Emile Zola

 

Liebesgeflüster

 

Erzählungen

 

Impressum

Covergestaltung: Gunter Pirntke

Digitalisierung: Gunter Pirntke


2017 andersseitig.de

ISBN

9783961185153 (ePub)

9783961185160 (mobi)



andersseitig Verlag

Dresden

www.andersseitig.de


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Nas Micoulin

 

1

Im Herbst erschien regelmäßig einmal im Monat ein kleines, braungebranntes Mädchen mit zerzaustem schwarzem Haar bei Monsieur Rostand, einem Anwalt aus Aix. An ihrem Arm trug sie einen riesigen Korb voll Aprikosen und Pfirsichen, den sie kaum tragen konnte. Sie wartete unten in der Diele bis die Familie herunterkam.

»Ah, du bist es, Nah«, sagte der Anwalt. »Du bringst uns deine Ernte. Du bist wirklich ein braves Mädchen ... Und Vater Micoulin, wie geht es ihm?«

»Gut, Monsieur«, antwortete die Kleine und zeigte dabei ihre weißen Zähne.

Dann ging Madame Rostand mit ihr in die Küche und erkundigte sich nach der Oliven-, Mandel- und Weinernte. Insbesondere danach, ob es in L'Estaque geregnet hatte, jenem Küstenstreifen, an dem die Familie Rostand ihren Besitz La Blancarde hatte, der von den Micoulins verwaltet wurde. Zwar gab es dort nur ein paar Dutzend Mandel- und Olivenbäume, dennoch war die Frage nach dem Regen in diesem unter Trockenheit leidenden Lande nicht unwichtig.

»Es sind ein paar Tropfen gefallen«, sagte Nais. »Der Wein hätte Wasser nötig.« Dann, nachdem sie alle Neuigkeiten berichtet hatte, aß sie ein Stück Brot und etwas Fleisch und kehrte im Wagen eines Metzgers, der alle zwei Wochen vorbei kam, nach Hause zurück. Oft brachte sie auch Muscheln, Langusten oder einen guten Fisch, denn der alte Micoulin war öfter beim Fischen als bei der Arbeit auf dem Feld zu sehen. Kam sie während der Ferien, dann eilte Frederic, der Sohn des Anwalts, in die Küche, um ihr anzukündigen, dass die Familie in Kürze nach La Blancarde käme und trug ihr auf, Netze und Angeln bereitzustellen. Er duzte sie, denn sie hatten bereits als Kinder miteinander gespielt, während sie ihn seit ihrem zwölften Lebensjahr nur noch respektvoll »Monsieur Frederic« nannte. Jedes Mal, wenn der alte Micoulin hörte, dass sie »du« zum Sohn ihrer Herrschaft sagte, setzte es eine Ohrfeige. Aber das hinderte die beiden Kinder nicht daran, gute Freunde zu sein.

»Und vergiss nicht, die Netze auszubessern«, wiederholte der Gymnasiast. »Keine Sorge, Monsieur Frederic«, antwortete Nais, »Sie können jederzeit kommen.«

Monsieur Rostand war sehr reich. Er hatte in der Rue du College die Villa Coiron zu einem Spottpreis erworben. Dieses Herrschaftshaus wurde in den letzten Jahren des siebzehnten Jahrhunderts gebaut und hatte eine Fassade mit zwölf Fenstern und genug Zimmer, um eine ganze Bruderschaft darin unterbringen zu können. Die dreiköpfige Familie machte zusammen mit den zwei alten Dienstboten einen ziemlich verlorenen Eindruck in diesen gewaltigen Zimmerfluchten. Der Anwalt bewohnte nur die erste Etage. Bereits seit zehn Jahren suchte er vergeblich nach einem Mieter für das Erdgeschoss und für den zweiten Stock. Schließlich beschloss er, die Türen zuzusperren und zwei Drittel des Hauses den Spinnen zu überlassen. So hatte die leere und hallende Diele beim geringsten Geräusch das Echo einer Kathedrale. Und in dem gewaltigen Treppenhaus hätte leicht ein modernes kleines Haus Platz gefunden.

Am Tag nach seinem Kauf hatte Monsieur Rostand den großen Empfangssalon durch eine Wand in zwei Teile geteilt, einen Salon von acht mal zwölf Metern, der von sechs Fenstern erhellt wurde. Dann richtete er dort in der einen Hälfte sein Arbeitszimmer ein und in der anderen das seiner Angestellten. Die erste Etage hatte außerdem weitere vier Zimmer, deren kleinstes etwa fünf mal sieben Meter maß. Madame Rostand, Frederic und die beiden alten Dienstmädchen bewohnten Räume, die so hoch wie Kapellen waren. Um die Bedienung zu erleichtern, hatte sich der Advokat entschlossen, ein ehemaliges Boudoir als Küche einzurichten; denn als man noch die Küche im Erdgeschoss benutzte, kamen die Speisen immer kalt auf den Tisch, nachdem sie zuvor durch das eisig klamme Treppenhaus getragen werden mussten. Und das Schlimmste war, dass diese riesige Wohnung nur auf äußerst spärliche Weise möbliert war. Im Arbeitszimmer stand ein altes grünes Plüschkanapee und acht steifbeinige und traurige Stühle im Empirestil; ein kleines Tischchen aus der gleichen Epoche erschien in der Mitte dieses gewaltigen Raumes wie ein Spielzeug; auf dem Kamin stand zwischen zwei Vasen eine schauderhafte moderne Marmoruhr, und der rötliche, blank gescheuerte Fußboden schimmerte in hartem Glanz. Die Schlafzimmer waren noch öder. Es herrschte hier jene stille Verachtung für Behaglichkeit und Luxus, wie sie bei allen Familien, auch bei den reichsten, im Süden zu finden ist, in diesem glücklichen Sonnenland, wo sich das Leben meist im Freien abspielt. Die Rostands waren sich ganz gewiss nicht der Melancholie und der traurigen Kälte dieser riesigen Räume bewusst, deren Ödnis nur noch durch die ärmliche Sparsamkeit der Möblierung übertroffen wurde.

Dennoch war der Advokat ein überaus geschickter Mensch. Sein Vater hatte ihm eine der besten Kanzleien von Aix überlassen und er verstand es, seine Klientel mit einer für dieses träge Land seltenen Betriebsamkeit zu vergrößern. Klein, flink, mit einem spitzen Mardergesicht, war er voller Hingabe bei seiner Arbeit. Die Sorge um seinen Wohlstand beherrschte ihn vollkommen; während der äußerst seltenen Stunden des Müßiggangs, die er in seinem Klub totschlug, warf er nicht einmal einen Blick in die Zeitungen. Seine Frau dagegen galt als eine der klügsten und vornehmsten Frauen der Stadt. Sie war eine geborene de Villebonne, was ihr trotz ihrer Mesalliance eine Aura der Würde verlieh. Aber sie legte eine so übertriebene Strenge an den Tag und oblag ihren religiösen Pflichten mit einer derart engherzigen Besessenheit, dass sie über ihrer starren Lebensweise gleichsam vertrocknet war.

Frederic wiederum wuchs zwischen diesem geschäftigen Vater und dieser strengen Mutter heran. Während seiner Schulzeit war er ein ganz besonderer Faulpelz; zwar zitterte er vor seiner Mutter, aber seine Abneigung vor jeglicher Arbeit war so groß, dass er abends im Salon stundenlang die Nase in seine Bücher stecken konnte, ohne auch nur eine einzige Zeile zu lesen. Dann träumte er vor sich hin, während seine Eltern glaubten, dass er seine Hausaufgaben mache. Verärgert über seine Faulheit, steckten sie ihn schließlich in ein Internat. Da er hier aber noch weniger überwacht wurde als zu Hause, arbeitete er keineswegs mehr, sondern war vielmehr begeistert, fortan keine strengen Blicke mehr auf sich gerichtet zu fühlen. Beunruhigt durch seine allzu freien Allüren, holte man ihn schließlich wieder nach Hause unter die Fuchtel der Familie. Er beendete das Schuljahr unter so strenger Aufsicht, dass er um das Arbeiten nicht mehr herum kam: seine Mutter sah seine Hefte durch, zwang ihn, seine Lektionen zu lernen und war wie ein Gendarm ständig hinter ihm her. Dank dieser Überwachung fiel Frederic nur zweimal durchs Abitur.

Aix besitzt eine berühmte juristische Hochschule, wo sich der Sohn Rostand natürlich einschreiben ließ. In dieser altehrwürdigen parlamentarischen Stadt scharen sich Advokaten, Notare und gelehrte Juristen nicht nur um das Gericht herum. Man absolviert dort auch die Rechtswissenschaft, um anschließend in aller Ruhe seinen Kohl pflanzen zu können. Im Übrigen führte dort Frederic sein früheres Schulleben weiter, arbeitete so wenig wie möglich und versuchte den Anschein intensiven Studierens zu erwecken. Madame Rostand bedauerte sehr, dass sie ihm größere Freiheiten einräumen musste. Jetzt ging er aus, wann er wollte und war nur gehalten, sich rechtzeitig zu den Mahlzeiten einzufinden. Abends musste er um neun Uhr zu Hause sein, ausgenommen die Tage, an denen man ihm erlaubte, ins Theater zu gehen. So begann für ihn jenes Studentenleben in der Provinz, welches so eintönig aber auch so verführerisch sein kann, wenn man es nicht ganz mit Arbeit füllt.

Man muss Aix kennen, die Stille seiner Straßen, in denen das Gras wächst, die Schläfrigkeit, die über der ganzen Stadt liegt, um das öde Dasein zu verstehen, von dem das Leben der Studenten dort bestimmt wird. Jene, die arbeiten, können die Stunden über ihren Büchern totschlagen. Aber jenen, die nicht bereit sind, ihren Studien ernsthaft nachzugehen, bleiben nur die Cafés, in denen gespielt wird und gewisse Häuser, in denen man es noch schlimmer treibt. So wurde der junge Mann ein leidenschaftlicher Spieler; den größten Teil des Abends verbrachte er beim Spiel und den Rest anderswo. Die Sinnlichkeit eines gerade der Schule entkommenen Bengels, trieb ihn den einzigen Ausschweifungen in die Arme, die eine Stadt zu bieten hatte, in der jene heiratswilligen Töchter fehlen, die das Pariser Quartier Latin bevölkern. Bald reichten ihm die Abende nicht mehr aus; er stahl einen Haus-schlüssel, um auch die Nächte zur Verfügung zu haben. So vertrieb er sich glücklich seine Studienjahre.

Im Übrigen hatte Frederic begriffen, dass er als fügsamer Sohn aufzutreten hatte. Die ganze Scheinheiligkeit eines von Angst niedergehaltenen Kindes wurde ihm zur zweiten Natur. Seine Mutter war jetzt mit ihm zufrieden: er begleitete sie zur Messe, bewahrte korrekte Haltung und erzählte ihr seelenruhig die unglaublichsten Lügen, die sie seinem treuherzigen Gesicht einfach glauben musste. Und er gewann darin eine solche Fertigkeit, dass er sich niemals ertappen ließ; immer fand er eine Entschuldigung, und er dachte sich oft schon im Voraus ganz außergewöhnliche Geschichten aus, um jederzeit mit Ausflüchten bei der Hand zu sein. Seine Spiel-schulden bezahlte er mit Geld, das er von seinem Vetter geliehen hatte. Er führte darüber eine komplizierte Buchhaltung. Einmal, nach einem unverhofften Spielgewinn, erfüllte er sich sogar seinen Traum, eine Woche in Paris zu verbringen; er ließ sich dazu von einem Freund einladen, der ein Gut an der Durance besaß.

Frederic war jetzt ein hübscher junger Mann geworden, groß, mit ebenmäßigen Gesichtszügen und einem dichten schwarzen Bart. Seine Lasterhaftigkeit machte ihn, vor allem bei Frauen, überaus anziehend. Man lobte seine guten Manieren. Diejenigen, die seine Scheinheiligkeit kannten, lächelten darüber; da er aber so geschickt war, diese anstößige Seite seines Lebens zu verbergen, musste man ihm sogar noch dankbar dafür sein, dass er seine Ausschweifungen nicht öffentlich zur Schau stellte, wie es gewisse angeberische Studenten zur Empörung der Stadt zu tun pflegten.

Frederic war einundzwanzig Jahre alt geworden. Bald würde er seine letzten Abschlussprüfungen machen. Sein Vater war noch jung und keineswegs geneigt, ihm sofort die Kanzlei zu übergeben, sondern sprach davon, ihn bei der Staatsanwaltschaft unterzubringen. Er hatte Freunde in Paris, die er veranlassen wollte, eine Ernennung zum Assessor zu betreiben. Der junge Mann sagte nicht nein; niemals leistete er seinen Eltern offenen Widerstand; aber er zeigte ein feines Lächeln, hinter dem die feste Absicht stand, das sorglose Nichtstun, das ihm so sehr behagte, weiterzuleben. Er wusste um den Reichtum seines Vaters, und er war der einzige Sohn. Warum also hätte er die geringste Mühe auf sich nehmen sollen? Einstweilen rauchte er Zigarren im Gerichtshof, machte Ausflüge zu den umliegenden Amüsierbetrieben und besuchte täglich in aller Heimlichkeit gewisse Häuser, was ihn aber keineswegs hinderte, seiner Mutter zur Verfügung zu stehen und sie mit Aufmerksamkeiten zu überhäufen. Wenn ihm einmal eine besonders tolle Nacht übel mitgespielt hatte, kehrte er gerne in das große, kühle Haus in der Rue du College zurück, um sich in aller Behaglichkeit auszuruhen. Die leeren Räume, die eintönige Langeweile, die sich von den Decken gleichsam herabsenkte, vermittelten ihm eine beruhigende Frische. Dort erholte er sich und ließ seine Mutter in dem Glauben, er sei nur ihretwegen gekommen. Wenn dann Gesundheit und Appetit wiederhergestellt waren, heckte er neue Streiche aus. Kurzum, er war der beste Junge der Welt, solange man nicht an seinen Vergnügungen rührte.

Unterdessen kam Nais jedes Jahr mit ihren Früchten und Fischen zur Familie Rostand, und jedes Jahr wurde sie erwachsener. Sie war im gleichen Alter wie Frederic, nur etwa drei Monate älter. Madame Rostand sagte jedes Mal zu ihr: »Was für ein großes Mädchen du schon bist, Nais!«

Und Nais lächelte und zeigte ihre weißen Zähne. Meist war Frederic nicht da. Aber eines Tages, es war im letzten Jahr seines Studiums, wollte er gerade ausgehen, als er Nais unten im Flur mit ihrem Korb warten sah. Starr vor Erstaunen blieb er stehen. Das lange, dünne und schüchterne Mädchen, das er in der vorigen Saison in La Blancarde gesehen hatte, erkannte er nicht wieder. Nah war bildhübsch geworden, mit ihrem braunen Gesicht unter dem dunklen Schopf ihrer dichten schwarzen Haare; sie hatte kräftige Schultern, runde Hüften und ein paar prächtige Arme, die bis zum Ellbogen entblößt waren. In einem Jahr war sie erblüht wie ein junger Baum.

»Du bist das!« sagte er mit stockender Stimme.

»Aber ja, Monsieur Frederic«, antwortete sie und sah ihm mit ihren großen Augen, in denen ein dunkles Feuer brannte, gerade ins Gesicht. »Ich bringe Seeigel... Wann kommen Sie zu uns? Soll man schon die Netze herrichten?«

Er betrachtete sie noch immer und murmelte, als hätte er sie nicht gehört: »Wie schön du bist, Nais!... Was bringst du denn?«

Sie lachte über das Kompliment. Als er dann aber ihre Hände ergriff, als wolle er mit ihr zum Spielen gehen wie früher, da wurde sie ernst, duzte ihn plötzlich wieder und sagte mit ihrer etwas rauen Stimme ganz leise: »Nein, nein, nicht hier... Pass auf! Deine Mutter kommt.«

2

Vierzehn Tage später reiste die Familie Rostand nach La Blancarde. Der Anwalt hatte noch die Gerichtsferien abgewartet und jetzt im September war die Küste von ganz besonderem Reiz. Die Hitze war gebrochen und die Nächte wurden angenehm frisch.

Das Gut lag nicht direkt in L'Estaque, sondern es war ein Flecken in der äußersten Bannmeile von Marseille, ganz am Ende der Felsenbucht gelegen, die den Golf abschließt. La Blancarde erhob sich oberhalb des Dorfes auf einer Steilküste; seine gelbe Fassade, inmitten einer Gruppe großer Pinien, war von jeder Stelle der Bucht aus zu sehen. Es war eines dieser mächtigen viereckigen Gebäude mit unregelmäßigen Fenstern, die man in der Provence als »chateaux« bezeichnet. Vor dem Haus gab es eine breite Terrasse, die am Ende steil zu einem schmalen Kieselstrand abfiel. Hinter dem Haus erstreckte sich ein großes Grundstück mit magerem Boden, auf dem mit Mühe ein paar Weinstöcke, sowie Mandel- und Olivenbäume gehalten wurden. Aber das eigentlich unangenehme, ja geradezu gefährliche an La Blancarde war, dass das Meer an der Steilküste nagte und das Wasser der umliegenden Quellen diese Masse aus Lehm und Fels zusätzlich aufweichte und unterspülte. So kam es immer wieder vor, dass sich gewaltige Felsblöcke lösten und mit fürchterlichem Krach ins Meer stürzten. So verlor der ganze Besitz nach und nach an Grund und Boden. Ein paar Pinien waren bereits versunken.

Seit vierzig Jahren waren die Micoulins Verwalter von La Blancarde. Nach provenzalischem Brauch bestellten sie das Land und teilten die Ernte mit dem Eigentümer. Die Ernten waren jedoch so mager, dass sie Hungers gestorben wären, wenn sie im Sommer nicht ein bisschen hätten fischen können. Zwischen Pflügen und Säen warfen sie noch schnell ihre Netze aus. Die Familie bestand aus dem Vater Micoulin, einem harten alten Mann mit dunklem, zerfurchtem Gesicht, vor dem das ganze Haus zitterte; aus der Mutter Micoulin, einer großen Frau, die durch die Landarbeit in der glühenden Hitze stumpf geworden war; aus einem Sohn, der gerade auf der »Arrogante« diente und aus Nais, die der Vater zur Arbeit in eine Ziegelfabrik schickte, obwohl es zu Hause eigentlich genug zu tun gab. Aus der Verwalterwohnung, einem baufälligen Häuschen, das gleichsam an eine Seite von La Blancarde geklebt war, drang nur selten ein fröhliches Lachen oder ein Lied. Micoulin bewahrte das Schweigen eines alten Eigenbrötlers, der über seinen Erfahrungen brütet. Die beiden Frauen behandelten ihn mit jenem angstvollen Respekt, den Töchter und Ehefrauen im Süden dem Familienoberhaupt zollen. Und nur selten wurde dieser Friede durch das Geschrei der Mutter gestört, die, sobald ihre Tochter einmal verschwunden war, die Fäuste in die Hüften stemmte und Nais' Namen in alle vier Himmelsrichtungen hinausbrüllte, dass ihr die Kehle zu platzen drohte. Nais konnte es einen Kilometer weit hören und kehrte dann zurück, bleich vor verhaltenem Zorn.

Sie war keineswegs glücklich, die schöne Nais, wie man sie in L'Estaque nannte. Als sie bereits sechzehn war, schlug ihr Micoulin noch immer für jedes Widerwort so heftig ins Gesicht, dass ihr das Blut aus der Nase schoss; und auch jetzt noch, trotz ihrer über zwanzig Jahre, zeugten ihre über Wochen blau gefleckten Schultern von der väterlichen Strenge. Dabei war er keineswegs bösartig, er machte lediglich streng von seinem königlichen Recht Gebrauch, unbedingten Gehorsam zu fordern und nach überkommener lateinischer Autorität über Leben und Tod der Seinen zu entscheiden. Als Nais eines Tages wagte, die Hand zu erheben, um eine rasende Tracht Prügel abzuwehren, da hätte er sie fast getötet. Nach solchen Züchtigungen zitterte das junge Mädchen vor Wut. Sie kauerte sich dann in einem stillen Winkel auf den Boden und würgte dort mit trockenen Augen ihre Schmach hinunter. Eine dumpfe Wut machte sie in diesen Stunden stumm und sie hing Racheplänen nach, die sie nie würde ausführen können. Es war das Blut ihres Vaters, das in ihr tobte, ein blinder Jähzorn, das rasende Verlangen, die Stärkere zu sein. Wenn sie sah, wie sich ihre Mutter zitternd und unterwürfig vor Micoulin duckte, dann blickte sie voller Verachtung auf sie herab. Oft sagte sie: »Hätte ich einen Mann wie diesen, ich würde ihn töten.«

Dabei waren Nais die Tage, an denen sie Prügel bezog im Grunde lieber, denn sie rüttelten sie wenigstens auf. Ansonsten führte sie nämlich ein so enges, abgeschlossenes Dasein, dass sie vor Langeweile zu sterben glaubte. Ihr Vater untersagte ihr, ins Dorf hinunter zu gehen und hielt sie im Haus ständig beschäftigt; und selbst dann, wenn es nichts zu tun gab, wollte er, dass sie unter seinen Augen blieb. So erwartete sie ungeduldig den September; denn sobald die Herrschaften in La Blancarde einzogen, ließ Micoulins Wachsamkeit nach. Nais, die für Madame Rostand Besorgungen zu machen hatte, entschädigte sich dann für die Gefangenschaft des ganzen Jahres.

Eines Tages kam der alte Micoulin auf den Gedanken, dass ihm dieses große Mädchen dreißig Sous täglich einbringen könnte. Also erklärte er sie sozusagen für volljährig und schickte sie zur Arbeit in eine Ziegelei. Es war eine harte Arbeit, aber Nais freute sich sehr darüber. Sie brach früh am Morgen auf, ging auf die andere Seite von L'Estaque hinüber und drehte den ganzen Tag in der prallen Sonne Ziegel zum Trocknen um. Ihre Hände wurden wund bei dieser Fronarbeit, aber sie fühlte nicht mehr ständig ihren Vater hinter sich und lachte ungehindert mit den jungen Burschen. Und hier, bei dieser harten Arbeit, blühte sie auf und wurde zu einem hübschen Mädchen. Die glühende Sonne machte ihre Haut goldfarben und legte ihr einen breiten Bernsteinkragen um den Hals; ihre schwarzen Haare wuchsen so üppig, als wollten sie ihr mit den wehenden Strähnen Schutz bieten; die tägliche Bewegung bei ihrer Arbeit verlieh ihrem Körper die geschmeidige Kraft einer jungen Kriegerin. Wenn sie sich auf der festgestampften Erde, inmitten ihrer roten Ziegel erhob, glich sie einer antiken Amazone, einer gewaltigen Figur aus Terracotta, die durch einen plötzlichen Flammenregen aus dem Himmel belebt wurde. Auch Micoulin sah, wie sie aufblühte und beobachtete sie aus seinen kleinen Augen. Sie lachte ihm zu viel; dass ein Mädchen so fröhlich war, schien ihm nicht ganz geheuer, und er schwor sich, jeden Liebhaber zu erwürgen, den er jemals hinter ihren Röcken entdecken sollte.

Verehrer hatte Nais Dutzende, aber keinem gab sie eine Chance. Sie machte sich über alle Burschen lustig. Ihr einziger guter Freund war ein Buckliger, der in der gleichen Ziegelei beschäftigt war; ein kleiner Mann namens Toine, den das Findelhaus in Aix nach L'Estaque abgeschoben hatte und der hier von der Gemeinde adoptiert worden war. Er hatte ein hübsches Lachen, dieser Bucklige mit dem Gesicht eines Hampelmanns. Nais mochte ihn wegen seiner Sanftheit. Sie machte mit ihm was sie wollte und sprang oft äußerst lieblos mit ihm um, besonders wenn sie sich wegen irgendeiner Grobheit ihres Vaters an jemandem rächen musste. Aber das hatte nichts weiter auf sich. Im Dorf lachte man über Toine. Micoulin sagte: »Ich erlaube ihr den Buckligen, ich kenne sie, sie ist viel zu stolz!«

Als Madame Rostand in diesem Jahr einzog, bat sie den Verwalter, ihr Nais zu überlassen, weil eines ihrer Dienstmädchen erkrankt war. Zufällig gab es in dieser Zeit gerade keine Arbeit in der Ziegelei. Und so unerbittlich im übrigen Micoulin zu den Seinen war, so diplomatisch ging er mit den Herrschaften um; er hätte dieses Ansinnen nie ausgeschlagen, selbst wenn es ihm gegen den Strich gegangen wäre. Monsieur Rostand hatte sich in wichtigen Geschäften nach Paris begeben müssen, und Frederic war mit seiner Mutter allein auf dem Lande. In den ersten Tagen entwickelte der junge Mann, wie gewöhnlich, einen großen Drang, sich Bewegung zu verschaffen. Geradezu berauscht von der frischen Meeresluft, warf er zusammen mit Micoulin die Netze aus oder holte sie herein und machte lange Spaziergänge bis in die tiefen Schluchten von L'Estaque. Dann beruhigte sich dieser schöne Eifer und er lag tagelang unter den Pinien, die die Terrasse säumten und blickte im Halbschlaf auf das Meer, dessen eintöniges Blau ihn bald zu Tode langweilte. Nach vierzehn Tagen ging ihm der Aufenthalt in La Blancarde regelmäßig auf die Nerven. Und so fand er jeden Morgen einen neuen Vorwand, um nach Marseille ausreißen zu können.

Eines Morgens, bei Sonnenaufgang, rief Micoulin nach Frederic unter dessen Fenster. Die langen Fangkörbe mit den schmalen Öffnungen, in denen sich die Fische verfangen, mussten aus dem Meer gezogen werden. Aber der junge Mann stellte sich taub. Der Fischfang schien ihn nicht mehr zu reizen. Er machte es sich jetzt lieber unter den Pinien bequem, streckte sich der Länge nach aus und blickte traumverloren in den Himmel. Seine Mutter war sehr überrascht, dass er keinen der großen Ausflüge mehr machen wollte, von denen er immer so hungrig zurückkehrte.

»Gehst du nicht aus?« fragte sie. »Nein, Mama«, antwortete er. »Solange Papa nicht zurück ist, bleibe ich bei Ihnen.«

Der Verwalter, der diese Antwort hörte, murmelte in seinem Dialekt: »Der Herr Frederic wird sich also gleich nach Marseille verdrücken.«

Frederic fuhr aber nicht nach Marseille. Die Woche verging, und er lag noch immer auf der Terrasse und wechselte nur den Platz, um der Sonne auszuweichen. Um den Schein zu wahren, hatte er sich ein Buch genommen, aber er las nicht; meist lag das Buch auf dem Boden zwischen den dürren Piniennadeln. Der junge Mann hatte nicht einmal mehr einen Blick fürs Meer. Er sah zum Haus hinüber und schien sich eher für das Treiben dort zu interessieren, vor allem für das Kommen und Gehen der Dienstmädchen, die ständig die Terrasse überqueren mussten. Und wenn Nais vorüberging, zuckten in seinen sinnlichen Herrschaftsaugen kleine Blitze auf; Nais verlangsamte dann ihre Schritte und ging mit einem rhythmischen Wiegen der Hüften vorüber, ohne jemals einen Blick auf ihn zu werfen.

Dieses Spiel dauerte mehrere Tage. Vor seiner Mutter behandelte Frederic Nais geradezu hart, wie einen ungeschickten Dienstboten. Das gescholtene Mädchen senkte dann die Augen mit einer gewissen Hinterhältigkeit, so als genieße es diese Kränkungen geradezu.

Eines Morgens, während des Frühstücks, zerbrach Nais eine Salatschüssel. Frederic fuhr auf. »Sie ist unmöglich!« schrie er, »wo hat sie nur ihren Kopf?«

Und er sprang wütend auf und behauptete, seine Hose sei ruiniert. Ein kleiner Öltropfen war ihm aufs Knie gespritzt, und er machte davon viel Aufhebens.

»Glotz mich nicht so an, bring lieber eine Serviette und Wasser; hilf mir wenigstens!«

Nais tauchte den Zipfel einer Serviette in ein Wasserglas und kniete vor Frederic nieder, um den Fleck wegzureiben.

»Lasse das«, meinte Madame Rostand, »das hilft jetzt auch nichts mehr.«

Aber das junge Mädchen ließ das Bein ihres Herrn nicht los und fuhr fort, mit der ganzen Kraft ihrer schönen Arme zu reiben, während er weiterhin vor sich hin schimpfte.

»So etwas von Ungeschicklichkeit hat man noch nie gesehen... Als hätte sie absichtlich die Schüssel direkt neben mir zerbrochen ... Gut, dass sie uns nicht in Aix bedient, sonst hätten wir kein Porzellan mehr!«

Seine Vorwürfe waren dem kleinen Missgeschick so wenig angemessen, dass Madame Rostand glaubte, ihren Sohn beruhigen zu müssen, sobald Nais fort war.

»Was hast du nur gegen dieses arme Mädchen. Es sieht so aus, als könntest du sie nicht leiden ... Ich bitte dich, sei ein bisschen nett zu ihr. Sie ist schließlich deine alte Spielgefährtin und hat hier nicht die Stellung eines einfachen Dienstmädchens.«

»Ach, sie geht mir auf die Nerven!« antwortete Frederic mit gespielter Grobheit.

Am gleichen Abend, als es dunkel war, begegneten sich Nais und Frederic am Ende der Terrasse. Sie hatten bisher noch nicht allein miteinander gesprochen. Man konnte sie vom Haus aus nicht hören. Die Pinien schütteten ihren harzigen Duft in die milde Nacht. Da fragte sie ihn leise mit dem vertrauten Du ihrer Kindheit: »Warum hast du so mit mir geschimpft, Frederic?... Du bist wirklich böse.«

Ohne zu antworten nahm er sie bei den Händen, zog sie zu sich heran und küsste sie auf den Mund. Sie ließ ihn gewähren und lief dann davon, während er sich auf das Geländer setzte, um nicht in seiner aufgewühlten Verfassung vor seiner Mutter erscheinen zu müssen. Zehn Minuten später bediente Nais mit ihrer üblichen stolzen Ruhe bei Tisch.

Frederic und Nah verabredeten sich nicht, aber eines Nachts fanden sie sich unter einem Olivenbaum am Rande der Klippe. Während des Abendessens begegneten sich ihre Blicke mehrmals mit glühender Starrheit. Die Nacht war sehr warm; Frederic stand bis ein Uhr an seinem Fenster, rauchte und blickte in die Dunkelheit hinaus. Da gewahrte er eine undeutliche Gestalt, die über die Terrasse schlich. Er zögerte keine Sekunde, stieg herunter auf das Dach eines Schuppens und sprang von dort auf den Boden, wobei er zwei lange Stangen zu Hilfe nahm, die dort in einer Ecke standen; so musste er nicht fürchten, seine Mutter zu wecken. Unten angekommen, ging er geradewegs auf einen alten Olivenbaum zu. Er wusste, dass ihn Nais dort erwartete.

»Bist du es?« fragte er leise.

»Ja«, sagte sie einfach.

Er setzte sich neben sie auf den Boden und fasste sie um die Taille, während sie den Kopf an seine Schulter lehnte. Eine Weile sprachen sie kein Wort. Der alte, knorrige Olivenbaum deckte sie mit seinem grauen Blätterdach. Vor ihnen lag das Meer schwarz und unbeweglich unter den Sternen. Marseille, am Ende des Golfes, war in Nebel gehüllt; nur zur Linken blitzte der Leuchtturm von Planier alle paar Minuten einen gelben Lichtstrahl durch die Dunkelheit, der sogleich wieder erlosch; und nichts konnte sanfter und zärtlicher sein als dieses Licht, das unaufhörlich am Horizont verschwand und unaufhörlich wiederkam.

»Ist dein Vater denn nicht zu Hause?« fragte Frederic.

»Ich bin aus dem Fenster gesprungen«, antwortete sie mit ihrer ernsten Stimme.

Sie sprachen nicht von ihrer Liebe. Diese Liebe kam aus weiter Ferne, aus der Tiefe ihrer Kindheit. Jetzt erinnerten sie sich der Spiele, bei denen die Begierde bereits hinter den Kindereien gelauert hatte. Es schien ihnen ganz natürlich, zu Zärtlichkeiten überzugehen. Sie hätten auch gar nicht gewusst, was sie sich hätten sagen sollen, sie hatten nur noch das Verlangen, einander zu gehören. Er fand sie schön und erregend mit ihrer Sonnenbräune und ihrem Erdgeruch, und sie genoss den Stolz eines gedemütigten Mädchens, die Geliebte des jungen Herrn zu werden. Sie gab sich hin. Als der Tag anbrach, kehrten beide auf dem gleichen Weg, den sie gekommen waren, in ihre Zimmer zurück.

3

Was für ein herrlicher Monat. Es regnete nicht ein einziges Mal. Der immer blaue Himmel strahlte wie Seide, die nicht ein einziges Wölkchen befleckte. Die Sonne ging auf wie in einem rosigen Kristall und versank in einem Staub von Gold. Dennoch war es nicht zu heiß; eine Meeresbrise kam und ging mit der Sonne, und die Nächte waren von einer köstlichen Frische, ganz durchdrungen vom Duft der aromatischen Pflanzen, die, vom Tag erhitzt, im Dunkeln ihren Duft von sich gaben.

Die Landschaft ist wunderschön. Auf beiden Seiten des Golfes ragen zwei Felsarme ins Meer, während die Inseln in der Ferne den Horizont zu versperren scheinen; so liegt das Meer wie ein weites Becken und gleicht bei schönem Wetter einem tiefblauen See. In der Ferne, am Fuß der Berge, breiten sich die Häuser von Marseille über die niedrigen Hügel aus. Bei klarer Sicht kann man von L'Estaque aus den grauen Hafendamm von Joliette und die feinen Striche der Schiffsmasten im Hafen erkennen. Weiter hinten erheben sich inmitten dichter Baumgruppen die Häuser, und die Kapelle Notre-Dame-de-la-Garde ragt von einer Anhöhe aus weiß leuchtend in den Himmel. Von Marseille aus schlängelt sich die Küste mit tiefen Einschnitten bis nach L'Estaque, gesäumt von Fabriken, die bisweilen lange Rauchfahnen in die Luft entlassen. Wenn die Sonne senkrecht herunterbrennt, liegt das Meer fast schwarz und wie eingeschlafen zwischen den beiden Felsvorsprüngen, deren Weiß gleichsam von gelben und braunen Hitzeflecken überzogen wird. Die Pinien werfen dunkelgrüne Schatten auf die rotgebrannte Erde. Es ist ein gewaltiges Bild, ein Hauch von Orient, der in der flimmernden Hitze des Tages vorübergleitet.

Aber die l'Estaque bietet nicht nur diesen Ausblick aufs Meer. Das an die Hügel angelehnte Dorf wird von Wegen durchquert, die sich in einem Chaos zerklüfteter Felsen verlieren. Die Eisenbahn von Marseille nach Lyon führt zwischen gewaltigen Felsblöcken hindurch, überquert Abgründe auf Brücken, taucht plötzlich in die Felsen ein und verschwindet dort für eineinhalb Meilen im Nerthe-Tunnel, dem längsten Frankreichs. Nichts gleicht der wilden Majestät dieser Schluchten, die sich zwischen die Hügel graben, mit ihren schmalen Wegen, die sich tief in den Abgründen winden, mit ihren ausgetrockneten, mit Pinien bestandenen Hängen und mit ihren Felswänden, die in rost- und blutfarbenen Schattierungen steil nach oben streben. Bisweilen erweitert sich der Durchlass, und ein mageres Olivenfeld füllt den Grund eines kleinen Tales, oder ein einsames Haus mit geschlossenen Fensterläden zeigt seine weiß gestrichene Fassade. Dann wieder kommen Pfade voller Dornen und undurchdringlichem Gestrüpp, Geröllhänge und ausgetrocknete Wildbäche, alle Überraschungen einer Wüstenwanderung. Und hoch oben, über den schwarzen Rand der Pinien hinaus, breitet der Himmel ein feines Band aus blauer Seide.

Dann gibt es noch den schmalen Küstenstreifen zwischen den Bergen und dem Meer und die rote Erde, in die die Ziegeleien, die Hauptindustrie der Gegend, große Löcher gegraben haben, um ihren Ton zu gewinnen. Es ist ein aufgerissener, umgewühlter Boden, nur mit einigen kümmerlichen Bäumen bewachsen, als hätte ein Hauch glühender Leidenschaft alle Quellen versiegen lassen. Auf den Wegen meint man in einem Bett aus Gips zu gehen. Man versinkt bis über die Knöchel und beim geringsten Windstoß fliegen große Wolken auf und bepudern die Hecken. Entlang der Mauern, die ihre Hitze einem Ofen gleich ausstrahlen, schlafen kleine graue Eidechsen, während aus der Glut des verbrannten Grases Schwärme von Heuschrecken mit einem Geknister wie von Funken auffliegen. In der bewegungslosen, schweren Luft der verschlafenen Mittagsstille hört man nur das eintönige Gezirpe der Grillen.

In dieser flammenden Landschaft liebten sich Nais und Frederic einen Monat lang. Es schien, als hätte sich das ganze Himmelsfeuer in ihr Blut ergossen. Die ersten acht Tage begnügten sie sich damit, sich jede Nacht unter dem Olivenbaum am Rande der Klippe zu treffen. Dort schwelgten sie in den höchsten Liebeswonnen. Die kühle Nacht besänftigte ihr Fieber, manchmal streckten sie ihre heißen Gesichter und Hände in den vorüberstreichenden Nachtwind, um sich darin wie in einer kühlen Quelle zu erfrischen. Das Meer zu ihren Füßen rauschte unter den Felsen wie in dumpfer, wollüstiger Klage. Der durchdringende Geruch von Seegras machte sie trunken vor Lust. Dann lagen sie in glücklicher Ermattung einander in den Armen und sahen hinüber auf das nächtlich funkelnde Marseille, auf die roten Leuchtfeuer am Hafeneingang mit ihrem blutfarbenen Widerschein im Meer und auf die funkelnden Gaslaternen, die zur Rechten und zur Linken die ausladenden Windungen der Vorstädte nachzeichneten. Über der Mitte der Stadt lag ein hellblitzendes Geflimmer, während der Park auf dem Hügel Bonaparte deutlich durch zwei Lichterketten am Himmelsrand begrenzt war. All diese Lichter jenseits des schlafenden Golfes schienen eine Traumstadt zu erleuchten, die beim ersten Morgengrauen verschwinden würde. Und der Himmel lag ausgebreitet über den schwarzen Schattenrissen des Horizontes und hatte für die beiden einen großen Zauber, einen Zauber, der sie schaudern ließ, so dass sie einander noch fester in die Arme nahmen. Ein Sternenregen schien auf sie herniederzufallen, denn in den klaren Nächten der Provence gleichen die Sternbilder lebendigen Flammen. Die grenzenlose Weite ließ sie erzittern; sie senkten den Kopf und wandten ihre Aufmerksamkeit nur noch dem einsamen Stern des Leuchtturmes von Planier zu, dessen tanzendes Licht sie berührte, während sich ihre Lippen aufs Neue suchten.

Eines Nachts aber stand ein großer Mond am Horizont, der mit seinem gelben Antlitz auf sie heruntersah. Im Meer funkelte eine Feuerspur, als hätte ein Riesenfisch, ein geheimnisvoller Aal aus tiefstem Meer, sein goldgeschupptes Kleid durch das Wasser gleiten lassen; und ein fahler Dämmerschein verlöscht die Lichter von Marseille und badete die Hügel und Buchten des Golfes. Je höher der Mond stieg, desto heller wurde es und desto deutlicher traten die Schatten hervor. Dieser Augenzeuge störte sie. Sie fürchteten entdeckt zu werden, wenn sie so nahe beim Haus blieben. Deshalb verließen sie beim nächsten Mal den Garten über eine eingestürzte Mauer und führten ihre Liebe fortan in Schlupfwinkel, wie sie die Umgebung so reichlich bot. Zuerst zogen sie sich in eine verlassene Ziegelei zurück, deren verfallener Schuppen über einem Keller lag, in dem noch die beiden Feuerschlünde zu sehen waren. Aber diese Ruine bedrückte sie; sie wollten lieber den weiten Himmel über sich fühlen. So liefen sie weiter durch die roten Steinbrüche; sie entdeckten köstliche Verstecke, unberührte kleine Plätze, wo sie nichts weiter hörten, als das ferne Bellen der Hunde. Sie gingen noch weiter, verloren sich auf den endlosen Wegen der felsigen Küste von Niolon und drangen in enge Felsschluchten, Grotten und Klüfte ein. So wurden zwei Wochen lang die Nächte zu Spielen voller Zärtlichkeit. Der Mond nahm ab und der Himmel wurde wieder dunkler, doch jetzt schien ihnen La Blancarde zu klein für ihre Liebe, sie wollten sie in die ganze weite Welt hinaustragen.

Eines Nachts, als sie einem Weg oberhalb von L'Estaque folgten, um zu den Schluchten von Nerthe zu gelangen, glaubten sie gedämpfte Schritte zu hören, die ihnen auf der anderen Seite eines kleinen, am Straßenrand gepflanzten Pinienwäldchens folgten. Erschrocken blieben sie stehen.

»Hörst du?« fragte Frederic. »Ja, vielleicht ein streunender Hund,« murmelte Nais.

Und sie gingen weiter. Aber an der ersten Wegbiegung, hinter dem Wäldchen, sahen sie deutlich eine dunkle Gestalt hinter den Felsen verschwinden. Es war zweifellos ein Mensch, aber von seltsam buckliger Gestalt. Nais stieß einen leisen Schrei aus.

»Warte«, sagte sie hastig.

Sie lief dem Schatten nach und bald hörte Frederic ein aufgeregtes Flüstern. Dann kam sie zurück, ruhig, aber ein wenig blass.

»Was gibt es denn?« fragte er.

»Nichts«, antwortete sie.

Doch nach einer Weile fuhr sie fort: »Wenn du Schritte hörst, dann hab keine Angst. Es ist Toine, weißt du? Der Bucklige. Er möchte uns beschützen.«

Tatsächlich spürte Frederic manchmal im Dunkeln, wie ihnen jemand folgte. Als würde sie ein heimlicher Schutz umgeben. Mehrere Male versuchte Nais Toine davonzujagen, aber das arme Wesen wollte nichts weiter sein als ihr Hund. Man sah ihn nicht und man hörte ihn nicht, warum also sollte man ihn nicht gewähren lassen? Aber hätten die Liebenden genau hinhören können, wenn sie sich in der verfallenen Ziegelei, in verlassenen Steinbrüchen oder in der Tiefe einsamer Grotten leidenschaftlich küssten, dann hätten sie hinter sich ein ersticktes Schluchzen vernommen. Es war Toine, ihr Wachhund, der in seine geballten Fäuste weinte.

Sie begnügten sich nicht mehr mit den Nächten. Jetzt wurden sie kühner und nahmen jede Gelegenheit wahr. Wenn sie sich im Haus auf einem Flur oder in einem Zimmer trafen, tauschten sie einen langen Kuss. Selbst bei Tisch, wenn sie auftrug und er ein Stück Brot oder einen Teller verlangte, fand er eine Gelegenheit, ihr über die Hand zu streichen. Die strenge Madame Rostand, die nichts bemerkte, warf ihrem Sohn noch immer vor, dass er zu hart gegen seine ehemalige Spielgefährtin sei. Eines Tages hätte sie die beiden beinahe überrascht, aber als das junge Mädchen das Rascheln ihres Kleides hörte, bückte es sich rasch und wischte den Staub von den Schuhen ihres jungen Herrn.

Nais und Frederic genossen noch tausenderlei andere Freuden. Oft wollte Madame Rostand nach dem Abendessen, wenn es draußen kühler wurde, noch einen Spaziergang machen. Sie nahm den Arm ihres Sohnes, stieg nach L'Estaque hinunter und trug Nais auf, ihr vorsichtshalber den Schal nachzutragen. Alle drei warteten dann auf die Rückkehr der Sardinenfischer. Auf dem Meer tanzten die Schiffslaternen und bald schon konnte man die schwarzen Umrisse der Boote unterscheiden, die mit dumpfem Ruderschlag näherkamen. An guten Fangtagen wurden fröhliche Stimmen laut und die Frauen eilten mit ihren Körben herbei; die Fischer, die jeweils zu dritt in einem Boot saßen, begannen das Netz, das unter der Bank verstaut war, aufzuwickeln. Es sah aus wie ein breites, dunkles, mit Silberflitter durchsetztes Band; die Sardinen, die sich mit ihren Kiemen in den Maschen des Netzes verfangen hatten, zappelten noch und warfen gleichsam metallische Reflexe; dann glitten sie im fahlen Licht der Laternen wie ein Talerregen in die Körbe. Oft fand Madame Rostand Vergnügen an diesem Schauspiel und blieb vor einem Boot stehen; sie ließ dann den Arm ihres Sohnes los und plauderte mit den Fischern, während Frederic außerhalb des Laternenscheins dicht neben Nais stand und ihre Handgelenke drückte, als wolle er sie zerbrechen.

Der alte Micoulin blieb unterdessen stumm wie ein erfahrenes und störrisches Tier. Er fuhr hinaus aufs Meer, kehrte zurück, um ein paar Spatenstiche zu machen und bewahrte im Übrigen sein hinterhältiges Schweigen. Aber seine kleinen grauen Augen brannten seit einiger Zeit vor Unruhe. Er warf lauernde Blicke auf Nais, ohne etwas zu sagen. Sie schien ihm verändert, er witterte Dinge an ihr, für die er keine Erklärung fand. Eines Tages wagte sie ihm zu widersprechen. Da schlug er sie so heftig ins Gesicht, dass ihr die Lippe platzte.

Als Frederic am Abend unter seinen Küssen ihren geschwollenen Mund spürte, fragte er danach. »Es ist nichts weiter, mein Vater hat mir eine Ohrfeige gegeben«, sagte sie.

Ihre Stimme war düster geworden. Und als der junge Mann in heftigem Zorn erklärte, er werde das in Ordnung bringen, erwiderte sie: »Nein, lasse nur, das ist meine Angelegenheit ... Es wird einmal ein Ende haben!«

Sie erzählte ihm niemals von den Ohrfeigen, die sie erhielt, aber an den Tagen, an denen sie von ihrem Vater geschlagen wurde, umschlang sie den Hals ihres Geliebten noch leidenschaftlicher, gerade so, als wolle sie sich an dem Alten rächen.

Seit nunmehr drei Wochen verließ Nah fast jede Nacht das Haus. Zuerst war sie äußerst vorsichtig gewesen, dann aber überkam sie eine kalte Dreistigkeit, und sie wagte alles. Als sie aber merkte, dass ihr Vater etwas ahnte, wurde sie wieder vorsichtiger. Zweimal erschien sie nicht zur Verabredung. Von

ihrer Mutter erfuhr sie, dass Micoulin in der Nacht kaum mehr schlief; er stand auf und wanderte von einem Zimmer ins andere. Aber am dritten Tag vergaß Nais vor Frederic flehentlichem Drängen wiederum jegliche Vorsicht. Gegen elf Uhr stahl sie sich hinunter in der festen Absicht, auf keinen Fall länger als eine Stunde draußen zu bleiben. Im ersten tiefen Schlaf, so hoffte sie, würde sie ihr Vater nicht hören.

Frederic erwartete sie unter den Olivenbäumen. Sie sagte nichts von ihren Befürchtungen, weigerte sich aber, weiter weg zu gehen. Sie wäre zu müde, sagte sie, was auch der Wahrheit entsprach, denn sie konnte nicht wie er tagsüber ausschlafen. Sie legten sich an ihrem alten Platz nieder, unter sich das Meer und vor sich das leuchtende Marseille. Der Leuchtturm von Planier blitzte auf. Und während Nais dort hinüber sah, schlief sie auf Frederic Schulter ein. Der rührte sich nicht, und nach und nach überkam ihn selbst die Müdigkeit, und die Augen fielen ihm zu. Eng umschlungen lagen sie da, und ihr Atem vermischte sich.

Keinen Laut hörte man, nur das schneidende Zirpen der Heuschrecken. Wie die Liebenden, so schlief auch das Meer. Da trat eine schwarze Gestalt aus dem Dunkel und näherte sich. Micoulin, der von einem schlagenden Fenster geweckt worden war, hatte Nais nicht in ihrer Kammer vorgefunden. Er ging aus dem Haus und nahm für alle Fälle ein kleines Beil mit. Als er einen dunklen Schatten unter dem Olivenbaum gewahrte, packte er den Griff noch fester. Doch die Kinder rührten sich nicht; er konnte dicht an sie herangehen, sich bücken und ihnen ins Gesicht sehen. Ein leiser Schrei entfuhr ihm, als er seinen jungen Herrn erkannte. Nein, nein, er konnte ihn nicht einfach töten; das Blut würde eine Spur im Boden hinterlassen und ihn teuer zu stehen kommen. Er richtete sich wieder auf. Zwei Falten wilder Entschlossenheit gruben sich in sein altes, ledernes, vor verhaltener Wut erstarrtes Gesicht. Ein Bauer bringt seinen Herrn nicht offen um, denn der Herr ist, auch wenn er begraben ist, noch immer der Stärkere. Und der alte Micoulin schüttelte den Kopf, schlich auf Zehenspitzen davon und ließ die beiden Liebenden weiterschlafen.

Als Nais kurz vor Morgengrauen in großer Unruhe wegen ihres langen Ausbleibens nach Hause kam, fand sie das Fenster so vor, wie sie es verlassen hatte. Beim Frühstück sah ihr Micoulin in aller Ruhe zu, wie sie ihr Stück Brot aß. Da beruhigte sie sich; ihr Vater konnte nichts gemerkt haben.

 

 

4

»Monsieur Frederic, kommen Sie denn gar nicht mehr mit aufs Meer hinaus?« fragte eines Abends der alte Micoulin.

Madame Rostand saß im Schatten der Pinien auf der Terrasse und stickte; ihr Sohn lag neben ihr ausgestreckt und vergnügte sich damit, kleine Kieselsteine zu werfen.

»Ach Gott, nein!« entgegnete der junge Mann. »Ich bin faul geworden.«

»Das ist schade,« meinte der Verwalter. »Gestern waren die Körbe voller Fische. Gerade jetzt kann man alles fangen, Sie hätten Ihren Spaß daran. Kommen Sie doch morgen früh mit.«

Er schaute dabei so treuherzig, dass Frederic ihn Nais zuliebe nicht verletzen wollte und schließlich sagte: »Na gut, warum nicht ... Aber ich muss geweckt werden. Um fünf Uhr schlafe ich nämlich noch wie ein Murmeltier.«

Madame Rostand war etwas beunruhigt und hatte zu sticken aufgehört.

»Seid nur vorsichtig«, murmelte sie. »Ich ängstige mich jedes Mal, wenn ihr auf dem Meer draußen seid. «

Am nächsten Morgen rief Micoulin vergeblich nach Monsieur Frederic, das Fenster des jungen Mannes blieb geschlossen. Da sagte er zu Nais in einem Ton wilder Ironie, der ihr entging: »Geh du hinauf... Dich hört er vielleicht.«

So wurde Frederic an diesem Morgen von Nais geweckt. Noch ganz schlaftrunken zog er sie zu sich in sein warmes Bett, aber sie erwiderte seinen Kuss nur flüchtig und entzog sich ihm. Zehn Minuten später erschien der junge Mann in einem grauen Leinenanzug. Der alte Micoulin saß auf der Brüstung der Terrasse und erwartete ihn geduldig.

»Es ist kühl draußen, Sie sollten einen Schal mitnehmen«, meinte er. Nais ging noch einmal hinauf und holte einen Schal. Dann stiegen die beiden Männer die steilen Stufen zum Meer hinunter, während ihnen das Mädchen in gespannter Haltung mit den Augen folgte. Unten angekommen, hob der alte Micoulin seinen Kopf und sah zu Nais hinauf; und zwei tiefe Falten gruben sich in seine Mundwinkel.

Seit fünf Tagen schon wehte der heftige Mistral aus Nordwesten. Am Tage zuvor hatte er sich gegen Abend etwas gelegt. Aber bei Sonnenaufgang erhob er sich wieder, wenn auch zunächst nur schwach. Zu dieser frühen Stunde war das Meer bereits von heftigen Windstößen aufgewühlt und schimmerte in düsterem Blau; und von den schrägen Strahlen der aufgehenden Sonne getroffen, blitzten auf den Wellenkämmen kleine Flämmchen auf. Der Himmel war nahezu weiß und von kristallener Klarheit. Im Hintergrund war Marseille so deutlich zu sehen, dass man die Fenster seiner Häuser hätte zählen können, während die Felsen des Golfes in ein überaus zartes Rosa getaucht waren.

»Wir werden bei der Rückkehr ziemlich durchgeschüttelt werden«, meinte Frederic.

»Vielleicht«, antwortete Micoulin kurz.

Er ruderte schweigsam, ohne sich umzudrehen. Der junge Mann betrachtete für einen Augenblick seinen runden Rücken und dachte an Nais; er sah nur den sonnenverbrannten Nacken des Alten und zwei rote Ohrläppchen, an denen goldene Ringe hingen. Dann neigte er sich über den Bootsrand und sah in die Meerestiefe, die unter dem Boot vorüberglitt. Das Wasser trübte sich, und nur das große Seegras wogte darin wie die Haare von Ertrunkenen. Es stimmte ihn traurig; er erschrak sogar ein wenig.

»Sehen Sie nur, Vater Micoulin«, begann er nach einem langen Schweigen, »der Wind wird stärker. Seien Sie vorsichtig... Sie wissen ja, dass ich nicht schwimmen kann.«

»Ja, ja, ich weiß«, erwiderte der Alte trocken. Und er ruderte wie mechanisch weiter hinaus. Das Boot begann zu tanzen, die kleinen Flammen auf den Wellenkämmen waren zu Schaumkronen geworden, die unter den Windstößen aufflogen. Frederic wollte seine Angst nicht zeigen, war jedoch ziemlich beunruhigt; er hätte viel darum gegeben, wieder an Land zu sein. Und voller Ungeduld rief er aus: »Wo, zum Teufel, haben Sie denn Ihre Fangkörbe versteckt?... Müssen wir noch bis nach Algier rudern?«

Der alte Micoulin erwiderte abermals in aller Ruhe: »Wir kommen schon noch hin, wir kommen schon noch hin.«

Plötzlich ließ er die Ruder los, stand im Boot auf und sah nach den beiden Orientierungspunkten an der Küste, dann ruderte er noch fünf Minuten weiter, bis sie zu den Korkschwimmern kamen, die den Platz der Fangkörbe markierten. Kurz bevor er die Körbe heraufzog, blickte er für einige Sekunden nach La Blancarde hinüber. Frederic folgte der Richtung seiner Augen und sah deutlich unter den Pinien einen hellen Fleck. Es war das weiße Kleid von Nais, die noch immer auf der Terrasse stand und herübersah.

»Wieviel Fangkörbe sind unten?« fragte Frederic. »Fünfunddreißig ... Wir sollten keine Zeit verlieren.«