»Was ist das?«, fragte ich entsetzt und starrte die graue Pampe angewidert an.
»Irgendwas mit gestampften Kichererbsen und alten Fleischresten. Woher die stammen, willst du nicht wissen. Dem Koch ist die Matsche zusätzlich noch angebrannt.«
Ich rümpfte die Nase, denn der Brei sah nicht nur widerlich aus, er roch auch so. Trotzdem zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Ich hatte seit dem Morgengrauen nichts gegessen und wusste, dass ich den restlichen Tag keinen weiteren Bissen bekommen würde.
Unser Schloss hungerte – und das bereits seit drei Jahren.
Seufzend nickte ich dem Küchengehilfen zu, der genauso unglücklich über die Pampe war wie die hungrigen Mäuler, die er zu stopfen hatte. Mein kleiner Winddrachen auf meinem Kopf bewegte sich in dieser Sekunde nach vorne, um in die Schüssel zu starren. Fluh schnupperte und jammerte leise. Auch sie musste hungern, solange ich nichts zu essen bekam.
Mein Blick fiel auf die lange Schlange von Burgbewohnern. Sie sahen alle ausgemergelt und erschöpft aus, die Gesichter grau vor Müdigkeit und Angst, die Klamotten starr vor Dreck und Blut. Der Krieg hielt uns gemeinsam fest im Griff.
Ich drückte die Schüssel mit dem Klecks Brei wie einen Schatz an die Brust und wartete geduldig, bis mir eine alte Küchenfrau noch einen daumenbreiten Streifen Brot in die Hand quetschte. Sie zuckte mit den Achseln, als sie meinen entsetzten Blick bemerkte.
»Wir müssen nicht mehr lange hungern, meine Kleine. So oder so ist es bald vorbei.«
»Meine Henkersmalzeit habe ich mir aber etwas üppiger vorgestellt«, erwiderte ich.
Die Alte verdrehte die Augen. »Wenigstens haben wir hier im Schloss ein wenig Brot. Da draußen in den Schützengräben gibt es nichts außer gebratene Ratte.«
Da hatte sie auch wieder recht. Bevor sie mir noch mehr den Appetit verderben konnte, ging ich weiter und machte Platz für den Nächsten, der mit der Alten zu diskutieren begann.
Ich sah mich kurz im Raum um und entdeckte bald eine Gruppe Sidhe, die ich kannte. Meine Freundin Mina winkte mir hektisch zu und ruderte wild mit den Armen, um mich zu sich zu locken. Ich folgte der Aufforderung und stand wenig später neben den zierlichen Elfenwesen, die über den Stühlen schwebend ihren Brei löffelten. Warum sie sich dennoch um einen Tisch scharrten, blieb mir ein Rätsel.
»Ich setze mich heute nicht zu euch«, sagte ich zu Mina, bevor sie überhaupt das Gespräch eröffnen konnte.
Mina sah mich schockiert an. »Wir haben dir extra einen Platz frei gehalten«, protestierte sie. Da ich als Einzige in der Truppe nicht fliegen konnte, war das natürlich keine große Kunst.
»Heute ist Auszeit für mich«, erklärte ich achselzuckend und nickte den schimmernden Gestalten noch einmal aufmunternd zu. Das Elfenvolk sah ähnlich mitgenommen aus wie wir Menschen. Ihr ursprüngliches Strahlen war zu einem leichten Glanz verblasst, auch die Körper wirkten ausgezehrt und mager. Natürlich waren die Sidhe schon immer zierlich gewesen, doch jetzt sah ich deutlich die Wangenknochen hervorstechen. Die unnatürlich riesigen Augen waren noch gigantischer als sonst.
Die meisten Sidhe waren etwa so groß wie mein Kopf, allerdings machten sie das durch ziemlich überdimensionale Flügel wieder wett. Eine Sidhe mit ausgebreiteten Schwingen hatte eine Spannweite von bestimmt drei Schritten.
Gerade eben flatterten sie fast lautlos vor sich hin, die Flügel halb angeklappt, durch ihre Magie getragen. Die schimmerte bläulich, wodurch die ohnehin blassen Körper noch durchscheinender wirkten. Im krassen Kontrast standen dazu ihre Haare – die gab es in allen Tönen, von Meergrün bis Himmelblau.
Meine Freundin Mina hatte die schönsten grasgrünen Strähnen, die ich je gesehen hatte. Die Augenfarbe erinnerte eher an dunkles Moos, durchsprenkelt mit ihrer blau gefärbten Magie. Eben jene schillernden Augen durchleuchteten mich jetzt und musterten mich ebenso intensiv wie ich sie. »Auszeit für dich? Du weißt schon, dass es gut die letzte gemeinsame Mahlzeit sein könnte?«
»Das merkst du bereits seit einer Woche an – und bislang hast du mich damit jedes Mal überreden können, doch heute brauche ich einen Moment für mich. Bis später!«
Ich hob grüßend die Schüssel und die Sidhe wedelten zum Abschied mit den Löffeln. Während ich zur Tür ging, pfiff ich nach Diamad. Das war mein zweiter Drache. Der krabbelte wie immer unter den Tischen herum, stets auf der Suche nach heruntergefallenen Essensresten. Drachen ernährten sich zwar eigentlich nur von der Lebensenergie ihrer Besitzer und von Glutsteinen, doch Diamad naschte gerne.
Als er den Pfiff hörte, startete er durch und flatterte zu mir herüber. Fluh, meine fast unsichtbare Drachendame, begrüßte ihn leise mit einem Schnauben. Sie war die ältere von beiden und definitiv besser erzogen. Sie blieb stets bei mir, zusammengerollt wie eine Katze auf meinem Kopf. Da ihre luftige Gestalt nichts wog, verspürte ich höchstens mal einen sanften Lufthauch, sobald sie sich bewegte.
Diamad hingegen war eine andere Nummer. Der Feuerdrache ließ sich plump wie eh und je mit dem ganzen Gewicht auf meine rechte Schulter fallen und trompetete vergnügt ein Hallo.
Mein Ohr klingelte und der Nacken protestierte. Diamad wog mittlerweile bestimmt an die zehn Kilo und jede seiner Landungen brachte mich erst einmal aus dem Gleichgewicht.
»Bleib bei mir«, ermahnte ich ihn. Er drapierte sich als Antwort quer über meine Schultern, sodass er wie eine Art lebendiger Schal um meinen Hals lag. Sein schuppiger Schwanz schlängelte sich dabei um meinen rechten Oberarm.
Ich war die Kletterei gewohnt und bemerkte sie nicht einmal mehr. Allerdings war klar, dass sich Diamad bald einen neuen Stammplatz suchen musste – er wurde langsam zu groß, um als Schal durchzugehen. Doch heute konnte gut unser letzter Tag sein, und da mochte ich nicht kleinlich sein.
Ich drängelte mich an den Menschen und den anderen Wesen vorbei, die gerade den Essensraum betreten wollten. Viele warfen einen angewiderten Blick in meine Schüssel, andere machten mir Platz. Dank meiner Drachen hatte ich mir ein wenig Respekt erarbeitet.
Ich nickte jenen zu, die ich kannte, und grüßte diejenigen, die mich ansprachen. Fünf Schritte später war ich aus dem Pulk heraus und huschte den rechten Gang Richtung Südturm hinunter. In den Bereich verirrte sich so gut wie niemand mehr, immerhin war der Südturm vor zwei Jahren komplett in sich zusammengestürzt. Er hatte dabei netterweise einen derartigen Schutt- und Geröllhaufen hinterlassen, dass sich unsere Angreifer nicht hatten hindurchquälen können. Seitdem waren die Angriffe von dieser Seite seltener geworden, bis sie ganz ausblieben.
Ab da besuchte ich den einsamen Südturm, wann immer ich allein sein wollte. Auf einer halb eingestürzten Aussichtsplattform hatte ich mir eine Art Lager gebastelt, bestehend aus Fellen, zwei Kerzen und ein paar Pflanzen. Mein ganz persönlicher, geheimer Garten. Sogar ein Dach gab es, gebildet aus Trümmerstücken und dem schräg stehenden Südturm.
Leise vor mich hin pfeifend verließ ich den Gang, kletterte über eine halb eingefallene Mauer und balancierte zwei Stege entlang, um zu meiner Plattform zu gelangen. Dabei lauschte ich auf die so vertrauten Geräusche des Krieges.
Offenbar beschossen die Tul Curragh wie immer die dritte Festungsmauer. Die hielt jedoch seit zwei Jahren stand, magisch verstärkt und von den fleißigen Puk wieder geflickt. Ohne die Gnome und unsere Kriegsmagier hätten wir schon längst einpacken können.
In Gedanken machte ich es mir bereits unter dem Farnbusch bequem, erstarrte jedoch, kaum dass meine Zehen die Plattform berührten. Mein Blick fiel auf meine Felle, die normalerweise ordentlich übereinandergestapelt in einer Ecke lagen. Jetzt allerdings waren sie wie ein Teppich ausgebreitet – und ein Mann saß darauf.
Ich starrte ihn entgeistert an und ließ fast die Breischüssel fallen. Im letzten Moment packte ich fester zu, bewegte ansonsten aber keinen Muskel.
Auch Diamad und Fluh richteten sich auf, musterten den Fremden.
Der saß im Schneidersitz auf meinem Lieblingsfell und blickte uns so erhaben entgegen, als sei er der Herr im Hause hier.
»Wer bist du und was willst du und warum sitzt du auf meinen Fellen?«, eröffnete ich umgehend das Gespräch, nachdem ich ein paar Wortfetzen aus meinem entgeisterten Gehirn gefischt hatte.
Er zog eine Augenbraue hoch und blickte hinunter auf seine flauschige Unterlage. »Ich nahm an, dass diese mottenzerfressenen Fetzen herrenlos sind«, sagte er trocken. Seine Stimme klang überraschend warm, angesichts der Tatsache, dass er eindeutig ein Fy war.
Ein Magier der Kriegerkaste.
Zugegebenermaßen war ich noch nie einem von ihnen so nah gewesen. Die Fy sonderten sich vom gemeinen Fußvolk ab, wohnten fernab der anderen – was vermutlich daran lag, dass sie stets in direkter Nähe ihrer Feinde lebten, also quasi im Schützengraben hausten.
Dieser hier hatte eindeutig ordentlich was abbekommen, denn sein Gesicht war über und über mit Kratzern, Schnitten und Brandwunden übersät. Ein Auge war etwas zugeschwollen, die Lippe geplatzt, das eine Ohrläppchen weggefetzt.
Er sah zum Fürchten aus.
Trotzdem richtete ich mich auf und wich um keinen Millimeter zurück.
»Diese wundervollen Felle habe ich mühevoll im Schloss zusammengesammelt und sie hier für mich hinterlegt. Sie gehören mir. Du musst gehen.«
Der Fremde hob spöttisch eine Augenbraue und lehnte sich provokant nach hinten, sodass er jetzt halb auf meinen Fellen lag. Dabei ließ er mich keine Sekunde aus den Augen. Ganz der Krieger. »Wer es findet, dem gehört’s«, erwiderte er.
»Nicht, wenn da überall mein Name draufsteht.«
Er runzelte die Stirn, sah sich um. »Wo steht … oh!« Sein Blick war auf die mühsam eingebrannten Buchstaben gefallen, die ich in nächtelanger Arbeit in jeden einzelnen Fetzen gestanzt hatte.
»I-Punkt heißt du?«, fragte er und grinste.
»Inea«, korrigierte ich und wedelte mit der Hand. »Wenn du jetzt bitte entschuldigst. Könntest du dich trollen?«
»I. ist nicht besonders präzise, sobald es um die Markierung eines wertvollen Besitzes geht«, erwiderte er und überging meinen Einwand damit einfach. Für einen entsetzlichen Moment dachte ich, er würde weiterdiskutieren, doch schließlich stand er auf und klopfte übertrieben sorgsam das eine Fell ab, auf dem er gesessen hatte.
»Bitte schön, die Dame.« Er zwinkerte mir zu und trat zur Seite. Anstatt jedoch an mir vorbeizugehen und die Plattform zu verlassen, zog er sich den schwarzen Mantel von den Schultern und ließ ihn etwa fünf Schritte vom Fell entfernt fallen. Fassungslos beobachtete ich, wie er sich niederließ, vorbeugte und seinen Waffenstapel zu sich zog.
»Äh …«, brachte ich schwach hervor. »Schon mal was von Privatsphäre gehört? Das Schloss ist riesig. Musst du ausgerechnet hier dein Lager aufbauen?«
»Ja.«
»Ja?«
»Ja.«
Okay. Da war jemand äußerst stur. Für einen winzigen Moment erwog ich, weiter mit ihm zu diskutieren, doch dann ließ ich es bleiben. Ich war viel zu müde und zu hungrig, um mich zu streiten.
Ich sah es allerdings auch nicht ein, wieder zu gehen. Daher lief ich zu meinen Fellen, zog sie so weit wie möglich von dem Fremden fort und setzte mich. Augenblicklich sprang Diamad von meiner Schulter und hockte sich neben mich, die glitzernden Reptilienaugen wie festgeklebt auf den Fy gerichtet.
Der beachtete mich nicht und schliff seine Dolche.
Ich warf dem Mann einen nervösen Blick zu, beschloss dann aber, dass mir keine Gefahr drohte. Die Kriegsmagier hatten sich verpflichtet, uns Schlossbewohner mit ihrem Leben zu verteidigen. Da würde sich dieser hier nicht ausgerechnet auf mich stürzen. Hoffentlich.
Tapfer nahm ich meinen Löffel zur Hand, schob etwas Brei darauf und steckte ihn mir in den Mund. Sekunden später würgte ich und hustete, während sich alle meine Härchen auf der Haut aufstellten. Mir entfuhr ein so entsetzter Laut, dass der Krieger vor mir auf die Beine sprang, die Dolche zur Verteidigung erhoben.
»Was ist?«, fragte er alarmiert.
Ich keuchte und fächelte mir mit den Händen Luft zu. Meine Kehle schrie derweil verzweifelt um Hilfe. Himmel! »Das Essen …«, brachte ich mühsam hervor. Mittlerweile waren mir Tränen in die Augen gestiegen, sodass ich den Krieger nur unscharf erkennen konnte. Den verwirrten Blick erkannte ich aber dennoch.
»Was ist mit deinem Essen?«, fragte er.
»Elfenfeuer. Zu viel. Viel zu viel.«
Das Problem am Zusammenleben in unserer schönen Festung namens Tul Dalla war, dass hier die verschiedensten Völker hausten – und die aßen allesamt ziemlich unterschiedlich. Die zierlichen Feenwesen liebten scharfes Essen, was für menschliche Münder tödlich sein konnte. Offenbar war heute der Sidhekoch am Werke gewesen.
Der Krieger sah mich verdutzt an – und brach in schallendes Gelächter aus. Ich verzog missmutig das Gesicht, während ich weiter wie eine Schwachsinnige vor mich hin hechelte. Mangels Wasser war das alles, was ich machen konnte.
»Lösch die Schärfe mit dem Brot«, riet mir der Fy, doch ich schüttelte hektisch den Kopf. Der Krieger verstand. »Vielleicht auch Feenbrot? Gib her, ich teste es.« Er hockte sich neben mich, nahm mir die Scheibe aus der Hand und brach einen kleinen Krumen ab. Offenbar hatte er ebenfalls Respekt vor den Kochkünsten der Elfen.
Verdammt. Hätte ich doch noch kurz mit Mina geschwatzt. Sie hätte mich garantiert gewarnt.
Der Fy nahm den Krumen und probierte ihn vorsichtig. Aus tränenden Augen sah ich, dass er lächelte. »Keine Gefahr, du kannst es essen«, beruhigte er mich.
Ich steckte mir hastig das halbe Brot in den Mund und kaute wie eine Wahnsinnige. Verdammt, brannte das. Mein Kreislauf war kurz davor, zu kollabieren. Mir brach der Schweiß aus.
Der Fy hockte weiterhin neben mir und sah mir mit vergnügt funkelnden Augen bei meinem Todeskampf zu. Seine Kleidung roch versengt, was natürlich auch die halb weggeflämmten Augenbrauen erklärte. Die blitzenden Pupillen darunter wirkten hingegen wirklich sehr schön. Er hatte rehbraune Augen mit ein paar goldenen Fünkchen darin.
Offenbar war er ein Feuermagier.
Als er bemerkte, dass ich nicht einfach in Ohnmacht fiel, stand er auf und kam mit einer Wasserblase zurück. Wortlos hielt er sie mir hin.
»Trink.«
Ich kaute erst den Rest des Brotes, dann nahm ich einen Schluck Wasser. Hui, das tat gut. Mein Magen beruhigte sich genauso wie mein Kreislauf.
Fluh half, indem sie mir eine sanfte Brise über die Stirn streichen ließ. Sie kühlte ebenfalls meine erhitzten Wangen, gluckste dabei jedoch fröhlich vor sich hin. Auch sie fand die Aktion unfassbar komisch.
Diamad hingegen hockte stocksteif neben mir und sah mich aus panisch wirkenden Augen an. Zwischendurch warf er immer wieder hektische Blicke zum Krieger hinüber, versuchte zu verstehen, ob der etwas mit meinen plötzlichen Problemen zu tun hatte.
»Alles in Ordnung, Diamad«, beruhigte ich ihn mit schwacher Stimme. Die vor Schreck lindgrün gewordenen Schuppen des Drachens wurden wieder dunkler.
Der Fy hockte weiterhin dicht vor mir, musterte mich – und grinste blöd.
»Hör auf zu lachen«, grummelte ich. »Kann doch jedem mal passieren.«
Jetzt lachte er erst richtig, hob die Hand und klopfte mir kumpelhaft auf die Schultern. »Du bist drollig«, erklärte er kopfschüttelnd und stand auf, um sich auf seine Jacke zu setzen.
Ich ließ etwas von dem Wasser aus der Blase in die Handfläche fließen und tupfte mir damit Stirn und Nacken ab. Besser. So langsam fühlte ich mich wieder wie ein Mensch.
»Vielleicht sollten wir dieses Höllenzeug den Tul Curragh servieren. Danach wären wir sie ein für alle Mal los«, brummte ich schlecht gelaunt. Ich packte die Schüssel und warf sie mit Schwung über den Rand der Plattform. Es polterte, als sie auf dem Hang aufkam.
Der Fy legte den Kopf schief, dachte über meine Worte nach. »Ich fürchte, sie sind zu klug, als dass sie Elfenfeuer einfach so in sich hineinstopfen würden.«
Ich warf ihm einen bösen Blick zu, den er mit einem Lächeln erwiderte. Da fiel mir zum ersten Mal auf, dass er wirklich gut aussah. Zwar zermatscht, aber dennoch ziemlich hübsch.
»Du solltest deine Leute warnen«, überlegte der Fy laut. Er beschäftigte sich bereits wieder mit den Dolchen, sodass ich seine Augen nicht mehr sehen konnte. Die waren hinter den strähnigen, verstaubten schwarzen Haaren verschwunden.
»Glaub mir: Die wissen das längst. Es muss ja nur einer im Gemeinschaftssaal probiert haben – schon hat es jeder mitbekommen.«
»Nur du nicht. Du hockst hier einsam auf deinen Fellen und versuchst, arme Fy zu verscheuchen. Könnte die Strafe des Himmels gewesen sein.«
»Oder es war einfach Pech.«
Mit einem tiefen Seufzen ließ ich mich rücklings auf die Felle fallen und starrte hinauf in das Lianengeflecht, das ich gepflanzt hatte. Ich hatte keine Ahnung, ob es giftig war, aber es sah hübsch aus.
Mein Magen grummelte laut.
Weil ich dagegen ohnehin machtlos war, ließ ich ihn protestieren. So viel zur letzten Henkersmahlzeit. Wobei … es wäre ja tatsächlich um ein Haar mein letzter Bissen gewesen.
Etwas landete mit einem Plumps auf meinem Bauch, sodass ich erschrocken zusammenfuhr und mich aufsetzte. Es war ein kleiner Beutel aus Leder, der ziemlich abgewetzt und alt aussah.
»Iss«, befahl der Fy, ohne hochzusehen. »Das ist garantiert Feen-freies Trockenfleisch.«
Wären die Umstände normal gewesen, hätte ich mich jetzt sicherlich geziert – immerhin hatte ich nur zehn Minuten vorher alles darangesetzt, um den Fy loszuwerden. Doch die Umstände waren schon lange so verzweifelt, dass ich meine Skrupel über Bord warf und hektisch den Beutel öffnete.
Tatsache. Da kam Trockenfleisch zum Vorschein. Andächtig nahm ich einen Streifen hervor und hielt ihn in das schwindende Licht der Sonne.
»Wo hast du das her?«, fragte ich.
»Das ist getrockneter Tul Curragh. Da, wo ich herkomme, gibt es jede Menge davon.«
Mir fiel alles aus dem Gesicht. Mit einem Quieken ließ ich das Trockenfleisch zu Boden fallen und schleuderte den Beutel entsetzt von mir fort.
Der Fy seufzte tief. »Du glaubst auch alles.«
Mir schoss sofort die Röte in die Wangen, während Diamad interessiert am Fleischstück schnupperte. Der Krieger stand indes auf, um seinen Beutel zu holen. Der lag gefährlich nahe am Abgrund.
Schweigend verstaute er die Essensration irgendwo zwischen Hemd und Hose. Dabei schüttelte er in einer Tour den Kopf.
»Ist ja gut, ich hab’s verstanden«, ging ich genervt dazwischen. »Ich bin unfassbar dumm und du total der Held.« Ich klaubte den Fleischstreifen vom Boden auf, wischte ihn achtlos ab und biss hinein. Er schmeckte … himmlisch! Etwas zu rauchig, etwas zu herb, aber wenigstens nicht nach Fuß. Wir waren tatsächlich mittlerweile so verzweifelt, dass es das ein oder andere Mal Schuhsohle zu essen gegeben hatte.
Der Fy hatte inzwischen die ganzen Dolche, Messer und Schwerter an sich befestigt und hob seinen Mantel auf. »Pass auf dich auf, Inea«, sagte er plötzlich ernst und nickte mir zu.
Bevor er über die Planke aus meinem Leben verschwinden konnte, rief ich ihm hinterher: »Wie heißt du denn überhaupt?«
Er verharrte, zögerte. Auf der Planke stehend drehte er sich zu mir um, musterte mich. »Eamon«, erwiderte er langsam.
»Dann pass ebenfalls gut auf dich auf, Eamon.«
Wir nickten uns in dem festen Wissen zu, dass wir uns niemals wiedersehen würden. Sekunden später war die Gestalt des Fy verschwunden.
Die nächsten Tage war ich zu beschäftigt, um noch einmal an den seltsamen Krieger zu denken. Seitdem der Krieg tobte, wurden die Arbeiter immer weniger und die Aufgaben mehr. Zum Glück war Diamad zu klein, als dass er als Frontdrache Verwendung gefunden hätte. Ich befürchtete jedoch, dass uns das Schicksal irgendwann einholen würde. Bis es so weit war, säuberten wir verbissen sämtliche Kamine des Schlosses, räumten Geröll zur Seite und besserten zerstörte Treppen aus.
Die Kanonenkugeln der Tul Curragh kamen zum Glück nur selten bis zum Schloss. Die Angreifer hatten bislang nur die äußersten drei Wälle durchbrechen können. Am vorletzten bissen sie sich seit zwei Jahren die Zähne aus.
Das hieß allerdings nicht, dass wir in völliger Sicherheit lebten. In letzter Zeit schafften es immer mehr Geschosse bis zu uns – besonders die Pfeilhagel kamen näher und näher. Das war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass unser beschauliches Leben nur eine Illusion war.
Okay. So richtig beschaulich war es nicht wirklich.
Ich schuftete eigentlich den ganzen Tag – und das bei leerem Magen und müden Knochen. Im Gegensatz zu den Dorfbewohnern hatte ich aber wenigstens Arbeit und bekam was zu essen, also konnte ich mich nicht so richtig beschweren.
Eamon traf ich wieder, als die Tul Curragh zum ersten Mal ein Loch in den dritten Wall gesprengt hatten. Morgens gab es kein anderes Thema mehr, vor allem, weil die Gerüchteküche brodelte. Unsere Herrscherkaste, die Jeal, lagen dem König seit Monaten in den Ohren. Sie verlangten, dass er abdanken und einen Kriegsfürsten ernennen sollte. Dummerweise ging die Machtübergabe nur, wenn der eine Herrscher starb und die magische Verbindung mit dem Schloss an den anderen übergab.
Von daher konnte ich den König durchaus verstehen. Sich selbst zu opfern, um dem Volk zu helfen, war gewiss nicht einfach.
Der Durchbruch der Tul Curragh gab jedoch den Ausschlag. Der König musste abdanken, da waren sich mittlerweile alle einig.
In diesen Tagen sah ich ungewöhnlich viele Fy in unseren Gängen. Sie kamen ins Schloss, um ihre Stimme für den Kriegsfürsten abzugeben, denn der wurde äußerst demokratisch aus einem Pool von Bewerbern gewählt.
Ich fegte gerade den letzten Kamin des Flures aus, als ich Schritte hörte. Dankbar für jede Art von Unterbrechung, hielt ich inne und sah mich um. Mein Blick fiel sofort auf vier Fy, die zielstrebig Richtung Königssaal gingen. Und siehe da … einer von ihnen war mein Lebensretter.
Bevor ich überhaupt nachgedacht hatte, winkte ich bereits wie eine Schwachsinnige. »Eamon«, rief ich und klang erstaunlich erfreut.
Die Fy blickten mich überrascht an und warfen dem jüngsten unter ihnen verwirrte Blicke zu. »Woher kennt die dich?«, fragte ein älterer Kriegsmagier unwirsch.
Eamon antwortete nicht, sondern drängelte sich an ihm vorbei. »Geht schon mal vor. Ich komme sofort nach«, erklärte er. Die drei zögerten und warfen sich seltsame Blicke zu. Als Eamon bemerkte, dass sie nicht weitergingen, drehte er sich genervt um. »Macht schon. In fünf Minuten bin ich bei euch.«
Zu meinem Erstaunen entfernten sie sich tatsächlich, während Eamon auf mich zutrat. Jetzt, wo ich ihn herangelockt hatte, wurde ich mit einem Mal nervös. Hastig wischte ich mir die Hände halbwegs an der Schürze sauber und klopfte mir den schlimmsten Dreck vom Kleid. Ein hoffnungsloses Unterfangen.
Ich unterbrach die unsinnigen Versuche recht rasch, als Eamons Schatten auf mich fiel.
»Hallo, Inea«, grüßte er mich höflich.
Ich konnte nicht anders. Ich lächelte. »Du kennst ja sogar noch meinen Namen«, merkte ich erfreut an.
»Jemanden, der mir beinahe vor die Füße gekotzt hätte, vergesse ich nicht so schnell.«
Mein Lächeln erlosch.
Er lachte und zwinkerte mir zu. »Und diese hübschen Augen waren auch ziemlich bemerkenswert.« Sein Blick wanderte nach rechts, wo Diamad stand und nervös mit dem Schwanz peitschte. Der kleine Drache ging dem großen Krieger gerade mal bis zur Hälfte der Waden, ließ sich jedoch nicht einschüchtern. »Hallo, Diamad.«
Die Haltung des Drachen veränderte sich augenblicklich. Wer seinen Namen kannte, war ein Freund – zumindest hielt Diamad das so. Das Schwanzwedeln war jetzt eindeutig eine Begrüßung, ebenso das kehlige Knurren.
Eamon belohnte ihn mit einem kurzen Lächeln und wandte sich mir wieder zu. »Wie ist es dir so ergangen?«, erkundigte er sich. Er war definitiv deutlich besser in Konversation als ich. Mein Hirn war gerade ziemlich leer.
»Gut«, sagte ich mundfaul und schob eilig ein »Und dir?« hinterher.
»Viel zu tun. Der Durchbruch, du weißt schon …« Das Gespräch drohte zu versiegen, erst recht, weil jemand Eamons Namen rief.
»Ich komme«, rief er, rührte sich jedoch nicht. »Sehen wir uns mal wieder auf der Plattform?«, fragte er unvermittelt.
Ich blinzelte überrascht. »Äh … ich gehe da relativ unregelmäßig hin.«
»Heute Abend?«
»Vielleicht … kommt darauf an … also …« Ich begann mich innerlich zu winden, gleichzeitig hüpfte mein Herz vor Freude. Tief durchatmend straffte ich mich, gab mir einen Ruck. »Ich versuche zu kommen.«
»Das klingt doch gut. Wenn du brav bist, bringe ich auch etwas Trockenfleisch mit.«
»Willst du mich gerade mit Essen ködern wie einen räudigen Hund?«
»Nicht wie einen Hund … eher wie … hm. Na gut, vielleicht ist die Bemerkung nicht ganz angebracht gewesen. Aber mit Speck fängt man Mäuse, nicht wahr?«
Ich kniff die Augen zusammen. »Es wird nicht besser. Bis gerade eben war ich versucht zu kommen, aber je länger du redest, desto …«
»… bis später«, unterbrach mich Eamon hastig. Er zwinkerte mir wieder so verdammt charmant zu, genau wissend, dass ich es ihm durchgehen lassen würde. Offenbar hatte ich hier einen Herzensbrecher vor mir. Er winkte, nickte Diamad zu und rannte den Gang hinunter. Der Rufer von vorhin klang jetzt deutlich ungeduldiger.
Fluh löste sich von ihrem Beobachtungsposten und schwebte neben meinen Kopf. Wenn ich genau hinsah, konnte ich ihre Drachengestalt schemenhaft erkennen, und wenn ich nicht irrte, schüttelte sie ihr Haupt. »Was?«, fragte ich genervt. Sie verdrehte die Augen und flog in den Kamin, um die restlichen Ascheflöckchen hinauszupusten.