Ernst Halter erinnert sich an seine Kindheit in der Kleinstadt Zofingen während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Es sind sehr genaue und stimmungsreiche Erinnerungen an Schule und Krieg, an Stadtbewohner, Vorfälle und Unfälle, Spiele und Krankheiten, Fabriken, Bücher, an Freiheiten und Zwänge. Eingeschoben sind Artikel aus dem «Zofinger Tagblatt», die den öffentlichen Raum spiegeln, in dem sich das Kind bewegt.

Die Erinnerungen sind nicht eine nachträgliche Erzählung einer Identität, sondern bleiben als Wörterbuch fragmentarisch und offen. Durch das Verweissystem zwischen den Stichworten entsteht ein dichtes Netz an Bildern und Geschichten, die zur Geschichte eines Aufwachsens werden wie zur Chronik einer Epoche aus Kinderperspektive. Und gleichzeitig zur persönlichen Mitteilung über den Schmerz und das Glück zu leben.

«Was ich gelernt habe: Wie viel mir erspart geblieben oder nicht zugemutet worden ist. Unverdient.»

Ernst Halter

Foto Werner Erne

Ernst Halter, geboren 1938 Zofingen (AG), Schweiz

1958–1966 Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Geschichte in Genf und Zürich

1962–1963: Aufenthalt in England

1967–1968: Redaktionsassistent bei der Kulturzeitschrift «du»

1968–1969: Lektor des Verlags Fretz & Wasmuth, Zürich

1970–1985: Cheflektor des Verlags Orell Füssli, Zürich

ab 1986/87: freischaffend als Schriftsteller, Publizist und Herausgeber, Redaktor, Lektor, Berater beim Offizin Verlag, Zürich, auf den Gebieten Volkskunde, Photographie, Kulturgeschichte, Kunst

Ernst Halter war verheiratet mit der Lyrikerin und Schriftstellerin Erika Burkart (1922–2010. Er lebt in Aristau AG.

Ernst Halter

Die Stimme des Atems

Wörterbuch einer Kindheit

Limmat Verlag

Zürich

Die Koordinaten

Wie viele Richtungen braucht der Mensch? Vorne und hinten, links und rechts. Aus dem Gesicht, dem auglosen Hinterkopf und den ins Kreuz gestreckten Armen strahlen die vier Himmelsrichtungen und, eine Achtelsdrehung weiter, auch Südwest, Nordost, Südost und Nordwest. Nach unsrem Körper ordnet sich die Welt. Kann sich die Kardinalrichtung, die das Kind geprägt hat, je ändern? Unser Blick bleibt dort hängen, wo er festgemacht wurde; er spannt das Netz der Koordinaten, darin wir wandern.

Da steht ein Bub von elf Jahren auf einer Veranda, deren Geländer von Geranien und schwer duftenden Petunien überblüht ist; ihr Rot und Violett passt zum Holz des Hauses. Es liegt an einem Hang und ist mit dem Estrich und dem auf der Talseite ebenerdigen Kellergeschoss vier Stock­werke hoch. Der Junge schaut nach Süden; in seinem Rücken blinken die Fenster in der Mittagssonne. Nun lehnt er sich vor. Die mit grauen Granitplatten belegte Hausterrasse blendet herauf.

Oft, wenn ihn die Lust ankommt und weil es verboten ist, springt er von ihrer Stützmauer aufs Gartenparterre hinunter, ein Rasenrechteck, eingefasst von Blumenrabatten und Blütensträuchern und durch eine Hagebuchenhecke gegen den Vorgarten des Nachbarchalets abgeschirmt; dort haust der Steinalte. In einem Winkel ist der Sandhaufen angeschüttet. Hier duftet es feucht nach Wald, im Frühling blüht eine Forsythia über das spielende Kind weg, und ein morscher Buchsbaum wirft frösteligen Schatten.

Das Gartenparterre endet über einer weiteren Trockenmauer. Am Westeck dieser von Efeu verwachsenen Stützbastion ragt eine Schein­zypresse, ein Turm, aus dessen Gelassen selbst Sommertage nicht die herb duftende Dämmerung vertreiben. Sie hütet das doppelflüglige schmiede­eiserne Tor über dem Zugangsweg. Auf dem höheren der zwei Wipfel singt die Gartenamsel die Nacht herauf. Der Hang fällt nun zur Strasse ab. Hier blüht und fruchtet die Hostert des Alten. An einem verborgenen Ort gluckert ein Quellchen zwischen Felsbrocken unter dichtem Gebüsch und Farn in einen handtuchgrossen Weiher, ein Geheimnis, zu finden nur, wenn das Gras zwischen den Apfel- und Birnbäumen gemäht ist.

Der Blick des Buben wandert durch den schmalen Talgrund, lokker gestreute Apfelbäume. Der Gegenhang steigt auf, dicht bebaut: das Amslergut, dort kehren die Menschen der Sonne den Rücken zu; der Hang endet in einer Krete, auf der sich einige Häuser rittlings niedergelassen haben; ihre Sicht geht frei nach Süden, Westen und Norden. Dies ist der Finkenherd, und der Junge spürt leisen Neid: aufzuwachsen mit Blick nach drei Himmelsrichtungen!

Ein mit Bäumen gekrönter Hügel schliesst die Südsicht über die nähere Umgebung ab: der Heiternplatz, Festort und Aussichtspunkt der kleinen Stadt, ein mit uralten Linden umpflanzter ehemaliger Exerzierplatz. Die Lindenkronen lagern gleich grüngelben Gewitterwolken auf dem Hügel. Dahinter glimmert Schönwetterdunst, und erst über dem fernen schwarzen Dreieck des Napfs, wo die Wigger entspringt, die westlich der Stadt von Fabrik zu Fabrik fliesst, trifft der Bub wieder auf Vertrautes, die Berner Alpen aus bläulichem Glas, und jeder Gipfel trägt einen Namen. Erst die Wetterhorngruppe. Ihr gegenüber am sonnenverbrannten Südhang des Haslitals liegt das Dorf Hohfluh, wo er die Sommer- oder Herbstferien verbringt. Höher ragt die Schreckhorngruppe, anschliessend die drei Klötze von Eiger, Mönch und Jungfrau und, im Mittagsglast kaum mehr vom Himmel zu unterscheiden, das Breithorn. Dann schliesst der finster gehörnte Pilatus die Ferne zu. Der Bub blinzelt in die Mittagssonne. Ja, er steht richtig in der Welt: südwärts, alpenwärts, der Sonne entgegen.

Obwohl ich erst mit fünf Jahren, als die Eltern das Haus am Hang über der kleinen Industriestadt Zofingen kauften, in dieses Koordinatennetz gestellt worden bin, orientiere ich mich stets nach Süden, und gleich rückt die Geographie des Orts, die Lage eines Hauses ins Lot und ordnet sich in den Kompass meines Lebens. Ich werde nie dorthin auswandern, wo die Sonne im Norden steht. Australien ist die verkehrte Welt.

Der Bub schaut nach Westen; diese Richtung ist verkrüppelt. Ein Nachbarhaus verdeckt zum Teil die Sicht. Die meisten Sonnenuntergänge finden hinter seinem Dach statt. Nur im Spätherbst und Winter verlagern sie sich über die Hochkamine draussen in der Wiggerebene zum schwarzen Turm der Scheinzypresse hin. Dann feiert die Sonne als riesige Brandröte, die mit dem Verblassen des Lichts über den fernen Waldhügeln immer breiter wird und kurz vor dem Erlöschen den halben Himmel mit Rosenschein sättigt.

Osten ist offen; denn zum Besitz der Eltern gehört ein zweiter Gartenteil, quer zum Hang. Hier krautet das Gemüse. Auch der Ostgarten ist terrassiert, zuoberst stehen zwei Kirschbäume. Es folgen verstreute Dächer unter Bäumen, dann buckeln die alten Buchen der grossen Wälder hinten im Tal einen dunkelgrünen Horizont. In ihrer Tiefe geschieht nichts. Vögel fiepen in die Stille, die Sonne steigt auf und versinkt, und nachts fahren die Sternbilder über die schwarzen Baumkronen hin; die Bäche furchen sich in die Sandsteinhänge, so langsam, dass man hunderttausend Jahre schlafen müsste, um sich nicht mehr auszukennen. Geht er durch die Wälder, drehen sich die Wipfel lautlos über ihm, das Wild flieht, und sein Herum­strolchen ist die einzige fremde Bewegung.

Russland, das Land der grössten Wälder, liegt im Osten. Wenn der Junge sich nach Russland denkt, sinken die Täler zwischen hier und dort tiefer in die Erde, sie vereinsamen unter dem hohen, weiten Sprung seiner Vorstellung. Erst das Uerketal, das er zu Fuss in etwa zwei Stunden erreicht. Tritt er vor Neudorf aus dem Schatten der Bäume, sieht er nichts als Wald, denn die Täler sind jedes vom nächsten durch einen von Norden nach Süden streichenden blauen Höhenzug getrennt. Im Heimatkundeunterricht hat er sie auswendig gelernt: Suhrental, Ruedertal, Wynental, Seetal, Bünztal, Reusstal und Limmattal. An schönen Abenden färbt sich der Osthimmel schiefergrau, dann möchte der Junge fortgehen unter die herauffahrende Nacht, sich in die Wälder schlagen, so fern und tief, dass niemand ihn mehr finden wird. Er wird Parzivals Rüstung tragen und der Prinzessin im roten Zelt am Bach begegnen; miteinander werden sie nach Osten weiterreiten, nach Russland und Sibirien; in den Namen seiner Städte kracht und birst das Eis: Tomsk, Omsk, Krassnojarsk, Irkutsk, Werchojansk.

Und was ist Norden? Ein Grashang mit Obstbäumen, darin der Blick steckenbleibt. Hebt er die Augen, kommt eine grünlich getünchte Villa in Sicht, dahinter Bäume und Himmel. Norden ist kalt und aussichtslos. Die Deutschen leben dort. Zwar spricht er dieselbe Sprache, doch in Gedanken macht er einen Bogen um ihr Land. Vater und Mutter geben ihnen die Schuld am Krieg. Seine Tante, die bei guten Deutschen gearbeitet hat, fordert Gerechtigkeit für die Unschuldigen und Mutigen, die Frauen und Kinder. Norden ist mit Recht im Hinterkopf. Und reitet der Bub auf Nils Holgerssons Gänserich nach Lappland, dreht er sich um, südwärts, in eine Sonne, die rot und tief über dem Horizont steht.

Ein halbes Jahrhundert später bin ich auch im Norden heimischer geworden und weiss, dass Glück zu haben in Ort und Zeit kein Verdienst ist. Doch die Kardinalrichtung meines Lebens hat sich nicht geändert. Ich erinnere mich an Gespräche meiner Eltern mit Gästen. Von Venedig, Mailand, Ravenna, Pisa und Florenz war die Rede. Diese Städte waren mir wirklich wie Fabriken und Wälder; ihre Schönheit wachte in Büchern und Mappen, unverrückbar. Dorthin gehörte ich. Wenn ich von Florenz südwärts reiste, würde ich nach Rom kommen. In der Sixtinischen Kapelle stellte ein Fresko die Erschaffung des ersten Menschen dar. Ein Tafelwerk über diese Sixtinische Kapelle lag bei den Kunstbüchern im Schrank mit den Glastüren. Und im Hausflur hing das Bild, auf dem aus Gottes ausgestrecktem Zeigefinger der unsichtbare Geistfunke in den Finger des sich im Erwachen aufrichtenden Adam überspringt. Ich habe mit elf nicht mehr an die Schöpfungsgeschichte geglaubt. Und doch sprach das Bild in der Sixtinischen Kapelle die Wahrheit.

Denn es gibt noch zwei weitere Richtungen: oben und unten.

I. Erste Bilder

Wegfahren

Kreisrunder Ausschnitt, der Grund dunkelbraun, weich im Gefühl, ein Teppich wohl; auf dem braunen eine gelbe Spielzeuglokomotive, Holz, hinter ihr zwei oder drei gelbe Eisenbahnwägelchen. Ich schiebe die Lok langsam über die braune Fläche, der Ausschnitt wandert mit, hinterher rollen gemächlich die Wägelchen. Ich schiebe, die Lok zieht, die Wagen gehorchen. Schieben ziehen, Gefühl von sanfter brauner Weite nach allen Seiten, Behagen, überallhin freie Fahrt. Weit, weit weg.

(Lok und Wägelchen haben nie zu meinen Spielsachen gehört. Das Bild datiert aus dem zweiten Lebensjahr und ist anlässlich eines Besuchs eingelagert worden.)

→Eisenbahn →Waldbahn

Der Geruch

Unter Bäumen im Ausgangswagen auf einem breiten Gehsteig, Sonne wechselt mit Schatten, auf der einen Seite eine asphaltierte Strasse, weit, leer, auf der andern Mauern, über sie, auf den Gehsteig hängend, blühende Büsche, Farben und Duft. Plötzlich geht das Licht aus, mir ist, die Sonne sei vom Himmel gefallen. Ein widriger, aufdringlich süsser, klebriger Gestank trübt die Luft und bedroht mich. Ich werde unruhig, will fort aus der Geruchsschwade, die mich verschluckt hat. Kann nicht. Doch schon scheint wieder die klare Sonne, Mutter, Vater, Geschwister spazieren heiter, friedlich, als ob wir nicht soeben einer grossen Gefahr entronnen wären. Sie heisst «Samengeruch».

(Drittes Lebensjahr. Die Erinnerung schlummert während Jahren, wird eines heissen Sommertags aufgestört; diesmal dringt der Geruch aus dem weiten Garten einer Villa, wieder das Grauen, der Fluchtimpuls. Viel später finde ich heraus, dass er von den saftklebrigen, dampfend schlappen Johannistrieben der Pappeln verströmt wird. Meine Reaktion auf diese übermächtige, künstlich gesüsste Ausdünstung bleibt dieselbe. Warum «Samengeruch»? Ich weiss es nicht.)

→Abwässer →Fabrikgerüche →Gestank →Tinte

Holzbär

Den rechten Arm weit vorgestreckt, in der Hand einen spannenlangen geschnitzten Holzbären, gehe ich durch die finstere Küche auf den Abort. Dort erledige ich das Geschäft, ergreife den Bären auf dem Fenstersims, ziehe am Holzgriff der Kette zum Spülkasten, ein bedrohlich tosender Wasserguss, ich reisse die Tür auf, schlage sie zu und taste mich, eine Armeslänge hinter dem Tier her, durchs Küchendunkel ins Wohnzimmer zurück.

(Drittes Lebensjahr. Ich wurde meine Angst vor dem Dämmer in der Küche und der Wucht der Spülung aus dem hoch oben an der Wand angebrachten Kasten nicht los. Die Mutter, müde, mich zu begleiten und mir beim Herunterlassen des Hosenladens zuzusehen, drückte mir den Holzbären in die Hand: er werde mich vor dem schwarzen Mann in der Küche beschützen und dafür sorgen, dass das Wasser nicht über den Rand der WC-Schüssel steige und mich in die Kanalisation hinunterspüle. Ich glaubte ihr ohne Wanken.

Ich wiederhole die Übung einige Male, dann ist die Furcht überwunden, und der Bär, seiner magischen Macht beraubt, verschwindet in einer Spielzeugschachtel; eine Brienzer Schnitzerei.)

→Abwässer →Das Bärlein →Erste Heimlichkeit

Erwachen mit drei Jahren

Sonnenlicht sintert durch Vorhänge ins Zimmer. Ich liege im weissen Gitterbett an der Hinterwand; die Betten meiner Geschwister stehen, etwas abgerückt von den Fenstern, an den Seitenwänden des Raums. Bald wird die Mutter kommen; ich liege still in meiner pochenden Erwartung und blicke auf die Tür ein paar Schritt vom Fussende des Bettchens. Draussen vor den Fenstern läuten Glocken; Sonne und Kirchengeläut sagen: Heut ist Sonntag.

Die Tür öffnet sich. Die Mutter geht quer durchs Zimmer, zieht die Vorhänge zurück, das Licht im Raum wird warm. Sie kommt auf mich zu, beugt sich lächelnd über die weissgestrichenen Holzstäbe des Gitters: Schnuusserli, itz weimer uuf (Flitzerchen, nun wollen wir aufstehen). Hast du gut geschlafen? Sie streichelt mir über beide Wangen, dann klinkt sie das Gitter aus und kippt es weg. Ganz nahe kommt sie, legt ihre Arme um mich und hebt mich hoch. Wir geben uns Küsse. Setzt sie mich auf den Bettrand? Stellt sie mich auf den Boden? Mich füllt Atem von Glück, Licht, Geläut. Es flimmert und blendet vor den Fenstern und auf dem Zimmerboden. Aufstehen, Gewaschenwerden, Honigbutterbrot, Kakao, alles miteinander möglichst schnell. In den Garten rennen, in die Sonne, zu den Goldfischen.

→Der weisse Pullover →Schneekönigin →Waschtag

Dr. med. Ginella

Entdeckt er mich im Garten, ruft er, ich laufe zu ihm hin, er hebt mich vom Boden hoch, herzt und küsst mich, überschüttet mich mit Kosenamen. Hat er Zeit, führt er mich an der Hand zum Springbrunnen und zeigt mir die Goldfische, die aus dem Schatten in die Sonne, aus der Sonne in den Schatten zucken, aufblitzend, erlöschend, geheimnisfarben. Ich liebe ihn; er steckt voller Zärtlichkeiten und Kleinigkeiten: Bald kramt er ein leeres Fläschchen aus seiner Tasche, bald ein Tierlein oder ein Bildchen.

Dass er Arzt ist, sagt mir sein Wagen; nur Ärzte dürfen Auto fahren. Über der Hinterachse ist ein Stehkessel montiert, Holzvergaser geheissen. Dr. Ginella lässt mich auf seinen runden Schultern zum Gartentor reiten, tritt hindurch. Linker Hand ist die Garage, rechter Hand hoch über mir sind die Nordfenster und die Terrassen der Wohnung im Obergeschoss, wo ich zu Hause bin. Ein verkrauteter Hof, Karrengleise und Kies. Dahinter ducken sich Herrn Aeschbachs Scheune und Stall. Drin steht Bobi, sein Pferd, das weisse Papierflocken frisst, «Zellulose», Ersatzheu, weiss ich; Pferdemägen können Zellulose verdauen. Diese Flocken werden von Maschinen hergestellt, aus Holz, um den Hafer zu strecken, denn es ist Krieg. Bobi frisst auch gelbes Heu; doch wenn der Bauer das Futter von hinten in den Trog schüttet, sticht mir im Halbdunkel des Stalls der Flockenschnee in die Augen.

Dr. Ginella stellt mich auf den Kies; ein letzter Kosename, für mich allein erfunden: Häärzchäberli. Bereits sitzt er im Wagen. Im Wegfahren winkt er, und ich winke und lache zurück. Ich drehe mich um, trete durchs Törchen in den Garten und schlage mich irgendwo im Hintergrund, wo er, von Obstbäumen in hohem Gras verschattet, ans Bahnhofsgelände stösst, in die Büsche. Auf den Gleisen schnupft und pfupft ein Glettiiseli, eine der kleinen zweiachsigen Verschiebeloks.

(Viertes Lebensjahr. Verschwunden der Garten, längst abgerissen Doktorhaus und Bauernhof. An ihrer Stelle stehen heute eine Bank und ein Supermarkt.)

→Alarmsirene und Schlachthaus →Der Grossvater

Zofinger Tagblatt, 1. Mai 1941
Fahrverbot für Automobile

Besessenheit

Ich bin vier oder fünf. Im Spiel fragt mich der Bruder: Was wosch lieber, es guldigs Nüüteli oder es silberigs Waarteli? Dabei hält er beide Hände hinter den Rücken. Ich will das goldene. Er holt die Rechte, zur Faust geschlossen, hervor, ich darf sie öffnen: nichts. Nun, so begnüge ich mich mit dem silbernen. Er holt die linke Hand hervor: wieder nichts. Betrogen! Der Schmerz lässt mich nicht ruhen, bis ich ihn im Traum wettmache.

Meine Eltern haben mir zum Geburtstag ein kleines Beil geschenkt – aus purem Gold. Mich überschwemmt atemloses Glück. Ich trage das Beil im Gürtel. Ich spalte kein Holz damit, denn es ist Zeichen, Würde und Waffe, eine unantastbare Seligkeit. Wenn ich es betrachte oder schwinge, gehe ich in der matt glimmenden Makellosigkeit des Goldes auf. Am Abend lege ich das Wunderding auf den Nachttisch – und erwache. Ich taste im Morgenlicht danach und finde nichts, suche im Bett, unter dem Bett. Mir dämmert, dass ich geträumt habe. Die Trauer über diese Beraubung verschattet mich wochenlang.

Mit sechs Jahren entdecke ich im Taschenkalender des Vaters die vier Mondphasensymbole: schwarze Scheibe mit eingezeichnetem Schlafgesicht für Neumond, senkrecht gestellter Türkenmond, nach links mit lachendem hellem, nach rechts mit griesgrämigem dunklem Gesicht für die zu- oder abnehmende Phase, heller Kreis mit lachendem Gesicht für Vollmond. Sogleich besetzen die Halbmonde meine Vorstellung in einem Mass, dass ich sie in jedem Gegenstand suche und das Bilderbuch vom Mond, der seine Fülle dem Wassermann verkauft, um jede Nacht dessen Gesang lauschen zu können, für kurze Zeit mein Liebling ist. Meine Zeichnungen von Wunderblumen bestücke ich mit Halbmonden; im Schlaf senken sich Monde golden leuchtend zu mir herab und umkreisen mich.

Die kleine Welt meiner Erfahrungen tritt unter den Aspekt des Mondes; er steckt verborgen in allen Formen, ich versenke mich in den Lach- und den Greinmond, begegne dem Gestirn, das meinen Schlaf behütet, in meinen und andrer halbmondförmigen Augen, in Schatten und Sonnenkringeln, Mailänder Backwerk, Anisbrötchen, im Flug der Vögel. Wonne erfüllt mich bei jeder Entdeckung eines weiteren Mondverwandten, als hättʼ ich plötzlich ein Rätsel, mir bisher unbewusst, gelöst.

→Astronomie →Der Bruder →Der weisse Pullover →Statistik

Lumpe legge

Mitgefiebert habe ich, doch in lebhafter oder fröhlicher Erinnerung ist mir kein Kinderspiel.

– Beim Lumpe legge stellte man sich im Kreis auf, blickte einwärts, jemand zählte an, und wen das letzte Wort traf, der lief aussen herum und liess im Rücken eines der im Kreis Stehenden ein Pfand, etwa sein Taschentuch, fallen. Merkte der Beschenkte dies nicht, bevor der Läufer seinen Platz im Kreis wieder eingenommen hatte, musste er das Pfand auflesen und seinerseits aussen herum rennen, um jemand andern zu überlisten. Ich mochte das Spiel nicht, fand es heimtückisch, hasste es, zwischen den zerkratzten Beinen hinter mich zu schielen.

– Unter den Anzählreimen ist mir Ääne dääne dio dee/dio dee di Salomee/Salomee di ggadigga/ggadigga di ggompsa der erste und unvergänglich geblieben, weil ich später erfahren habe, dass im ersten Vers die keltischen Zahlen eins bis vier stecken. Also haben schon die Kinder der Helvetier vor siebzig Generationen diesen Anzählreim heruntergeleiert und mit schmutzigen Fingerchen aufeinander gezeigt – und da hat es mir geschwindelt. Wie ist er damals zu Ende gegangen? Gewiss weder biblisch noch französisch.

– Spielte man Versteckis, legte einer die Hände vors Gesicht und zählte langsam und laut, die andern rannten. Zwanzig, und die Suche begann. Wer zuerst gefunden wurde, hatte die nächste Frist auszuzählen. War der Suchende ausserstande, jemanden aus dem Busch zu klopfen, rief er gedemütigt die Mitspieler aus den Verstecken und musste wieder den Polizisten machen.

zZiggi war ein Fangespiel, wo der Schnellere immer der Jäger und Angst der Stolz des Wilds war. War ich in die Enge getrieben und presste mich verzweifelt gegen einen Zaun oder ins Gebüsch, berührte mich der Schlag auf die Schulter wie ein kleiner Tod, auch sagt mir eine schwache Erinnerung, beim Ziggi hätten wir mitunter gleich Katzen mehrere Leben mit uns getragen.

Solche Spiele waren mir zuwider wie später das Schnellrechnen in der Schule. Heute scheint mir, dass derlei todernst wie die Kindheit selbst gemeint war, weder Spiel noch Befreiung, auch wenn Niederlagen nicht mit dem Leben, sondern nur mit Fluchten über schwankende Leitern in Alpträumen bezahlt werden mussten.

→Ersticken →Langweil →Schulschock

Kinderspruch

… und eersch dFranzoose
mit de rote Hoose,
mit de gääle Fingge –
schmöggsch wie si stingge?

Bin ich der letzte, der sich erinnert? Die böse Zunge hat ein erschreckendes Gedächtnis. Noch Mitte der vierziger Jahre hörte ich obigen freundnachbarlichen Vers, dessen Entstehung damals schon über siebzig Jahre zurücklag und von dem ich nur den Schluss noch weiss. Dass mir ausgerechnet diese Verse blieben, mag mit der Bereitschaft des Kindes zusammenhängen, sich besser und stärker als andre zu fühlen und sie lustvoll herunterzumachen.

Ein Ausdruck deutschschweizerischer Verachtung und Überheblichkeit angesichts der Niederlage Frankreichs im Krieg von 1870/1871. Die roten Hosen der Infanterie und die gelben, wahrscheinlich naturgegerbten Marschschuhe lebten in Schweizer Kinderhirnen weiter. Es gab also nicht nur das Bourbaki-Panorama und die grosszügige Beherbergung und Durchfütterung der französischen Ostarmee, sondern, untergründig glimmend, die Schadenfreude, dass der grosse Nachbar auf die Nase gefallen und sein Kaiser abgesetzt war. Man gönnte es der grande nation, dass ihre 80000 Mann starke Bourbaki-Armee sich der kleinen Schweiz ergeben und von Schweizern entwaffnen lassen musste. Vermutlich – darauf weist der Beginn – wurden erst die Deutschen, dann die Italiener oder Österreicher und am Schluss die Franzosen aufs Korn genommen.

→Führer →Krieg →Kriegsschuld →Liedgut →Schlagen

Aas

Sonntag. Wir spielen mit Cousins und Cousinen, die zu Besuch sind, vielleicht auch mit den Kindern W. aus dem Nachbarhaus, wo es immer nach abgestandenem Sauerkraut riecht. Auf dem Grasstück zwischen dem Garten von Dr. Ginella und dem Hof des Bauern Aeschbach hat jemand einen Gegenstand versteckt. Nahe dem Zaun wuchert hohes Unkraut, Gebüsch dunkelt. Ich bin am Suchen und habe plötzlich unter den Händen, die das Gras teilen, so nah, dass ich fast hineingegrapscht hätte, eine rötlichgräuliche, fliessende Fleischmasse, eine aufgeplatzte Ratte. Das Gedärm quillt schlabbrig hervor, und darin ringeln sich mästende Würmer über- und durcheinander. Ich zucke zurück, Grausen verschlägt mir die Stimme, der Magen dreht sich, doch kann ich mich nicht übergeben. Ich renne weg, weit weg von diesem Kothaufen des Bösen, durchs Gartentor in den umzäunten, geschützten Bereich des Doktorhauses.

→Erste Heimlichkeit →Der Geruch →Tödlein

Alarmsirene und Schlachthaus

Sie gleicht einem Storchennest und tanzt auf knickigem Stelzbein zuoberst auf dem Giebel des Schlachthauses, des grössten und höchsten Baus in der Ringmauer der Unterstadt. Sie zieht den Krieg auf sich, alle Zerstörung und Angst. Wenn sie zu heulen beginnt, an- und abschwellend, streut sie das Böse in die vier Winde und lässt das Entsetzen über mir zusammenschlagen. Auf dem dünnen Stahlrohr drehe sich, erklärt man mir, nur ein Metallteller, der von einem zweiten Teller bedeckt werde. Doch da ich die Sirene ebenso fürchte wie hasse, wage ich es nicht, sie genau anzusehen. Sie steht und droht abseits. Abgestellt im Augenwinkel, rächt sie sich fürs vorsätzliche Vorbeischauen, indem sie uns nächtens in den Keller des Doktorhauses an der Grabenstrasse scheucht, denn Bahnhof und Fabriken wären das Hauptziel eines Bombenangriffs, und wir wohnen mittendrin.

Zofinger Tagblatt, 24. November 1943
Verheerende Wirkungen des Luftangriffs auf Berlin. Die R.A.F. warf 2400 Tonnen Bomben ab

Insgesamt hielten sich die Geschwader 35 Minuten über Berlin auf. Etwa 20 Minunten nach dem ersten Bombenabwurf kam es zu einer gewaltigen Explosion, deren Wirkung bis zu 6500 Meter Höhe deutlich zu spüren war. Hunderte von Piloten bestätigten in der Vernehmung am Mittwoch, dass sie bisher in keinem Unternehmen eine derartig schwere Detonation mit Luftdruckwirkung in diesen Höhen wahrgenommen haben. Nach der Meinung der Artillerieleitung ist entweder ein Hauptmunitionsdepot oder ein riesiges Gaswerk in die Luft geflogen. «Die von uns allen beobachtete Explosion war unvorstellbar gewaltig. Plötzlich schoss ein glänzend weisses Licht auf, und darnach ging der Horizont langsam in eine rotglühende Farbe über.»

Auch das Schlachthaus behalte ich im Augenwinkel. Ich meide die Fegergasse, und muss ich doch durch, laufe ich den gegenüberliegenden Gehsteig entlang, vor die Füsse blickend oder einfach auf die Türen oder in die halbblinden Fenster der schmalbrüstigen Häuser. Sie sind klein, ärmlich, verlottert, denn im Dunstkreis des Schlachthauses können behäbige Häuser nicht gedeihen. Ein Bogentor gäbe Einblick. Ist die blutige Arbeit getan, am Nachmittag, steht es meist offen; Blut, Urin und Kot wird von Böden, Wänden, Winden, Haken und Messern abgespritzt, frische Luft wird eingelassen, denn Blut stinkt, und der Tod brüllt und quietscht mit Menschenstimme. Die Schauerlichkeit der verbotenen Innereien lockt, die das offene Tor auf obszöne Weise verheisst. Aber ich lasse mich nicht ertappen, lange Jahre nicht.

→Abwässer →Gassen →Hochkamine und Sirenen →Krieg

Tödlein

Die Mutter hat meinen Bruder und mich zu Bett gebracht. Als ein Geräusch mich weckt, herrscht bei heruntergelassenen Rolläden noch die Dämmerung eines langen Frühlingsabends. Ich drehe den Kopf nach dem Raspeln oder Kichern am Betthaupt und sehe den Tod, ein grauweissliches Skelett, so gross wie ein Teddybär. Rittlings hockt er auf der obern Bettlade, klappert mit Knochen und Gebiss und grinst, erfüllt von schauerlicher Lustigkeit, auf mich herab, im Begriff, mir an die Gurgel zu springen und mich fortzuschleppen. Vor Grauen stockt mir der Atem; ich tauche unter Laken und Bettdecke, einziger Fluchtweg, wenn auch sinnlos, da es für den Tod ein leichtes sein wird, mir nachzukriechen und mich nach kurzem Kampf in luftloser Finsternis zu erwürgen. Nass von Angstschweiss warte ich den Angriff ab. In dieser Lage muss ich wieder eingeschlafen sein und mich an die Luft zurückgestrampelt haben.

(Dieser Pavor des Sechsjährigen – wir wohnten bereits im Haus über der Stadt – holte den Tod zum ersten Mal aus Wort und Bild in die mich bedrohende Wirklichkeit. Er borgte seine Gestalt aus Alfred Rethels «Totentanz»; ich kannte das Holzschnittwerk über die revolutionären Barrikadenkämpfe des Jahres 1848 gut, es lag im verglasten Bücherschrank. Nun hatte ich den Tod «lebendig» gesehen und war ihm nur entronnen, weil sein Gekicher mich zu früh geweckt hatte. Monatelang blieb die Angst, im Schlaf von ihm überfallen zu werden. Der Begriff «Tödlein» nistete sich in meinem Wortschatz ein.)

→Ameisen – Todesspiel →Ersticken →Krieg →Löwentraum

Abwässer

Umweltschutz – kein Mensch hatte davon gehört. Unser aller Kot und Abfall floss stellenweise offen dahin und stach in die Nase.

Die chemischen wie die Farb und Düngerwerke hinter den Bahngleisen wurden im Süden und Westen von einer Mauer umschlossen, die sich über einer Böschung hinzog, ein kleiner Kanal an ihrem Fuss wurde vom Stadtbach gespeist. Das Wasser quoll aus einem Düker etliche Meter über dem Niveau der Bahnhofsunterführung, welche die Quartiere Henzmann und Brühl mit der Stadt verbindet. Wenn die Sonne es durchleuchtete, unterschied man Menschenkot, Papier, Blutgerinnsel und andern organischen Abfall, der träge kreiselnd dahintrieb. Hundert Schritt weiter bog der Kanal um die Ecke der Umfassungsmauer nach Norden ab, und nun überblickte man eine Anzahl dünner Stahlrohre, die in regelmässigen Abständen die Böschung am Fuss der Mauer durchstiessen und ihre Abwässer in den Kanal schütteten. Jedes Rohr führte eine andere Farbe. Es tröpfelte oder rann gelb, rot, grün, blau, orangefarben. Ob der schwache Anilingeruch aus diesen Röhren quoll oder im Räuchlein enthalten war, das zwei bleistiftschlanke blitzende Stahlkamine hinter der Mauer ausstiessen, war nicht zu entscheiden. Ich atmete ihn gierig.

Dann hatte man das Areal der Farben- und Lackfabrik sowie der chemischen Werke hinter sich, doch die Betonmauer setzte sich fort. Hinter ihr duckte sich nunmehr die Pestküche des Industrieviertels, eine Düngerfabrik. Über ihren Schuppen hing bei schönem, windstillem Wetter eine gelbliche Glocke Gestank; die Mauer musste ekelerregende Geheimnisse verbergen. Wehte die Bise, schlug einem scharfer Faul- und Fäkalbrodem ins Gesicht, bei Westwind presste er sich durch die Fensterritzen in die Wohnungen des Bündtenquartiers: das Plumpsklo im Schlafzimmer.

Ein Ruck an der Hand des Vaters, dass er stehenbleibt, denn die Mauer verbirgt nicht alles. In schwer abschätzbarer Distanz, vielleicht im Hof der Knochen- und Abfallmühle, dreht sich langsam ein haushohes Rad und schlenkert fetziges triefendes Gemengsel, Lumpen, Pflanzen, Fleisch und Fellreste durch die Luft, eine primitive Mischvorrichtung. Ich vermute heute, dass es sich durch ein Becken, gefüllt mit verrottendem Müll, gedreht und dafür gesorgt hat, dass die Brühe durchlüftet und die Faulgärung befördert wurde.

Das Rad war der Ort der Umkehr. Das Kanalwasser hatte nun eine ölige Mischfarbe, es schillerte bläulichbraunrot und schäumte uringelb hinter angeschwemmten Hindernissen. Der Graben verlor sich in der Talebene. Die Giftfracht hat mich nie gestört; sie war einfach da, schon seit Urzeit, und mir vertraut. In meiner Vorstellung bin ich auf dem Damm über dem fett schillernden Abwasserkanal zwischen versengten Grasböschungen weitergegangen, bis er sich in die Wigger, mit der Wigger in die Aare, mit der Aare in den Rhein und endlich ins Meer ergoss. Dort bezeugten feinverteilte bläulichbraunrote Schlieren, dass es uns, die stinkende Fabrikkleinstadt im unschuldigen Hinterhof Europas, gab.

→Aas →Brände →Fabrikgerüche →Gestank →Der Geruch →Tinte

Zofinger Tagblatt
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Eisenbahn

Der Bahnhof gleich hinter dem Garten von Dr. Ginella hornt, pfeift, rasselt, klenkt, dampft, zischt, raucht. Selbst nachts kündigt sich in der Ferne plötzlich ein schwaches Rollen an, schwillt zum Donnern eines durchfahrenden Güterzugs und verhallt erst nach langer Zeit. Im Gleis­areal hetzen und keuchen tagsüber zwei zweiachsige Verschiebedampfloks kurzatmig hinter den Güterwagen her. Die Geräusche des Bahnhofs bleiben mir Heimat, obschon ich mit fünf aus dem Quartier wegkomme; der Geruch heissen Schmieröls und halbverbrannter Kohle ist noch heute ein Zauber.

Die Güterzüge, verdreckt und zusammengewürfelt, kommen von fern, von viel weiter her als selbst die Schnellzüge. Diese hält der Bahnhofsvorstand an, die Güterzüge lässt er passieren; er verkriecht sich vor ihnen ins Stationsgebäude oder den langen Güterschuppen. Das in den plombierten Waggons oder mit Planen überdeckten Hochbordwagen transportierte Gut, unterwegs nach Deutschland oder Italien, duldet keinen Aufschub.

Unheimlich und der Verehrung würdig sind diese abgekämpften, zerbeulten, auf beschädigten oder ausgeleierten Achslagern vorüberhumpelnden Güterzüge. Sie kanalisieren den Krieg: In nur fünfzig Meter Distanz fahren sie an unsrem Haus vorbei. Zwar lautet die tröstliche Doktrin, dass Olten zuerst «drankäme», weil dort mit einem Bombenschlag das Eisenbahnkreuz der Schweiz zertrümmert würde. Doch ein Nachschlag auf die hiesigen Eisenbahnanlagen, die Brücke der Strassenunterführung, den Gaskessel und die wie Zunder brennenden und explodierenden chemischen Werke würde den Nord-Süd-Verkehr für eine gute Weile lahmlegen. Drum wohl holt die Mutter mich in Alarmnächten aus dem Gitterbett und trägt mich in den Keller. Später, im Haus ob der Stadt, ist dies nicht mehr nötig, obwohl der Krieg weiterwütet und die Bombardierungen näher rücken.

Im Süden des Bahnhofs staut ein fünfgleisiger Niveauübergang mit Fussgängerunterführung den Strom der Radfahrer aus Strengelbach und Vordemwald. Den Fussgängern vorbehalten ist die Passerelle, die der elektrischen Fahrleitungen wegen in einem Kasten aus feinmaschigem Drahtgitter hängt, das weit über meine Kopfhöhe reicht. Ein Totenschädel über gekreuztem Gebein warnt. Hier erfahre ich die fröhliche Brutalität der Eisenbahn.

Ich blicke durchs Gitter über die Gleise und auf die hoch gestapelten, blaugrünlich gestriemten Stämme der Holzkonservierung. Von Norden nähert sich das Höhöhö eines schweren Güterzugs in DampfDoppeltraktion, und einen Moment lang möchte ichʼs zum Stillstand bringen, das Dröhnen jagt die Angst vor sich her. Die vordere Lokomotive pustet aus dem Schatten des äusseren Bahnsteigdachs, die Passerelle beginnt zu vibrieren, die Angst schlägt um in ausgelassene Begeisterung. Die Maschinen donnern unter der Passerelle durch, zischender Dampf nimmt mir die Sicht und beinahe den Atem. Allmählich lichtet sich der wild wallende, vom Luftzug herumgewirbelte Nebel über einem schweren Rumpeln und Pumpeln wie im Bauch des Wolfs. Güterwagen, plump und machtvoll, rollen folgsam unter mir durch, in allen Farben von Rauch, Russ und Rost, Dach um Dach. Der Schwanz des Zugs wird vorbeigezogen, die auf- und abblakende rote Zugsschlusslaterne entfernt sich, die Luft ist wieder klar. Blaugrünlich der Stammstapel der Holzkonservierung.

Steht die Barriere des Niveauübergangs draussen im Altachenquartier offen, trete ich zwischen die Gleise und schaue nach Süden. Die Stahlschienen blitzen, die Luft flimmert; je ferner der Blick den Gleissträngen folgt, desto näher kommen sie sich, desto schwächer wird das Glimmern, desto stumpfer und dunstiger die Luft. Irgendwo hängt noch der Rauch des zuletzt vorbeigefahrenen Zuges. Italien – wo die Schienen sich schneiden.

Am Villenhügel hört man den Krieg und die Eisenbahn nur bei Westwind. Statt ihrer wird uns eine Märklin-Spielzeugbahn Spur 0 mit schwarzgespritzter Dampflok auf roten Rädern, Kohletender und einigen Personenwagen geschenkt; mir wäre ein müde kriechender Wurm von einem Güterzug lieber. Unter meiner Regie verkehrt die Bahn zwischen den Beinen des Esstischs und unter dem kleinen Buffet mit der Alabasterstanduhr aus Paris. Abenteuerlich istʼs, die Schienen erst zusammenzustecken und dann an düstere Orte zu schieben, die ich kriechend nicht erreiche, mich auf den besonnten Teppich in der Zimmermitte zu setzen und die Lokomotive loszuschicken. Sie erkundet in meinem Namen, da ich als Lokführer mitfahre. Auf sicheren Schienen unter dem leicht durchhängenden Stoffbauch des Ledersofas zirkulierend, nehme ich die Gegend in Besitz, und selbst an dunklen Orten wird das Unheimliche so schnell nicht nachwachsen.

Den Traum von einer Modellbahnanlage träume ich weit über die Kindheit hinaus. Meine Mutter, wohl um diese Leidenschaft wissend, hat mir den FCW-Katalog zugeschickt bis wenige Jahre vor ihrem Tod.

→Dampfdreirad →Dr. med. Ginella →Hochkamine und Sirenen →Krieg →Waldbahn

Zofinger Tagblatt, 10. Januar 1950
«Operation Schweiz»
Wie unser Land von den Truppen Hitlers überrumpelt werden sollte

Etwa am Morgen des zweiten Angriffstages ist mit der Ausweitung der Brückenköpfe zu rechnen, so dass drei Panzerdivisionen antreten können: Eine Division stösst von Basel aus in allgemeiner Richtung auf Solothurn vor, die zweite Division, von Waldshut ins Aaretal, dreht mit ihren Kolonnen fächerförmig auf Zofingen und Zürich ein, die dritte von Schaffhausen über Winterthur. Es kommt vor allem darauf an, den mit absoluter Sicherheit zu erwartenden «Panzerschreck» des Schweizer Heeres sofort kräftig auszunützen. Nach Erreichen der Linie Biel–Bern–Luzern–Zürich steht die Masse des Panzerkorps etwa am fünften Tage für andere Verwendung bereit.

[Aus der Zusammenfassung des 1943 von SS-General Böhme ausgearbeiteten Plans für eine bewaffnete Intervention in der Schweiz. ]

Intermezzo: Zügelmann Holderegger, Dienstkollege

Juli oder August 1943; wir ziehen aus dem Bahnhofsviertel um ins Haus über der Stadt. Es ist Krieg, es ist friedlich. Ich freue mich und bin traurig. Dr. Ginella wird mich nicht mehr auf seinen Schultern reiten lassen. Das Haus am Hügel hat zwar einen Terrassengarten, doch statt des Weihers mit Fontäne nur ein Brunnenbecken aus Sandstein sowie einen Brunnenstock, dessen Wasserhahn noch nicht funktioniert. Das Haus kommt mir wie eine verrauchte Höhle vor. Noch wird umgebaut; zusätzliche Fenster sowie Fenstertüren auf die Veranda werden eingesetzt, aus einer schmalen Ostveranda im oberen Wohngeschoss wird ein Zimmer mit breiter Fensterfront, dunkelgrüne Tapeten werden heruntergerissen, die neue Holztäfelung im Wohnzimmer wird von Malermeister Laug naturbehandelt, die Türen an den Oberenden der Treppen werden entfernt, ebenso die Treppenverschalungen, aus einem finstern Flur im Obergeschoss soll ein heller Aufenthaltsraum mit Rattanstühlen und einem Tischchen werden. In dieses Durcheinander halten wir Einzug.

Der Vater hat einen Dienstkollegen mit dem Umzug beauftragt, einen Soldaten seiner Territorialkompanie. Dienstkollegen offerieren bedeutend günstigere Tarife; unter Dienstkollegen wickelt man, wie unter Männern überhaupt, alles rasch und unkompliziert ab. Zudem hat Holderegger sich schon anderswo als Zügelmann bestens bewährt; für ihn spricht die restlose Zufriedenheit seiner Kunden. Der Mann hat eine grosse geschäftliche Zukunft.

Um sieben stellt er sich ein, untermittelgross, kraushaarig. Sein Fuhrpark besteht aus Pferd und flachem Ladewagen. Holderegger hievt die ersten Möbelstücke auf die Ladefläche, mit einem Krach fallen sie in die ideale Zügelposition und werden festgezurrt. Wissen wie, sagt Holderegger, ein Schnalzen, ein Zwick am Zügel, das Pferd ruckt an, die Ladung schwankt, Holderegger pfeift ein Liedchen zum Umzug. Erst die Grabenstrasse hinauf zum Untertor – Holderegger winkt gönnerhaft den wachehaltenden Steinlöwen zu –, dann mehr oder weniger ebenaus den Ringmauergärten entlang, vorbei an Gefängnis und Museum, durchs Neuquartier bis vor den Stadtsaal; nun gehtʼs zur Volière hoch; die Anfangssteigung der staubigen Rebbergstrasse wird von Holderegger und Pferd relativ frisch und rumpelnd bewältigt. Schon haben sie die Festhütte hinter sich, es ist acht. Hundert Meter weiter wird abgeladen, nun beginnt der Stutz, der Hangweg zum Haus hinauf. Ab hier muss gebukkelt werden.

Als Holderegger mit Donnerknall, begleitet von unheimlichem Knistern, das elegante Schränkchen für die Tischwäsche auf die Dielen des Esszimmers plumpsen lässt, sagt er zu mir, der in rückhaltloser Bewunderung seiner Könnerschaft und Bärenkräfte nebenher gelaufen ist: Früe it Hose git starchi Manne, hä? Itz holemer de nööchscht Siech. Um neun sind wir wieder an der Grabenstrasse.

Der Tag wird lang, erstickt beinahe unter schwerem klebrigem Blau, die Luft simmert, die Sonne trommelt, besseres Zügelwetter kann man sich nicht wünschen. Holderegger schleppt und buckelt Stück um Stück ins Haus über der Stadt. Irgendein Grossmöbel, das nicht die Treppen hinaufgetragen werden kann, sehe ich an Seilen vor der Hausfassade trudeln, woraus ich heute schliesse, dass Holderegger seinerseits kurzfristig einen Dienstkollegen engagiert haben musste; einer melkt am Flaschenzug, der andre mostet das schwere Stück durch ein Fenster ins Innere; es kratzt, knirscht, scherbelt, aber es geht, denn es muss, doo gits käi Bire. Was meine Begeisterung zusätzlich nährt, ist die an Bemerkungen ablesbare steigende Beunruhigung der Mutter. Scho wider isch zFurnier abgschlage, uder Schpiegu rächts ader Psüüche het ou eSchprung! Der Vorgang, dem ich Schritt für Schritt beiwohnen darf, muss von hoher Bedeutsamkeit sein.

Vier Uhr, der Tag ist eine glühende Pfanne, die Sonne schlägt Nägel in die Köpfe, und am Fuss des Rebberghangs – prachtvollste Südlage – schmilzt sie tropfend vom Himmel. Holderegger keucht und ächzt bergwärts, hitzerot, schweissüberströmt, ununterbrochen lästerlich fluchend i dere himuherrgottsieche Bruethitz. Ich laufe nebenher, noch immer, ein fünfjähriger Kobold und Quälgeist. Nicht dass ich mich an Holdereggers Pein weide, nein: Fasziniert trinke ich seine Fluchlitaneien. Nichts, das zwischen seinen paar Zähnen nicht zu Fluch und Lästerung würde. Den Ledersessel könnte er auf der Stelle ficken; die drei geschnitzten Renaissancestühle, hinter deren Armlehnenknäufen Holzringe ähnlich Vorhangringen klingeln, sind Huereböck, das machtvolle Pult des Vaters es Mischpviich; die kiesbestreute Steigung zum Haus heisst e gopfverfluemereti Rutschbaan, die Züglete generell en uhuere Schiissdräck, und der stinkende Säuplunder, den er, Holderegger, weil der Dienstkollege es ungern sähe, unterwegs nicht i Abfaau rüere darf, der kann ihn am Aarsch läcke.

Und so geschieht das Unausdenkbare. Beim Abladen einer der letzten Fuhren glitscht der grosse, mit Kirschholz furnierte, doppelstöckige Geschirrschrank aus Holdereggers schweissnassen Händen und kracht ins Kies. Doch das Möbel made in Italy beweist seine Klasse. Zwar zersplittert das Bein, das den Sturz auffängt, doch bleibt der Schrank inklusive Glastüren mehr oder weniger ganz. Nun lässt die Mutter ihrem Zorn freien Lauf: Cha dä Kärli eigetlech nid Soorg ha? Am groosse Chleiderschaft isch eTüürgriff ab uds Furnier am angere unge linggs ewägg. U diStüeu, diStüeu gse uus … U ietz daas! DsKlavier isch nonidemau zzüglet. Und ich spüre, in welch übler Lage der Vater ist, weil er Dienstkollege Holderegger engagiert hat. Hier muss er beschwichtigen und dort verhindern, was nicht zu verhindern ist.

Zur Katastrophe wird der Tag durch den Unfall meines Bruders. Er hat, wohl über Mittag, Holdereggers Ross auf dem Unkrautstück vor Bauer Aeschbachs Scheune geweidet, baarfis. Unerfahren im Umgang mit Pferden, hat er es an zu kurzem Zügel geführt. So stellt es denn eins der vier schweren Hufe auf seinen linken Fuss und belässt es so lange dort, bis eine Zehe unter dem Hufeisen gebrochen ist.

Was uns Kindern eingeprägt blieb, war Holdereggers sprachliche Kompetenz, deren Metaphern unmittelbar einleuchteten und von der vornehm zurückhaltenden Redeweise der Eltern brachial abstachen. Noch Wochen nachdem ein neues Schrankbein vom Tischler angesetzt, der Riss im Sofaleder vom Kürschner genäht, das Klavier gestimmt und das abgezwängte Pedal gerichtet, das Furnier angeleimt, der Spiegel in der Psyche ersetzt, die zerbrochenen Holzringe hinter den Armlehnenknäufen der Renaissancestühle wieder ganz waren, übten wir uns in Holdereggerschen Lästertiraden, und aus dunklen Gründen – vielleicht weil Dienstkollegen trotz allem Ehrenmänner sind oder weil Zitate nicht die moralische Brisanz autonomer Aussagen besitzen – verbot es uns niemand. Ja, die Mutter unterstützte uns mit ihrer wehmütigen Erinnerung an die Lieferung des Klaviers in Mailand, wo der Zügelmann von Ricordi & Finzi pfeifend, ohne je anzuecken, das Instrument durch vier Stockwerke hochgetragen habe. Ach ja, die Italiener, galant und kein böses Wort. Weisst du noch, Vater? Es gibt Situationen, da würde man es begrüssen, das Klavier wäre seinerzeit von Laurello e Hardino zuschanden geritten worden.

→Dienstmann Küpfer →Reisigsammlerinnen

Zofinger Tablatt, 13. September 1944
Verdunkelung aufgehoben; Grenzmarkierung am Tag. Massnahmen zum Schutz unseres Landes und Volkes

Die allgemeine Verdunkelung war am 6. November 1940 verfügt worden, als die Schweiz von ganzen Luftflotten wiederholt überquert worden war, mit Start England und Ziel Oberitalien.

Die Kriegslage hat sich (…) insbesondere seit Anfang September dieses Jahres für die Schweiz in zweifacher Hinsicht in grundlegender Weise geändert. Einmal sind die Kriegsschauplätze unserer Grenze wieder näher gerückt und dabei sind auch die Flugplätze weitgehend nach dem Kontinent verlegt worden. Damit haben die Durchflüge ganzer Bombergeschwader durch unser Land aufgehört, da von den kontinentalen Flugplätzen aus die Ziele auf direktem Wege erreicht werden können. Sodann stossen wieder beide kriegführenden Parteien auf unsere Landesgrenze. Eine nicht verdunkelte Schweiz kann daher nicht mehr als Wegweiser für die eine oder andere Kriegspartei angesehen werden, und es können sich daraus für beide Parteien weder Vor- noch Nachteile ergeben. Die vollständige Parität ist wiederhergestellt.

II. Freiheit

Flachmaler Siegrist

Im Auftrag von Herrn Laug, dessen Malergeselle er ist, laugt Herr Siegrist das dunkelbraune Haus ab, das wir bezogen haben. Er wird, sagt die Mutter, den kratzend scharfen Gestank des Salmiakgeists entschuldigend, die natürliche Holzfarbe ans Licht holen und die Balken mit einem Firnis schützen. Für mich braucht der Gestank keine Entschuldigung, denn ich liebe und bewundre Herrn Siegrist; jeden Morgen erwarte ich sehnlich sein Kommen. Er pfeift oder singt auf der Leiter, die er von der Hausterrasse über die Veranda hinweg an die Südfront gelehnt hat. In Schwaden Salmiakgestanks weit oben zwischen den Fenstern der Schlafzimmer schrubbt er mit Schwamm und Bürste.

Kaum stehe ich unten auf der Terrasse und schaue zu ihm hinauf, hält er inne, dreht sich um und ruft: Grüss dich, Ernstli, hast du gut geschlafen? – Ja, gebe ich zur Antwort, doch wissen Sie, ich bin schon lange auf. Haben Sie auch gut geschlafen, Herr Siegrist? – Wunderbar, sagt er, heute ist so recht Kinderfestwetter, da schafft einer doppelt so gern. – Aber das Kinderfest ist schon vorbei, gebe ich zur Antwort, und Mutti bittet Sie in einer halben Stunde zum Znüüni. – Oh! – Herr Siegrist schnalzt mit der Zunge –, merci, und richte deiner Mama aus, wir werden bis dahin den Giebel heruntergewaschen haben. Er wendet sich wieder der Wand, Schwamm, Bürste und Kessel zu und produziert, «Vo Lozäärn gäge Wäggis zue» oder «Im Aargöi sind zwöi Liebi» pfeifend, kratzend scharfen Gestank.

Ich stehe unschlüssig am Fuss der Leiter in der Sonne. Mir ist klar, dass ich nicht dürfte, doch ebensowenig hat es mir jemand verboten. Ich steige auf die unterste Sprosse, setze den linken, dann den rechten Fuss auf die zweitunterste; der Sprossenabstand ist riesig, doch es geht. Sobald ich mit beiden Füssen fest stehe, löse ich eine Hand, greife über den Kopf, kralle sie um die nächsthöhere Sprosse, die andre Hand folgt, dann ziehe ich die Füsse nach.

Der Gestank wird ätzend, ich möchte husten, könnte mich übergeben, doch der Stolz obsiegt, Schwindel empfinde ich keinen. Schon hänge ich auf der Höhe des ersten Obergeschosses und blicke durch ein geschlossenes Fenster in die Höhle des väterlichen Studierzimmers. Wenn die Mutter mich sehen könnte! Wenn sie mich nur nicht sieht! Ich klettere weiter.

Als ich hinter den Fenstern im zweiten Obergeschoss mein eigenes Bett unterscheiden kann, wird mir mulmig. Gut, dass die Marschschuhe des Flachmalers mich stoppen. Her Sigrischt, lueget Si! Er hört auf zu pfeifen und dreht sich um. Jesses Gott! ruft er halblaut. Chumm, mer stiiged ietz schöön süüferli abe, und hebdi fescht ade Säigel, i mues äinewääg noomische. Gemächlich, einer hinter dem andern, er seinen Kessel samt Schwamm und Bürste in der Hand, steigen wir ab. Als wir auf den Granitplatten vor der Tür zur Waschküche stehen, beugt er sich plötzlich zu mir herab und hebt mich hoch: Gäll, znööchschtemool gömmer mitenand. Er schüttelt mich leicht, halb lachend, halb eindringlich ernst, dann stellt er mich auf die Füsse.

→Fabrikgerüche →Gestank →Waschtag

Das Bärlein