister lagen am Rand einer nebelverhangenen Waldlichtung im Gebüsch auf der Lauer.

»Aber wir warten schon ein paar Stunden!«, erwiderte Heuler.

»Mach dir nicht ins Laken ...«

»Waa!« Heuler entfuhr ein spitzer Schrei.

Glotzer buffte ihn von der Seite an. »Bist du wohl still!«

»A-a-aber da w-war gerade eine Spinne!«

»Ein Geist, der sich vor Spinnen fürchtet«, ätzte Glotzer. »Lass das bloß keinen hören.«

»Sie muss noch irgendwo hier sein!«

Glotzer seufzte und versuchte, seinen Kollegen zu beruhigen. Denn er wusste: Wenn Heuler erst einmal in Fahrt kam, war es mit dem Auflauern vorbei. »Atme tief ein … und aus … ein … und aus …«

»Ein … und aus …«, schnaufte Heuler gehorsam.

Die Minuten verstrichen. Der Nebel wallte immer dichter. Heuler versuchte weiterhin tapfer Ruhe zu bewahren. Derweil übte der andere Geist seine Spezialwaffe: den bösen Blick. Dafür zog Glotzer eine altmodisch aussehende Brille, die er sich in die Stirn geschoben hatte, vor die Augen. Seine Pupillen begannen sich sogleich im Kreis zu drehen. Das sah richtig schön schaurig aus! Nur leider wurde Glotzer davon selbst so verwirrt, dass er anfing, sich wie ein Kreisel zu drehen.

Plötzlich ertönte von der Lichtung her ein leises Knacken.

»He, Glotzer!«, wisperte Heuler. »Da kommt wer! Da kommt wer!«

»Was? Wo? Wie?«

Heuler packte seinen Kollegen und drehte ihn so, dass er ebenfalls auf die Lichtung sehen konnte. Glotzers Pupillen kreisten wie kullernde Murmeln hinter den Brillengläsern.

»Ooohh, da sind ja Rehe! Und gleich vier …«

In Wahrheit staksten nur zwei Rehe auf die Lichtung; eine Rehmutter und ihr Kitz. Aber Glotzer sah gerade alles doppelt.

Die Rehe hielten an und die Rehmutter reckte ihre Nase. Hatte sie die Geister gewittert? Nein, offenbar nicht. Im nächsten Moment liefen die Tiere seelenruhig weiter, direkt auf Glotzer und Heuler zu.

»Ein und aus, ein und aus …«, murmelte Heuler angespannt.

»Gleich … gleich!«, freute sich Glotzer.

Nun waren die Rehe zum Greifen nah. Sie senkten ihre Köpfe und begannen zu grasen.

»Auf drei«, wisperte Glotzer. »Eins, zwei …«

Plötzlich zuckten die Rehe zusammen. Sie hoben alarmiert ihre Köpfe und starrten ins Unterholz. In ihren großen braunen Augen spiegelte sich die nackte Furcht. Schneller, als man »Buh!« sagen konnte, wirbelten sie herum und sprangen davon. Heuler und Glotzer sahen gerade noch die weiße Hinterseite eines Rehschwanzes wippen, dann hatte der Nebel die beiden verschluckt.

Die Geisterkollegen schauten sich verwirrt an.

»Merkwürdig«, meinte Heuler. »Wir haben doch noch gar nichts gemacht!«

Glotzer schob sich stolz die Brille von den Augen. »Sieh mal einer an. Schon unser bloßer Anblick hat ihnen den Rest gegeben. Heuler: Wir spuken wirklich auf hohem Niveau!«

Hinter den beiden ertönte ein Rascheln. Noch mehr Rehe? Die Geister drehten sich um.

Was sie erblickten, hätte ihnen das Blut in den Adern gefrieren lassen, wenn sie Blut gehabt hätten. Doch so hingen sie nur wie eingefroren in der Luft und starrten aus weit aufgerissenen Augen auf das Ding, das sich aus dem Unterholz erhob: ein raschelnder Berg aus Ästen, Blättern, Moos und Rinde, der leicht hin- und herschwankte. Es sah aus, als wäre der Waldboden lebendig geworden! Augen waren nirgends zu erkennen. Doch mitten in all dem Gewühl öffnete sich ein Spalt, der immer länger und breiter wurde, wie ein gewaltiges Maul.

Was auch immer für ein Geräusch aus dem Maul des Ungeheuers kam, es ging in dem Schreckensschrei unter, den Heuler eigentlich für die Rehe aufgespart hatte.

»HUUUUUUUUUUUUUIIIIIIIIIIIIIIIIUUUUUUUUUUUUUUIIIIIIIIIIIIIUIIIII!«, ging der Geist los wie eine Rakete. Mit irrsinnigem Jaulen zischte er in den Himmel hinauf. Sein Spukkollege folgte ihm hastig und rief: »Heuler! Warte auf mich! Lass mich hier nicht allein!«

Hals über Kopf geisterten die beiden davon.

 

»Feuer frei!!«, schrie Vicky und riss am Zügel der Bestie. Gehorsam öffnete der Drache sein Maul und ließ einen Feuerstrahl los. Das Feuer traf eine Holztür, die augenblicklich zu Asche zerfiel. Der Drache fauchte rasselnd und sauste durch die frei gewordene Öffnung.

»Yes!«, jubelte Vicky.

»Puh, das war knapp«, atmete Conrad neben ihr auf. »Eine Sekunde später und wir wären mit Volldampf gegen die Tür geknallt …«

Dunkle Tunnelwände rasten an ihnen vorbei; hier und da verbreitete eine Bergwerkslampe fahles Licht. Die Lampen und die Wände sahen ziemlich unscharf aus. Das lag nicht nur an dem irren Tempo, mit dem der Drache unter der Erde dahinflog, sondern vor allem daran, dass das Computerspiel »Drachenrennen« schon ein paar Jahre alt war.

Vicky und Conrad hockten auf dem orangen Sitzsack vor dem Fernseher in Vickys Zimmer. Draußen rauschte der Regen wie ein dichter Vorhang vom Himmel. Vor allem Vicky fühlte sich bei so einem Schmuddelwetter wie ein Tiger, der in einem viel zu kleinen Gehege eingesperrt war. Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte sie eine alte Spielekonsole ausgegraben.

»Diesmal schaffen wir’s!«, rief sie und es hielt sie nicht länger auf dem Sack. Mit einem energischen Satz sprang sie hoch und heulte: »Hahaaa!«

»Geht das auch ein bisschen leiser?«, beschwerte sich Conrads Schwester Mila. Vicky drehte kurz den Kopf über die Schulter. Mila saß mit angezogenen Beinen auf Vickys Bett und hatte ein dickes Märchenbuch auf dem Schoß. Vicky verdrehte nur die Augen und wandte sich wieder Conrad zu: »Los, Junge, Tempo!!«, feuerte sie ihren Freund an. Conrad und Vicky spielten zu zweit: Conrad lenkte den Drachen und Vicky feuerte Hindernisse aus dem Weg. Unten auf dem Bildschirm lief ein Countdown: 13 Sekunden, 12, 11 …

Nach der nächsten Kurve tauchte ein mächtiges Holztor auf. Dahinter musste sich das Ziel verbergen! Vicky drückte mit vor Aufregung nassen Händen auf den Controller und das Drachenmaul klappte weit auf.

»Halt, Vicky, jetzt noch nicht!«, rief Conrad. »Ich muss erst noch lenken …« Aber zu spät: WUSCHSCHSCHSCHSCH! Drachenfeuer schoss in den Tunnel. Statt die Tür vor ihnen zu treffen, fackelte es die hölzernen Balken ab, die die Tunneldecke stützten.

»Oh, oh«, machte Vicky dumpf. Aus den Lautsprechern ertönte ein Rumpeln. Die Wände begannen zu wackeln und im nächsten Moment stürzte der gesamte Tunnel ein.

Der Drache gab ein letztes Fauchen von sich. Dann blinkten zwei blutrote Worte auf: GAME OVER.

Vicky schnaubte: »So ein Mist! Wir waren so dicht dran!«

»Nur weil du mal wieder nicht warten konntest«, brummte Conrad.

Zornig schlug Vicky mit der Faust auf den Controller. »Warten, warten, warten! Immer muss man auf alles warten. Warten auf besseres Wetter, warten auf die Herbstferien, warten auf unsere nächste magische Mission. Ich hab die ganze Warterei satt!«

Sie stiefelte zum Fenster, das fast bis zum Boden reichte. Wenn man davorstand, hatte man beinahe das Gefühl, draußen im Regen zu stehen.

»Wenn man schon mal echte Drachen gesehen hat, ist so ein Computer-Monster auch nichts Besonderes mehr«, murmelte Vicky sehnsüchtig.

Mila kicherte. »Redest du von Tante Fias kleinen Hausdrachen?«

»Erraten. Wäre das nicht cool, wenn wir mal wieder nach Algravia könnten?«

Conrad trat neben Vicky. »Hast schon recht«, sagte er. »Die sprechenden Bäume … Kasimir … die Lunies … ich vermisse sogar fast Rabenhorst ein wenig.«

»Obwohl er dich mit seinem Zauberstab eingefroren hat?«, fragte Mila ungläubig.

Hätte in diesem Moment jemand an der Tür gelauscht, er hätte bestimmt gedacht, dass die drei sich das alles ausdachten. Doch die geheimnisvolle Welt Algravia gab es wirklich! Vor zwei Wochen hatten Conrad, Vicky und Mila am Badesee einen magischen Übergang entdeckt und ein unglaubliches Abenteuer erlebt. Am Ende waren sie zu den »drei Magiern« geworden, deren Aufgabe es war, die Harmonie in der verzauberten Welt zu beschützen. Doch im Moment schien Algravia auch bestens ohne sie klarzukommen.

»Kommt’s euch manchmal auch so vor, als hätten wir das alles nur geträumt?«, fragte Mila.

»Haben wir nicht!«, erwiderte Vicky und marschierte zu ihrem Kleiderschrank. Als sie die Tür öffnete, fielen ein Surfbrett, zwei Frisbee-Scheiben und ein Haufen Socken auf den Boden.

Vicky griff in den Schrank und zog eine moosgrüne Kapuzenjacke unter einem T-Shirt-Stapel hervor. Sie streifte sich die Jacke über und nahm einen vertrockneten Ast aus der Seitentasche. Dieser Ast hatte ein Geheimnis: In Algravia war er ein mächtiger Zauberstab! Und was hier wie eine stinknormale Kapuzenjacke aussah, diente in Algravia als magischer Umhang.

»Leute, hört mal zu! Ich zaubere uns jetzt einfach rüber«, verkündete Vicky.

Ihre Freunde schnappten nach Luft.

»Meinst du, das geht?«, stutzte Mila. »Einfach so?«

»Probieren geht über Studieren. Na los, kommt her!« Vicky winkte Mila und Conrad zu sich heran. Zögernd folgten die beiden der Aufforderung.

»Nehmt meine Hand …« Als Conrad und Mila ihre Hände auf die von Vicky drückten, lief ein erwartungsvolles Kribbeln über Vickys Rücken. Sie bückte sich und zeichnete mit dem Ast einen zackigen Stern auf den Fußboden. Holz kratzte auf Holz. Draußen rauschte leise der Regen.

Dann ertönte ein geheimnisvoller Sternenklang.