cover
Titel
Boyens Buchverlag

 

Für Sandra.
Für immer ... und immer wieder.

- 1 -

„KOMM SCHON, DU Feigling!“

Der Ruf gellte über das Wasser, und Hark wusste, dass es keine weitere Aufforderung für ihn geben würde. Wenn er jetzt nicht spurte, war er raus. Eine ganz einfache Logik.

Er stand am Ufer, blinzelte gegen die Sonne und fasste den Entschluss, es zu wagen. Er griff nach dem dürren Ast, den er sich mühsam aus dem Gehölz der Steilküste gebrochen hatte und trat auf das Eis hinaus.

Die Ostsee war nicht komplett zugefroren, doch am Ufer hatten sich krustige Schollen gebildet, die teilweise vom kalten Wasser unterspült wurden. Mit aller Kraft stampfte er darauf herum – längst nicht so geschickt, wie es Sascha und Stefan kurz zuvor getan hatten, doch immerhin mit der entsprechenden Prise Glück. Mit einem trockenen Knacken löste sich eine etwa anderthalb Quadratmeter große Eisfläche vom Ufer und wurde sofort vom Sog des zurücklaufenden Wassers erfasst. Hark erschrak, als er erkannte, wie schnell sich die Kluft zwischen ihm und seinem schneeweißen Floß verbreiterte. Er gab sich einen Ruck und sprang auf die Eisscholle. Beinahe wäre er durch den Schwung ausgeglitten, und der Ast fiel ihm aus der Hand. Doch er hatte zum zweiten Mal Glück: Er blieb auf den Beinen, und seine improvisierte Stange landete auf der Eisscholle. Bevor sie ins Wasser rollen konnte, hatte Hark sie gepackt. Seine Finger waren rot vor Kälte und fast ohne Gefühl, doch niemals hätte er zugegeben, dass ihm das etwas ausmachte. Er wollte dazugehören. Und das hier war seine letzte Chance. Wenn man zehn Jahre alt war, wusste man das mit absoluter Sicherheit.

Hark packte die Stange und tauchte sie ins flache Wasser. Er stieß sich vom Ufer ab, um zu den anderen zu gelangen, die weiter draußen bereits auf die Fahrrinne zusteuerten.

Er balancierte sein Gewicht aus, sodass er einen sicheren Stand hatte und rasch vorwärts kam. Die Distanz zu den anderen wurde rasch kleiner. Jetzt hatten sie ihn gesehen, und allein das erfüllte Hark mit Stolz. Er spürte, wie ihm unter der Wollmütze warm wurde, und er hatte das Verlangen, den Schal, der nass von seinem schnell gehenden Atem war, fortzureißen, doch er war zu sehr damit beschäftigt, den richtigen Kurs zu halten.

Inzwischen tauchte die Stange weit tiefer ins Wasser. Bereits zwei Drittel hatten sich nass und dunkel gefärbt.

Fast hatte er die beiden anderen erreicht. Nur noch zwei Meter trennten ihn von den beiden Jungen, die kurz innehielten und zu ihm hersahen. Hark lachte laut und wollte ihnen etwas zurufen, als sein Blick kurz den Boden der Eisscholle streifte. Etwas bewegte sich darunter. Ein dunkler Schatten. Zu spät begriff er, dass es sich dabei um das Wasser der Ostsee handelte, die durch das zentimeterdünne Eis schimmerte. Im gleichen Augenblick brach die Scholle beinahe genau in der Mitte und Hark vollführte einen schmerzhaften Spagat. In seiner Verzweiflung klammerte er sich an die Stange, als die beiden Hälften des Eises unter ihm wegdrifteten.

Jemand lachte laut und meckernd.

Hark schrie auf. Entsetzen und Todesangst machten sich in ihm breit und wuchsen in rasendem Tempo zu einem brüllenden Ungetüm heran. Dann kippte er vornüber und tauchte in die eiskalte Ostsee.

Seine Schreie verstummten, kaum dass das dunkle Wasser über seinem Kopf zusammengeschlagen war 

Hark blinzelte die Erinnerungen fort und schirmte seine Augen mit der Hand gegen die Mittagssonne ab. Sein Blick wanderte für einige Sekunden über die Ausläufer der Flensburger Förde. Drüben, auf der anderen Seite: Sonderburg – zum Greifen nah, nur fünfzehn Minuten entfernt, wenn man ein gutes Boot besaß. Schroffe Küsten, grüne Hügel und Felder; genau wie hier.

Nicht weit von Hark entfernt, dümpelte ein kleiner Fischkutter. An Bord nahm er die Bewegungen von zwei Männern wahr, die dabei waren, ihre Netze einzuholen.

Weiter draußen, in der Fahrrinne, zog gerade ein größerer Kahn vorbei, Richtung Flensburg. Das gemächliche Brummen und Tuckern der Motoren drang bis hierher.

Hark wandte sich vom Wasser ab, das seichte Wellen gegen einen Strand spülte, der von faustgroß geschliffenen grauen Steinen übersät war, die ihn an manchen Stellen für Wanderer nahezu unpassierbar machten.

Wie lange war es her, seitdem er das letzte Mal hier unten gewesen war? Er dachte einen Moment lang ernsthaft über diese Frage nach, bevor er den Versuch abbrach. Er wusste es nicht. Und was spielte es für eine Rolle? Er war kein Heimkehrer. Noch heute würde es ihn wieder fortziehen, zurück in die Stadt, die er kennen und lieben gelernt hatte.

Hark schob die Gedanken beiseite wie ein lästiges Insekt und setzte seinen Weg fort. Zu seiner Rechten erhob sich die Steilküste mit ihren grün bewachsenen Hängen, die stellenweise durch kahle, lehmige Abschnitte unterbrochen wurden. Hier und da ragte eine Buche schräg in den Himmel – ein Opfer der stetig nachgebenden Erdmassen, die jährlich von oben abrutschten.

Hark bog das Geäst eines im Wasser liegenden Baumes auseinander und schlüpfte hindurch, immer darauf bedacht, sich keine nassen Füße zu holen. Vor ihm tauchte das alte Fischerhaus im Schatten der Küste auf. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass es früher zur Seeseite hinaus schon ein Fenster gehabt hatte. Fast war er versucht, an das kleine, aus Natursteinen gebaute Haus heranzutreten, um durch die leicht staubigen Scheiben zu sehen. Das Haus hatte eine leise Faszination auf ihn als Kind ausgeübt, weil es scheinbar immer verschlossen war und sich nie jemand dort gezeigt hatte. Genau wie jetzt. Einige Dinge änderten sich nie.

Die Männer auf dem Wasser waren mit ihrer Arbeit fertig. Der Motor des Kutters gab ein dunkles Knurren von sich, und das Boot entfernte sich gemächlich in Richtung der nächsten Markierung.

Hark stieg die drei Zementstufen zur kniehohen Mauer hinauf, die im rechten Winkel zum Wasser verlief und mit der Befestigung des Hauses verbunden war. Er verharrte einen Moment, während der aufkommende Wind an seiner Jacke zerrte, und hielt Ausschau nach der Treppe, die die Küste hinauf führte. Hark entdeckte sie in etwa fünf Metern Entfernung, hinter einigen ausladenden Ästen.

Der Soldatenstieg, wie dieser Weg nach oben genannt wurde, war ein kleiner Pfad, dem während des Deutsch-Dänischen Krieges eine besondere Bedeutung zugekommen war, als österreichische und preußische Soldaten gemeinsam hier herunter und schließlich über die zugefrorene Förde marschiert waren. Über die Jahre musste er mehrfach ausgebessert und befestigt worden sein.

Hark nahm die ersten Stufen und tauchte ein in die Schatten, die von hohen Bäumen und letztlich von der Steilküste selbst geworfen wurden. Wieder fiel ihm die Stille auf. Das Wasser lag hinter ihm; das Geräusch der murmelnden Wellen wurde von dem Mantel des verflochtenen Geästs um ihn herum abgeschirmt.

Die Stufen der Treppe bestanden aus einfachen Brettern, die in den lehmigen Boden eingeschlagen und mit je zwei Bolzen fixiert worden waren. Hark widerstand der Versuchung, sie zu zählen, so wie er es vielleicht als Junge getan haben mochte. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Alles lag so weit zurück.

Das Haus lag hinter einem brusthohen Maschendrahtzaun, der an mehreren Stellen gerissen war. Von dem Gebäude selbst war kaum etwas zu sehen; es war rundherum von einem Gerüst umzingelt, das mit einer Schutzfolie umspannt worden war.

Hark schätze die Entfernung, die das Haus vom Abgrund der Steilküste trennte, auf etwa sechs bis acht Meter, keinesfalls mehr. Er fragte sich, wie lange die Natur benötigen würde, um aus diesem vergleichsweise jämmerlichen Bauwerk einen unansehnlichen Haufen Geröll zu machen. Um genau dies herauszufinden, war er schließlich hier, man hatte ihn eigens dafür hierher kommen lassen.

Ein seltsames Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Etwas, das er nicht erwartet hatte und das auch nicht hierher gehörte. Es stammte von einer Heckenschere, wenn ihn nicht alles täuschte. Sollte Hoffmann die Wartezeit für ein wenig Gartenarbeit genutzt haben? Aber jetzt im Winter und zudem an einem Haus, das nicht sein eigenes war?

Nein, dachte Hark. So einer würde sich ganz bestimmt nicht selbst die Hände schmutzig machen. Hoffmann gehörte eindeutig zu den Menschen, die schneiden ließen.

Hark hätte das Haus auf der Waldseite umrunden müssen, um zur Auffahrt zu gelangen, entschied sich aber dafür, abzukürzen und den direkteren Weg durch eine der Lücken im Zaun zu nehmen. So gelangte er direkt auf das Grundstück, von dem aus man einen einmaligen Blick auf die sonnenbeschienene dänische Küste hatte. Einmalig, dachte Hark, aber nicht unbezahlbar. Ein trockener Zweig knackte unter seinem Schuh, als Hark sich von der Küste abwandte und auf das Haus zutrat. Beinahe im selben Augenblick hörte das schneidende Geräusch auf.

Hark reckte den Hals, doch es war niemand zu erkennen. Wer immer hier war, musste sich auf der anderen Seite befinden. Er wusste später nicht mehr, was es gewesen war, doch irgendetwas ließ ihn in diesem Moment nach links blicken, wo das Haus unter seiner Haube verborgen lag. Anfangs dachte Hark, es wäre der Wind gewesen, der das lose Ende der Folie zu fassen bekommen hatte und es mal in die eine, mal in die andere Richtung flattern ließ. Dann kam ihm die Erkenntnis, dass etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Hinter der nur halb durchsichtigen Folie zeichnete sich der Schatten eines Menschen ab. Und er hatte sich in dem Moment bewegt, in dem Hark seinen Blick über das Gerüst schweifen ließ. Jetzt stand er still. Wartete.

„Herr Hoffmann?“ Hark hatte mit kräftiger Stimme gerufen, aber seine Worte klangen hier oben auf seltsame Weise fehl am Platz.

Niemand antwortete. Dennoch musste der Kerl ihn gehört haben, überlegte Hark, denn der Schatten verschwand von einem Augenblick auf den anderen. Die Bewegung wirkte fließend und nicht menschlich, und obwohl Hark genau wusste, dass dieser Eindruck durch die milchige Folie zustande kam, fröstelte er. Für einen Moment wusste er nicht, was er tun sollte.

Irgendwo waren Schritte zu hören. Jemand bewegte sich über das Gerüst. Hastete über das Gerüst. Hark fragte sich, warum Hoffmann es plötzlich so eilig hatte und trat einen Schritt auf das Gebäude zu. War es überhaupt Hoffmann gewesen? Was hatte ihn auf diesen Gedanken gebracht, lediglich die Tatsache, dass sie beide hier einen Termin hatten?

Hark wusste plötzlich, dass er den Fremden nicht mehr zu Gesicht bekommen würde, dazu bedurfte es nicht einmal mehr des aufheulenden Motors, der plötzlich irgendwo hinter dem Haus laut wurde.

Zwei oder drei Krähen wurden aus den umstehenden Bäumen aufgeschreckt und stiegen wild protestierend in die Luft. Hark beachtete sie nicht. Etwas, von dem er nicht wusste, was es war, veranlasste ihn, sich nach rechts zu wenden, um zur Vorderseite des Hauses zu gelangen. Dorthin, wo der Wagen geparkt gewesen sein musste.

Hark roch die letzten Spuren von Abgasen und Benzin, die in der Luft lagen. Eine Wahrnehmung, die ihm später noch lange im Gedächtnis blieb, die sich in seinem Hirn eingebrannt hatte als Ereignis, das unmittelbar vor der schrecklichen Entdeckung stattfand.

Die Frau lag auf dem Rücken, ihre nackten Beine leicht angewinkelt, sodass sie den Eindruck erweckte, sie würde jeden Moment zur Seite kippen. Was sie nicht tat, denn Hark erkannte sofort, dass sie nie wieder zu einer Bewegung fähig sein würde. Die Frau, die vor ihm auf einer Bauplane lag, war tot. Hark wusste es bereits, noch ehe er sich ihr auf fünf Schritte genähert hatte.

- 2 -

MEHRERE SEKUNDEN VERSTRICHEN, wurden zu Minuten, die Hark wie eine halbe Ewigkeit vorkamen. Als er sich endlich zu der Toten hinunterbückte, zitterten seine Hände und sein Atem ging schneller.

Er roch etwas Metallisches, etwas, das noch warm und rot aus dem Körper der Frau sickerte: Blut. Es bildete in den Mulden der Folie kleinere Lachen. An einer Stelle bahnte sich ein Rinnsal zum äußeren Rand. Hark beobachtete den schweren Tropfen, wie er sich in das karge Gras verflüchtigte.

Es handelte sich um eine Verletzung an der rechten Hand, das war selbst für ihn als Laien auf den ersten Blick erkennbar. Aber ebenso klar war es, dass diese Wunde kaum den Tod der Frau verursacht haben konnte.

Das erste Mal sah er die Tote an. Sie sah nicht aus, als ob sie schlafen würde, im Gegenteil, sie wirkte mit ihren aufgerissenen Augen und dem verzerrten Mund so, als würde sie ihn anklagen. Warum bist du nicht früher gekommen?

Ihr langes, braunes Haar war in Unordnung geraten, ihre Wimperntusche war verwischt, vermutlich durch ihre Tränen, von denen noch immer eine in ihrem linken Augenwinkel glitzerte.

Erwürgt, dachte Hark. Der Gedanke war plötzlich da, kam wie aus dem Nichts und nistete sich in seinem Kopf ein.

Der kreisrunde rote Streifen, der um den Hals der jungen Frau verlief, erzählte einen Teil der Geschichte, die sich erst vor kurzem hier abgespielt haben musste.

Hark richtete sich auf, blickte sich noch einmal um. Dann öffnete er seine Jacke und fingerte nach seinem Handy. Die Innentasche war leer. Natürlich war sie das, denn Hark hatte aus dem Auto heraus noch mit Dirk Hoffmann telefoniert und das Gerät nach dem Gespräch in die Mittelkonsole seines Wagens gelegt, wo es sich jetzt noch immer befand.

„Verflucht“, zischte Hark. Der BMW stand auf dem kleinen Parkplatz in Westerholz, direkt neben dem Imbiss, wo er vor seinem Strandspaziergang noch eine Currywurst gegessen hatte. Bis dorthin waren es zu Fuß mindestens zwanzig Minuten. Zu weit, zu lange.

Hark zog den Reißverschluss seiner Jacke zu und wandte sich ab, nicht ohne noch einmal einen letzten Blick auf die Leiche zu werfen.

Die Tote lag unverändert da, die Beine angewinkelt, den Mund wie zu einem stummen Schrei geöffnet.

Hark drehte den Kopf zur Seite. Er setzte sich in Bewegung, überquerte das Grundstück und stieß die kleine Holzpforte auf, die nur angelehnt war. Von dort lief er den Waldweg entlang, immer schneller, bis er am Ende rannte.

Er folgte dem gewundenen Pfad, über eine Lichtung hinweg, bis er an einen breiteren Weg kam, der allem Anschein nach hin und wieder auch von Traktoren befahren wurde.

Mehr als einmal drohte er, in dem Matsch und Dreck auszurutschen. Nach etwa drei Minuten ging der Waldweg in eine asphaltierte Dorfstraße über. Zu seiner Linken befand sich ein kleiner Löschteich, über den sich eine dünne Eisschicht zog.

Auf der rechten Seite kam ein Haus in Sicht. Der Hof der Packulats. Wenn es denn noch ihr Betrieb war, dachte Hark. Aber warum sollte sich hier draußen je etwas ändern?

Hastig überquerte er den Hofplatz, auf dem zwei Autos standen. Ein altersschwacher Mercedes und ein aufgemotzter VW Golf mit abgedunkelten Heckscheiben.

Hark rannte zwischen den geparkten Fahrzeugen hindurch, auf die Haustür des Reetdachhauses zu. Er betätigte mehrfach die Klingel. Ungeduldig hämmerte er zusätzlich mit der Faust gegen die altersschwache, gelb getönte Glasscheibe.

Endlich kam jemand. Hark erkannte schemenhaft die Umrisse einer Gestalt. Ein breitschultriger Mann in Latzhose und grünem Arbeitshemd öffnete und starrte den Besucher grimmig an. „Ja?“

„Kann ich bei Ihnen telefonieren?“, fragte Hark kurz angebunden. „Es ist sehr dringend. Da hinten im Wald liegt eine Tote.“ Hark deutete in die Richtung, aus der er gekommen war.

Er hatte damit gerechnet, dass Wilfried Packulat, an den er sich dunkel erinnern konnte, beiseite treten würde, doch den Gefallen tat ihm der Landwirt nicht. Im Gegenteil, er bäumte sich auf, beinahe so, als würde er einen Angriff erwarten.

„Ich habe kein Handy dabei“, startete Hark einen neuen Versuch. „Und da hinten bei dem Waldhaus habe ich vor ein paar Minuten eine Leiche entdeckt. Wir müssen die Polizei verständigen. Bitte!“

Endlich reagierte der schwerfällige Mann. Er wich einen Schritt zurück und öffnete die Tür so weit, dass Hark in den schmalen Hausflur eintreten konnte.

„Eine Tote?“, fragte Packulat in einem Ton, als ob man ihn gerade unvermittelt aus dem Tiefschlaf gerissen hätte. „Wer ist es denn?“

„Ich habe keine Ahnung“, erwiderte Hark, während er sich mit suchendem Blick nach dem Telefon umsah.

Packulat deutete wortlos auf eine Bauernkommode, die neben dem Durchgang zum Wohnzimmer stand. Darauf befand sich noch ein alter Wählscheibenapparat, von dem Hark annahm, er sei längst Geschichte.

Ohne zu überlegen nahm er den Hörer ab und wählte den Polizeinotruf. Der anonymen männlichen Stimme meldete er, was er gesehen hatte. Er wurde gebeten, die Nummer der Packulats durchzugeben und sich selbst in der Nähe aufzuhalten.

Hark legte nachdenklich den Hörer auf die Gabel zurück. Noch immer ging sein Puls schneller als normal, und das war nicht nur auf das Laufen zurückzuführen.

„Hark? Bist du das?“

Der Angesprochene drehte sich um. Er hatte kaum wahrgenommen, dass eine etwa sechzigjährige Frau in altmodischer Kittelschürze aus dem Wohnzimmer getreten war und ihn aus müden Augen verwundert ansah.

„Hallo Isolde“, antworte der junge Mann spröde.

„Was höre ich“, fragte sie weiter, „da liegt eine Tote im Wald? Was ist denn passiert?“

„Ich weiß es nicht“, gab Hark zurück. Für einen Moment dachte er an den Schatten unter der Baufolie, aber das waren keine Details, die er hier und jetzt preisgeben wollte.

„Du hast sie gefunden? Was machst du denn überhaupt hier?“

Hark wollte antworten, doch Wilfried Packulat kam ihm zuvor. „Du kennst ihn?“, fragte er argwöhnisch.

Isolde Packulat schenkte ihrem Mann einen Blick, der eine nicht geringe Portion Unverständnis enthielt. „Das ist doch Hark – Lisas und Norberts Sohn!“

Packulat musterte den Besucher erneut und kratzte sich demonstrativ am Kopf. „Ist lange her, dass man dich hier gesehen hat.“ Die Worte hatten nicht eben freundlich geklungen, und Hark war klar, dass sie auch nicht so gemeint gewesen waren.

In diesem Augenblick schlug im Obergeschoss des Hauses eine Tür zu. Geräusche näherten sich. Jemand kam mit eiligen Schritten die Treppe herunter, die in den Flur mündete.

„Was ist denn hier los?“, fragte der dunkelblonde, eher schmächtig gebaute Mann, der auf der letzten Treppenstufe stehenblieb und von einer Person zur anderen starrte.

Auf Harks Gesicht blieb der Blick des Mannes haften. „Ach, nee, mich laust der Affe. Was machst du denn hier?“

„Hallo Jürgen“, begrüßte Hark den jüngsten Sohn der Familie und wiederholte daraufhin in kurzen, knappen Worten seine Geschichte.

Der junge Packulat, der mit Anfang dreißig allem Anschein nach noch immer zu Hause bei seinen Eltern lebte, machte ein erstauntes Gesicht. „Eine Tote? Hier bei uns im Wald? Wie ist die denn da hingekommen?“

„Frag nicht so dämlich“, wies ihn sein Vater zurecht.

Der junge Mann blickte verächtlich auf den älteren, sagte aber nichts. Stattdessen trat er von der Treppenstufe herunter und knöpfte seine Jeansjacke lässig zu.

„Du fährst weg?“, fragte Packulat. „Du bist doch vor ein paar Minuten erst nach Hause gekommen.“

„Na und?“, giftete sein Sohn zurück. „Ich fahr noch mal zu Rolf rüber. Obwohl …“ Jürgen Packulat grinste, während er die Schlüssel für den Golf aus seiner engen Jeans fingerte, „… ich mir die Leiche gerne mal ansehen würde. Bekommt man ja schließlich nicht jeden Tag geboten, so was. Da muss erst unser schlauer Hark nach Hause kommen. Warum bist du denn eigentlich hier? Laufen die Geschäfte in Hamburg nicht?“

Der alte Packulat wollte auf seinen Sohn losgehen, doch seine Frau packte ihn entschlossen am Arm. „Lass ihn in Ruhe“, bestimmte sie entschieden. Dann wandte sie sich an Jürgen: „Und du machst, dass du heute Abend wieder hier bist. Hast du die Bewerbungen geschrieben?“

Jürgen Packulat machte einen verächtlichen Laut und riss wortlos die Tür auf, die er im nächsten Augenblick hinter sich zuknallte. Nur wenig später heulte draußen vor dem Haus ein Motor auf.

„Wir haben gerade Kaffee getrunken“, unternahm Isolde Packulat den Versuch, die Situation zu retten. „Möchtest du eine Tasse?“

Hark war eher danach, das muffig riechende Haus zu verlassen, um draußen bei einer Zigarette auf das Eintreffen der Polizei zu warten, dennoch nahm er das Angebot an und folgte der Frau, die er noch aus seinen Jugendjahren kannte und die sich seither kaum verändert zu haben schien, in ein Wohnzimmer, in dem vermutlich seit den Achtzigern kein Sessel, kein Stuhl und kein Blumentopf verrückt worden war.

Die Tapeten waren vergilbt, und die Gardinen hingen wie schwere graue Tränensäcke in den Fenstern.

Auf dem abgewetzten Couchtisch lag eine billige Fernsehzeitschrift, daneben eine Lesebrille.

Hark wurde ein Platz in einem Zweiersofa angeboten, auf dessen Sitzfläche eine raue Wolldecke ausgebreitet war.

Isolde Packulat brachte eine geblümte Tasse, in der sich Kaffee befand. Milch und Zucker standen auf dem Tisch.

Während sich die Frau in das Sofa gegenüber setzte, blieb ihr Mann in der Mitte des Raumes stehen, die Hände tief in den Taschen seiner Latzhose vergraben.

Es folgte ein Moment der peinlichen Stille, von dem Hark befürchtete, dass er nie vorübergehen würde. Dann jedoch passierten zwei Dinge gleichzeitig: Vor dem Haus wurde das Geräusch eines Motors laut. Ein Auto hielt auf dem Hof.

Im gleichen Moment näherten sich schwere Schritte durch das Haus. Johannes Packulat, der ältere Sohn des Bauernehepaars, erschien auf der Bildfläche.

Seine Füße steckten in Gummistiefeln, Johannes hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie auszuziehen.

Er trug einen alten Bundeswehrparka, der falsch zugeknöpft war. Unter seiner Nase schimmerte nachlässig weggewischter Rotz. Hark vermutete, dass der klägliche Rest noch zu der Menge gehörte, die eine lange Schleifspur auf seinem Jackenärmel hinterlassen hatte.

Johannes Packulat war siebenunddreißig Jahre alt und hatte die Schule nach der zweiten Klasse abgebrochen. Danach war er in eine soziale Einrichtung in Flensburg gekommen, die sich um ihn gekümmert hatte. Seit einigen Jahren, Hark wusste nicht mehr seit wann, lebte Johannes wieder auf dem Hof seiner Eltern.

„Mama, Papa“, rief er laut und ungestüm, „da kommt einer. Ich glaube, es ist Werner. Von der P-polizei.“

Isolde Packulat nickte Hark zu und erhob sich, während ihr Mann noch genauso da stand, wie vor einigen Minuten. Er drehte sich nachdenklich zu seinem Sohn um. Es hatte den Anschein, als wolle er ihn etwas fragen. Stattdessen atmete er tief durch und folgte seiner Frau zur Haustür, die in diesem Augenblick geöffnet wurde.

„Moin, Werner“, hörte Hark die Frau des Hauses sagen.

Es folgte ein kurzes Stimmengemurmel, danach Schritte, die sich näherten.

Hark war froh, endlich von dem unbequemen Sofa aufstehen zu können, um etwas anderes zu tun, als herumzusitzen und zu warten.

Ein leicht untersetzter Mann mit unrasiertem Doppelkinn betrat den Raum. Er trug seine schwarze Lederjacke offen, darunter kam der dunkelblaue Strickpullover der Polizei zum Vorschein. „Herr Hagendorn?“

Hark nickte und reichte dem Polizisten die Hand.

„Werner Klinger, Polizeidienststelle Langballig. Man hat mich informiert, dass Sie nicht weit von hier eine Leiche gefunden haben, ist das richtig?“

„Ja“, gab Hark zurück. „Bei dem Haus an der Steilküste.“

„Ach ja“, machte Klinger, als würde er sich jetzt erst erinnern. „Wem gehört das eigentlich jetzt?“

„Einer Frau Kielmann aus Hamburg“, antwortete Isolde Packulat. „Wir haben im Sommer ein paar Mal miteinander gesprochen.“

„Das Haus wird zur Zeit umgebaut“, ergänzte Hark. „Ich hätte mich heute dort mit Dirk Hoffmann treffen sollen.“

„Der Bauunternehmer?“, hakte Klinger nach.

Hark nickte.

„Und was ist dann passiert?“

„Hoffmann war nicht da“, erklärte Hark. „Stattdessen habe ich auf dem Grundstück die tote Frau gefunden.“

Klinger räusperte sich. „In Ordnung. Lassen Sie uns rübergehen und nach dem Rechten sehen.“

„Was ist passiert?“, fragte Johannes Packulat. Auch er hatte seine Mütze abgenommen. Das drahtige blonde Haar stand in alle Richtungen ab und verlieh seinem kantigen Gesicht ein unwirsches Aussehen.

„Nichts“, sagte sein Vater und bugsierte ihn unsanft zurück in den Flur. „Sieh zu, dass du auf dein Zimmer kommst.“

Hark beeilte sich, das Wohnzimmer zu verlassen. „Vielleicht sollten wir gleich aufbrechen.“

Klinger nickte dem Ehepaar Packulat zu und zwängte sich in dem Flur an Johannes vorbei, der ihnen nachstarrte.

Als sie vor die Tür traten, nieselte es leicht.

Klinger ging voran. Auf dem Hofplatz stand sein Einsatzwagen. „Wir gehen die paar Schritte zu Fuß“, entschied der Polizist.

Sie brauchten nicht lange, bis sie das Haus an der Steilküste erreicht hatten. Die Folie flatterte im leichten Wind, ansonsten war alles ringsum still.

Durch das kahle Geäst der Buchen bot sich ein Blick auf die Ostsee hinaus, die grau unter dem Schleierregen wogte.

Hark deutete auf die Pforte, durch die man auf das Grundstück gelangte.

Klinger nickte und trat als erster hindurch, Hark folgte ihm in kurzem Abstand. Sie bewegten sich einen kurzen, aber steilen Hang hinunter und befanden sich schließlich seitlich des Gebäudes, neben dem die Folie ausgebreitet gewesen war.

Sie war verschwunden, ebenso wie die weibliche Leiche, die darauf gelegen hatte.

- 3 -

FÜR EINEN MOMENT lang sagte Hark kein Wort. Er starrte auf die Stelle, an der die Unbekannte gelegen hatte, und für die Dauer eines Wimpernschlags war ihm so, als läge sie tatsächlich noch dort, als weigerten sich seine Augen nur, diese Tatsache anzuerkennen.

Er trat einen Schritt vor und bückte sich. Er betrachtete den lehmigen Boden, der nun mit einer glänzenden Schicht aus Nässe bedeckt war. Die wenigen Grasbüschel, die hier ihr Dasein fristeten, konnten kaum darüber Auskunft geben, ob hier vor kurzem noch ein Körper gelegen hatte oder nicht.

„So“, machte Klinger nach einer Weile. „Und wo ist sie denn nun, die Tote?“

Hark erhob sich und deutete auf die Stelle am Boden, die er gerade untersucht hatte. „Da hat sie gelegen. Bis vor einer Dreiviertelstunde noch.“

Klinger rieb sich die Nase, ließ seinen Blick über das Gelände schweifen, bevor er sein Gegenüber ansah. „Herr Hagendorn, nehmen Sie mir meine Frage nicht übel, aber haben Sie etwas getrunken?“

Hark stemmte die Hände in die Hüften und lachte kurz und hart auf. „Ich bin Baugeologe. Ich habe einen verantwortungsvollen Job und kann mir keinen Alkohol im Dienst leisten, vermutlich ebenso wenig wie Sie.“

Klingers Gesichtszüge verhärteten sich. „Fantastisch, dann sind wir uns ja einig, zumindest was diesen Punkt angeht. Und wie sieht es in der anderen Sache aus, bleiben Sie bei Ihrer Aussage, dass Sie hier an dieser Stelle eine Tote gesehen haben wollen und nicht etwa eine Person, die sich eventuell einen Scherz mit Ihnen erlaubt hat?“

„Sie hat geblutet“, gab Hark zurück. „Eine Verletzung an der rechten Hand. Es war nicht zu erkennen, wo genau die Wunde war.“

Klinger seufzte. „In Ordnung. Ich werde Sie jetzt mit zur Dienststelle nehmen. Da setzen wir beide ein Protokoll auf. Ich nehme doch an, dass Sie wenigstens eine Beschreibung von dieser Frau abgeben können?“

Hark spürte, wie sich irgendwo in seinem Innern Zorn breitmachte. „Ich denke, dass ich sie ziemlich genau beschreiben kann.“

Sie verließen das Anwesen und legten den Weg zum Hof der Packulats schweigend zurück.

Dort angekommen stiegen sie in den Wagen. Klinger wendete auf dem Hof und jagte in hohem Tempo die verlassene Dorfstraße entlang.

Bis zur Dienststelle in Langballig waren es nur wenige Kilometer, für die sie gerade mal sieben Minuten benötigten.

Klinger zeigte sich in seinem Büro von seiner unangenehmsten Seite: wortkarg und abweisend. Wenn er sprach, tat er dies von oben herab und bemühte sich, jedes zweite Wort zynisch klingen zu lassen.

Die Strecke nach Westerholz legte Hark zu Fuß zurück. Er stieg in seinen Wagen, angelte nach dem Handy und sah auf das Display: vier Anrufe in Abwesenheit. Alle stammten von einer Nummer.

Hark betätigte die Wahltaste und wartete das Freizeichen ab.

Dirk Hoffmann meldete sich bereits nach dem zweiten Klingeln. „Ah, Hagendorn, wo stecken Sie?“

Hark verzog das Gesicht zu einem humorlosen Grinsen. „Die Frage lautet eher, wo waren Sie?“

„Ja, ich weiß, ich habe unseren Termin verpasst“, kam es aus der Leitung. „Zwischen Schuby und Tarp ist die A7 komplett gesperrt, und dreimal dürfen Sie raten, wer mitten drin steckt.“

„Dann waren Sie noch gar nicht beim Haus?“, wollte Hark wissen.

„Nein, ich bin immer noch unterwegs. Vor einer halben Stunde ist der Rettungswagen durch die Gasse gekommen. Ich denke, dass sich das Ganze noch etwas hinziehen wird.“

„In Ordnung“, antwortete Hark und sah auf die Uhr. „Es wird gleich dunkel, kennen Sie das Gasthaus in Grundhof?“

„Natürlich.“

„Ich werde dort auf Sie warten. Es gibt da etwas, das Sie wissen sollten.“

Hark trennte die Verbindung und blieb für mehrere Minuten regungslos in seinem Wagen sitzen. Er sah auf die Ostsee hinaus. Am Strand gingen zwei Spaziergänger vorbei, die ihre Jacken fest zugezogen hatten und vergeblich versuchten, einen viel zu kleinen Regenschirm gegen den Wind zu stemmen.

Hark sah durch die Wanderer hindurch und hing seinen Gedanken nach. Das erste Mal in seinem Leben war er mit einem toten Menschen in Berührung gekommen. Ein eigenartiges Gefühl, auf das er nicht vorbereitet gewesen war.

Aber wann bekam man schon die Gelegenheit, sich auf eine Situation dieser Art einzustellen?

Hark drehte den Zündschlüssel herum und ließ den Wagen an. Langsam ließ er den BMW zurückrollen und lenkte ihn den steilen Haffberg hinauf. Oben angekommen, bog er rechts Richtung Langballig ab, überquerte die B199 und sah schon nach wenigen Minuten den Turm der Grundhofer Kirche über die Landschaft ragen.

Er erinnerte sich an die Zeit, in der er mit seinen Eltern am Nachmittag des Heiligen Abend den Gottesdienst in der Marienkirche besucht hatte. Das aus Felssteinen errichtete Gotteshaus war bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen, und Hark hatte zwischen seiner Mutter und seinem Vater gesessen. Er war erfüllt gewesen von dem sicheren Gefühl, behütet zu sein. Eine unbeschwerte, sorgenfreie Zeit, die für immer vergangen war.

Direkt gegenüber vom Kirchengelände befand sich das Gasthaus mit dem kleinen Parkplatz zur Linken, auf dem er den Wagen ausrollen ließ.

Inzwischen war es dunkel geworden, und Hark fror. Er betrat die Gaststube, die von einem langen Tresen dominiert wurde.

Der Wirt sah von seinem Gespräch auf, das er mit einem bärtigen Mann führte, der ihm auf einem Barhocker gegenübersaß und sich an einem Glas Bier festhielt. Jetzt sah auch der Bärtige herüber, wandte sich dann jedoch sofort wieder seinem Gesprächspartner zu.

Der Wirt, ein stämmiger Kerl mit grauem Haar, nickte dem neuen Gast zu.

Hark steuerte den Nebenraum an, der Platz für eine kleine Anzahl Tische bot, von denen momentan nur einer von einem älteren Ehepaar besetzt war.

Der Baugeologe setzte sich in die gegenüberliegende Ecke ans Fenster und betrachtete, wie die Regentropfen von außen dagegen prasselten.

An diesem Abend des einundzwanzigsten Januar ging es auf achtzehn Uhr zu, als ein sichtlich genervter Dirk Hoffmann den Raum betrat, sich kurz umsah und dann zielsicher auf Harks Tisch zusteuerte. Er trug eine dicke, regenfeste Jacke mit ausladender Kapuze, die ihn dennoch nicht davor bewahrt hatte, dass seine blonde Mähne ihren geföhnten Halt verlor.

Hoffmann legte eine schwarze Aktenmappe auf die Fensterbank und reichte Hark seine Hand über den Tisch. „Herr Hagendorn, ich grüße Sie.“ Der Bauunternehmer zog sich einen Stuhl heran und ließ sich schwer darauf fallen. „Was für eine Odyssee“, ächzte er.

Es war nicht das erste Mal, dass sie aufeinandertrafen. Im Laufe der letzten drei Jahre hatten sie mehrfach beruflich miteinander zu tun gehabt.

Hark konnte nicht gerade behaupten, dass ihm der Geschäftsmann sympathisch war, aber das war genau genommen kaum jemand, mit dem er in seinem Arbeitsleben in Kontakt stand.

Hoffmann erzählte die Geschichte seiner Anreise zum zweiten Mal, und Hark ertappte sich bei dem Gedanken, welches Gesicht sein Gegenüber machen würde, wenn er ihn mit den jüngsten Ereignissen konfrontierte.

„Eine Leiche?“

Dirk Hoffmann hatte die Worte lauter gesagt, als beabsichtigt und zuckte selbst bei ihrem Klang zusammen.

Die ältere Frau und ihr Begleiter sahen kurz zu ihnen herüber, bevor sie sich wieder ihrem Dessert zuwandten.

Hoffmann beugte sich zu Hark über den Tisch und nahm eigens dafür sein Bierglas beiseite, das ihm der Wirt vor wenigen Minuten gebracht hatte.

„Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?“

Hark nahm einen Schluck von seinem Hefeweizen und stellte das Glas auf den Tisch zurück. „Ich fürchte doch. Es war eine junge Frau, schätzungsweise Anfang dreißig. Sie hat direkt neben dem Haus auf dem Grundstück gelegen. Auf einer Folie.“

Hoffmann sackte die Kinnlade herunter. Sein Blick wanderte unstet im Raum umher, bevor er wieder zu Hark zurückkehrte. „Aber wie ist denn die dahingekommen? Ich meine, es ist doch niemand da oben bei dem Haus. Oder etwa doch?“

Der Bauunternehmer sah aus, als würde er angestrengt nachdenken. Hark beobachtete ihn dabei.

Verstörende Neuigkeiten, dachte er.

Hoffmann schüttelte den Kopf, als könne er damit die letzten Worte seines Gesprächspartners ungeschehen machen.

„Das will mir einfach nicht in den Schädel. Was ist denn mit ihr? Ich meine, wer ist die Frau, woher kommt sie, und was hatte sie überhaupt bei dem Haus zu suchen? Sie haben doch sicher gleich die Polizei verständigt?“

„Die war da“, antwortete Hark knapp. „Und zwar in Form eines einfältigen Beamten, der mir nicht recht Glauben schenken wollte. Ich kann es ihm allerdings auch nicht verübeln, denn als wir zu dem Haus zurückkehrten, war die Tote verschwunden.“

Hark erzählte dem Bauunternehmer nun die ganze Geschichte.

„Und ich habe gedacht, ich hätte einen aufregenden Nachmittag gehabt.“

„Ich weiß auch nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle“, fuhr Hark fort. „Aber ich dachte, Sie sollten es einfach wissen. Es ist Ihre Baustelle.“ Der Grund war natürlich nicht von der Hand zu weisen, viel wichtiger war jedoch, dass Hark jemanden gebraucht hatte, um sich das Erlebte von der Seele zu reden. Jemanden, der ihm zuhörte, der vielleicht sogar nachvollziehen konnte, was in ihm vorging. Jemand anderen als diesen Polizisten.

„Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Informationen“, nahm Hoffmann das Gespräch wieder auf. „Ich meine, immerhin bin ich tatsächlich momentan für das Haus da oben verantwortlich. Die Eigentümerin, Frau Kielmann, ist derzeit verreist. Florida, soweit ich weiß. Die kommt frühestens in zwei Wochen zurück.“

Hark blickte von seinem Bier auf und sah sein Gegenüber direkt an. „Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“

„Natürlich.“

„Glauben Sie mir diese Geschichte?“

Etwas Unerwartetes geschah: Hoffmann begann zu lachen.

„Ich muss schon sagen, Sie haben Nerven. Erzählen mir hier eine Story von einer Toten, die auf meiner Baustelle verschwunden ist, und fragen mich dann, ob ich das alles für wahr halte.“

„Tun Sie es?“

Der Bauunternehmer wurde von einer Sekunde auf die andere wieder ernst. „Ich habe wohl keinen Grund, es nicht zu tun, oder?“

„Die Polizei ist immer noch skeptisch“, gab Hark zu bedenken.

Hoffmann winkte ab. „Was wollen Sie da erwarten? Ein Mord. Himmel, damit haben die hier draußen doch so gut wie nie zu tun. Hier passiert doch nichts. Es kommt nichts abhanden und wenn doch, taucht es am nächsten Tag gleich wieder auf. Aber eine Leiche? Dafür müssen Sie den Leuten schon ein bisschen Bedenkzeit geben.“

„Es ist eine unangenehme Situation für mich“, gestand Hark nach einer Weile. „Ich weiß nicht recht, wie ich mich verhalten soll.“

„Verstehe ich absolut“, pflichtete ihm der Blonde bei. „Wenn Sie wollen, rede ich morgen noch mal mit dem Klinger. Wird vermutlich ohnehin das Beste sein. Auch wenn ich natürlich nicht viel zu der Sache beitragen kann.“

Hark fühlte sich erleichtert und auf eine unerklärliche Weise etwas besser als zuvor.

Die beiden Männer verabredeten sich für den Nachmittag des folgenden Tages, um den heutigen Termin, die Ortsbegehung und Baubesprechung, nachzuholen.

Hark verabschiedete sich von Hoffmann und verließ das Lokal. Draußen im Wagen sah er auf die Uhr. Inzwischen war es kurz nach acht. In einer halben Stunde könnte er in Flensburg sein.

Hark fasste einen spontanen Entschluss. Es war an der Zeit, Anne zu besuchen.

- 4 -

DAS HAUS LAG in der Nähe des Waldrands im Stadtteil Westliche Höhe. Ein roter Klinkerbau mit schwarzem Pfannendach, das im Licht der Straßenlaterne nass glänzte.

Hark stieg aus dem Wagen und lief über die Straße, es regnete noch immer.

Um das Haus lief eine halbhohe Steinmauer. Am vorderen Tor war eine Klingel angebracht, die Hark jedoch ignorierte.

Es war schon mindestens zwei Jahre her, dass er das letzte Mal hier gewesen war. Die kleine Gartenpforte auf der Rückseite des Grundstücks gab es immer noch, und wie immer quietschte das Ding beim Durchgehen erbärmlich.

Neben der Haustür waren zwei Klingelknöpfe angebracht. Hark wählte den unteren.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich etwas rührte. Hark trat zwei Schritte zurück und glaubte in einem der beiden oberen Fenster eine Bewegung hinter den zugezogenen Gardinen wahrzunehmen. Immerhin war jemand zu Hause.

Kurz darauf hörte er Schritte im Haus. Jemand bewegte sich ein wenig schwerfällig die Treppe hinunter.

Die Tür wurde geöffnet. In dem Spalt tauchte ein blasses Frauengesicht auf, das von langen grauen Haarsträhnen eingerahmt wurde.

„Du?“

„Hallo, Anne“, erwiderte Hark. „Darf ich reinkommen?“

Ein kurzer Moment des Zögerns. Danach wurde die Tür weiter aufgezogen.

Anne Hagendorn raffte ihren verblichenen blauen Morgenmantel enger zusammen und gab Hark ein Zeichen einzutreten. „Komm rein. Bleiben kannst Du aber nicht.“

Hark schloss die Tür hinter sich und folgte seiner zehn Jahre älteren Schwester die Treppe hinauf nach oben, wo sie zweieinhalb Zimmer bewohnte.

Anne verschwand kommentarlos in der Küche, wo Hark kurz darauf das verräterische Aneinanderschlagen zweier Glasflaschen hörte. Er drückte die Wohnungstür ins Schloss und sah sich in dem viel zu engen Flur um.

Neben der Garderobe, an der lediglich eine für diese Jahreszeit viel zu dünne Jacke hing, war ein Spiegel angebracht, an dessen Rand vergilbte Postkarten und einige wenige Fotos klebten. Kleine Relikte aus längst vergangenen Tagen, aus einer Zeit, in der Anne vielleicht noch glücklich gewesen war, so genau wollte sich Hark da nicht festlegen.

Ein Foto zeigte sie am Strand von Teneriffa, dem Fotografen zuwinkend und mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Ein Gesicht, das noch nicht von Falten zerfurcht war, eines, in dem der verdammte Teufel Alkohol noch nicht gewütet hatte. Dieser Fluch hatte erst Jahre später eingesetzt, vermutlich kurz nach dem Unfall ihres Mannes Walter. Ein Fernfahrer aus Kassel, der irgendwann in den frühen Neunzigern hier oben hängen geblieben war. Auf der A1, kurz hinter Remscheid, hatte er irgendwann ein Stau-Ende übersehen und war ungebremst in die vor ihm stehende Blechlawine gerast. Für Anne war es ein schwerer Schlag.

Hark hatte nie den Eindruck gehabt, dass die Ehe seiner Schwester glücklich verlaufen war, aber irgendetwas musste sie wohl an dem Mann gefunden haben, das ihr Halt gegeben hatte. Bis zu diesem gewissen Punkt vor acht Jahren.

Danach war zu viel passiert. Zu viele Ereignisse, zu viele Dinge, die einfach schief gelaufen waren.

Harks Blick fiel auf den zerzausten Regenschirm, der in einer einfachen roten Tonvase neben der Tür steckte. Das Gefäß hatte einen Riss, der sich vom Boden bis hinauf zum oberen Rand zog. Irgendwie war das ein Sinnbild für das Leben seiner Schwester. Es drohte auseinanderzubrechen und wurde gerade noch so von etwas zusammengehalten, das sich niemand erklären konnte. Eine unsichtbare Naht, die jedoch keine weitere Erschütterung mehr aushalten würde.

„Willst du nicht endlich reinkommen? So interessant kann mein Flur ja nun doch nicht sein.“

Hark war sich dessen nicht sicher. Er hatte eher den Eindruck, dass er bereits mehr gesehen hatte, als gut für ihn war.

Mit Hoffnungen war das so eine Sache. Hark hatte sie, jeder hat sie, verdammt noch mal. Doch als der Baugeologe die Küche betrat, wurde ihm klar, wie trügerisch die Hoffnung sein konnte. Wie hatte er nur ernsthaft annehmen können, dass seine Schwester von diesem Zeug losgekommen war?

Er hatte den Geruch der Weinflaschen doch bereits beim Betreten der Wohnung wahrgenommen.

Hier war er nun also. Umgeben von Chaos, inmitten des Lebens einer Frau, die er mal verdammt gern gehabt hatte.

Es war nicht so, dass die Küche vollkommen verdreckt war. Seine Schwester war kein Messie. Sie wusste, wo die Dinge ihren Platz hatten. Aber einige hatten ihn eben nicht. So wie der Plattenspieler mit dem Kabelbruch, der bei Harks letztem Besuch bereits die Arbeitsfläche vollkommen unnötig zugestellt hatte.

„Warum wirfst du den Krempel nicht endlich weg?“, fragte Hark, als er sich auf einen freien Stuhl setzte.

Anne folgte seinem Blick, dann schüttelte sie langsam den Kopf. „Der ist noch von zu Hause. Und ich hab doch noch die ganzen alten Platten. Weißt du nicht mehr?“