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Souverän durchs Leben mit Typ-2-Diabetes

KARL SCHEIDEGGER

Souverän durchs Leben
mit Typ-2-Diabetes

Die besten Tipps zum Vorbeugen und Behandeln

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Dank

Vielen Dank Prof. Dr. med. Bernd Schultes, Dr. med. Alexander Spillmann und Dr. med. Christopher Strey für die Durchsicht des Manuskripts und die Beantwortung der Interviewfragen. Trotz übervollem Terminkalender haben sie die zeit-intensive Arbeit des kritischen Durchlesens auf sich genommen. Vielen Dank auch Prof. Dr. med. Marc Donath für die Beantwortung der Interviewfragen.

Speziell danken möchte ich der Ernährungsberaterin Frau Rita Fricker für die sorg-fältige Durchsicht der beiden Ernährungskapitel und für die daraus resultierenden Anregungen. Meiner Frau Ruth danke ich herzlich für die spontane Bereitschaft, mich während des Schreibens gänzlich zu entlasten von den üblichen Pflichten eines Neupensionärs.

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Beobachter-Edition

© 2018 Ringier Axel Springer Schweiz AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

www.beobachter.ch

Herausgeber: Der Schweizerische Beobachter, Zürich, zusammen mit diabetesschweiz (Schweizerische Diabetes-Gesellschaft) und Schweizerische Diabetes-Stiftung, Baden

Lektorat: Christine Klingler Lüthi, Wädenswil

Umschlaggestaltung: Jacqueline Roth, Zürich

Umschlagfoto: Getty Images/iStock

Reihenkonzept: buchundgrafik.ch

Satz: Bruno Bolliger, Gudo

e-Book: mbassador GmbH, Luzern

ISBN 978-3-03875-091-8
eISBN 978-3-03875-114-4

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Inhalt

Vorwort

image Diabetes – und jetzt? Eine Einführung

Diabetikerin, Diabetiker – was bedeutet das?

Diagnose und erste Massnahmen

Was ist Diabetes mellitus?

Ein Name, viele Typen

Typ-1-Diabetes

Typ-2-Diabetes

Schwangerschaftsdiabetes

Weitere Diabetesformen

Typische Symptome

image Typ-2-Diabetes: Vorbeugen lohnt sich

Die Risikofaktoren kennen

Typ-1-Diabetes: Beobachtungen und Vermutungen

Typ-2-Diabetes: Gehören Sie zur Risikogruppe?

Diabetes in der Schwangerschaft

Übergewicht und die Folgen

Bin ich übergewichtig?

Insulinresistenz: Wenn das Fett die Arbeit des Insulins behindert

Vom gefährlichen Fett, zum Beispiel in der Leber

Dem Typ-2-Diabetes vorbeugen

Den Körper bewegen – egal wie

Den Kilos an den Kragen

Gesundes Essen schmeckt nicht? Von wegen!

image Warum es wichtig ist, den Diabetes zu behandeln

Sie fühlen sich besser, hier und jetzt

Sich vom Diabetes wieder verabschieden?

Folgeschäden sind rückläufig

Wenn die Blutgefässe zu schnell alt und eng werden

Diabetestherapie: eine kurze Vorschau

Hypoglykämien vermeiden

Was ist eine Hypoglykämie?

Die Symptome erkennen

Viele Typ-2-Diabetiker sind nicht gefährdet

Häufige Ängste

Zucker hilft!

Ihr Diabetes-Team

Der Key-Player sind Sie

Der Arzt, Ihr Begleiter

Die Ernährungsberaterin

Die Diabetesfachberaterin

Und die Angehörigen?

Weitere Fachleute nach Bedarf

Ziel ist eine gute Stoffwechselkontrolle

Blutzuckermessungen und Stoffwechselkontrolle

Welches Messgerät passt zu mir?

Digitale Protokollierung oder Kontrollheft?

INTERVIEW zur Blutzuckerselbstmessung

Langzeitzucker – was ist das?

Ärztliche (HbA1c-)Kontrollen: Wie oft?

Der sinnvolle Jahres-Check

image Das Ernährungs-ABC

Kohlenhydrate sind unser Treibstoff

Kohlenhydrate und Insulin

Zuckerarten: ein Überblick

Schnelle und langsame Kohlenhydrate: Der glykämische Index

Fette – nicht einfach schlecht

Wozu braucht es Fett überhaupt?

Fett ist nicht gleich Fett

Bitte keine Transfette!

Eiweiss – Bausteine des Lebens

Wie viel pro Tag?

Keine Zusatzarbeit für kranke Nieren

Von Wasser, Salz, Vitaminen und Co.

Wasser – das Lebenselixier schlechthin

Salz: nicht zu wenig, nicht zu viel

Nahrungsfasern: Unnötiger Ballast?

Vitamine: Klar, aber …

Was Menschen mit Typ-2-Diabetes über Alkohol wissen müssen

Gesundes auf den Tisch

Die Lebensmittelpyramide

Mediterran oder nordisch essen?

Ersatz für Zucker? Süssstoffe, Zuckeraustauschstoffe

Vegetarisch oder vegan essen mit Diabetes

Muss ich das Essen abwägen?

Diese Kilos müssen weg

Das leidige Thema der Energiebilanz

Hungersnot im Schlaraffenland

Keine Crashdiäten!

Erfinden Sie Ihre eigene Diät

image Bewegen, bewegen, bewegen

Wunderpille Bewegung

Es geht nicht um Sport

Und plötzlich ist das Insulin wieder wirksam

«Aus mir kann man keine Sportlerin machen.» Ist auch nicht nötig

Schlank und untrainiert? Oder doch lieber übergewichtig und fit?

Zurück zum Sport von früher?

Krafttraining und der Blutzucker

image Tabletten, Insulin, Chirurgie

Medikamente – Wirkung und Nebenwirkungen

Ein Wort zum Beipackzettel

Polypharmazie: Mehrere Medikamente kombinieren

Medikamente gegen Diabetes

Die Medikamentenklassen: Gleiche Krankheit – unterschiedlicher Wirkmechanismus

Welches Medikament passt für mich?

Kann ich bei der Wahl der Therapie mitbestimmen?

Insulintherapie

Insulin ist keine Strafe

Warum führt Insulin zu einer Gewichtszunahme?

Wann ist Insulin angezeigt?

Insulinpens sind einfach zu handhaben

Insulintherapie – massgeschneidert

Insulin plus Tabletten?

Wieso nicht gleich ein Mischinsulin?

Volle Flexibilität mit der Basis-Bolus-Insulintherapie

INTERVIEW zum Thema Insuline

Bariatrische Chirurgie

Bei Typ-2-Diabetes einfach operieren?

Gewichtsverlust garantiert

Wie funktionieren die Operationen?

Nicht selten verschwindet der Diabetes

Risiken und Nebenwirkungen

Wer bezahlt?

INTERVIEW zur bariatrischen Chirurgie

image Spezielle Situationen

Wenn Diabetiker krank werden

Diabetesmedikamente während der Krankheit

Krank unter einer Insulintherapie

Hungerazeton und Krankheitsazeton

Mit Diabetes im Spital

Vorsicht Cortison

Mit Diabetes am Steuer

Gesetzliche Regelungen

Zu welcher Risikogruppe gehöre ich?

So lassen sich Hypoglykämien vermeiden

Reisen mit Diabetes

Eine gute Vorbereitung ist das A und O

Mit Insulin im Flugzeug

Zeitverschiebung und Insulin

Vom Essen auf Reisen

Reiseverzicht in Ausnahmefällen

Diabetes im hohen Alter

Mehr Toleranz bei den Werten

Hypoglykämien sind schwerer zu erkennen

Betagte Menschen ernähren sich oft mangelhaft

Unterstützungsangebote nutzen

image Nicht immer bleibt der Diabetes folgenlos

Folgeschäden erkennen und behandeln

Retinopathie: Wenn der Diabetes ins Auge geht

Nephropathie: angegriffene Niere

Der diabetische Fuss

Wenn die Lust zum Frust wird

Wie viel Zucker ist gut fürs Herz?

Den Diabetes allein zu behandeln genügt nicht

Eine Studie bewirkt ein Umdenken

Bluthochdruck (Hypertonie)

Zu hohe Blutfettwerte

INTERVIEW zur zukünftigen Therapie des Typ-2-Diabetes

image Anhang

Tabellen

Links

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Ja, es ist ein Handicap, einen Diabetes zu haben! Einschränkungen, Verbote, Insulin … Und dann lesen Sie von einem Olympiasieger, der einen Diabetes hat; und von der Ministerpräsidentin eines wichtigen Landes, die Diabetikerin ist. Geht es da wirklich um die gleiche Krankheit?

Tatsächlich bietet das Leben mit Diabetes weiterhin fast grenzenlose Möglichkeiten – und nur ein paar Einschränkungen. Für ein erfülltes «Diabetikerleben» müssen Sie den ungebetenen Gast aber akzeptieren können. Und dazu braucht es Wissen über diese Krankheit. Mit fundierten Kenntnissen und zunehmender Erfahrung werden Sie gelassener mit dem Diabetes umgehen können, weil vieles im Alltag für Sie voraussehbar, erklärbar und steuerbar wird. Die Angst vor der Zukunft hat nur noch einen unbedeutenden Platz.

Ich bin sehr dankbar, dass ich während Jahrzehnten viele Menschen mit Diabetes begleiten durfte. Es sind daraus auch Freundschaften entstanden. Gerne gebe ich in diesem Buch Erfahrungen, die ich machen durfte, weiter. Es war dabei nicht die Absicht, eine Do-it-Yourself-Anleitung für den Alltag mit Diabetes zu schreiben und damit das so wichtige Diabetes-Team überflüssig machen zu wollen. Arzt oder Ärztin, Diabetesfachfrau, Ernährungsberaterin und andere Fachpersonen sollen Sie weiterhin auf Ihrem Weg begleiten. Das durch dieses Buch erworbene Wissen über zahlreiche Aspekte des Diabetes mellitus soll Ihnen in erster Linie helfen, auf Augenhöhe mit Ihren Begleitern und Begleiterinnen des Diabetes-Teams diskutieren zu können. Sie sollen gemeinsam Entscheidungen treffen können, die Ihnen weiterhin ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen, das nicht vom Diabetes beherrscht wird.

Gönnen Sie sich beim Lesen immer wieder eine – möglichst bewegte! – Pause.

Karl Scheidegger

im April 2018

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Diabetes – und jetzt? Eine Einführung

Den Diabetes mellitus kannte man schon im Altertum. Selbst-verständlich ist heute das Wissen über die Krankheit unendlich viel grösser und die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten sind sehr gut. Das Wichtigste ist jedoch die Erkenntnis, dass man im Fall des Typ-2-Diabetes der Krankheit nicht hilflos aus-geliefert ist, sondern ihr aktiv entgegenwirken kann.

Diabetikerin, Diabetiker – was bedeutet das?

Sie hatte es geahnt, die 53-jährige Frau O., dass etwas nicht in Ordnung war. Aber auf die Diagnose eines Diabetes mellitus war sie überhaupt nicht vorbereitet. Sie verlässt die Arztpraxis dank ihrer sehr kompetenten Hausärztin dennoch ziemlich gefasst.

Frau O. fühlte sich seit einigen Wochen vermehrt müde und unerklärlich lustlos. Ihr früher guter Schlaf wurde regelmässig unterbrochen, weil sie dringend auf die Toilette musste. Erfreulich war immerhin, dass sie in dieser Zeit drei Kilo ihres seit Langem deutlichen Übergewichts losgeworden war. Allerdings gab auch dies nicht Anlass zu ungetrübter Freude. Sie hatte nämlich gar nicht versucht, abzunehmen, und wusste, dass ungewollter Gewichtsverlust nicht immer Gutes verheisst.

Diagnose und erste Massnahmen

Frau O. sucht ihre Hausärztin auf und schildert ihr die Probleme. Der Ärztin ist schnell klar, in welche Richtung sie abklären muss, zumal sie auch Frau O.s betagten Vater betreut, der seit ein paar Jahren immer wieder leicht erhöhte Blutzuckerwerte hat.

Das Resultat der Blutzuckermessung bestätigt ihren Verdacht: Der Wert liegt mit 14,7 mmol/l1 deutlich zu hoch. Die Diagnose eines Diabetes mellitus ist damit bereits gesichert. Auch wenn die Hausärztin die richtigen Worte findet, ist Frau O., die von den leicht erhöhten Blutzuckerwerten ihres Vaters nichts weiss, zunächst schockiert. Ihre ersten Gedanken sind «Insulin spritzen» und «eine Diät befolgen».

Die Ärztin sieht das allerdings nicht so dramatisch. Sie bleibt völlig ruhig und stellt Frau O. sogar in Aussicht, anfänglich nicht einmal Tabletten nehmen zu müssen.

Sie empfiehlt ihrer Patientin als Erstes, ab sofort gänzlich auf Süssgetränke zu verzichten und die Menge der Stärkebeilagen (Kohlenhydrate) zu den Mahlzeiten zu halbieren. Zudem ermuntert sie Frau O., so regelmässig wie möglich etwa 30 Minuten pro Tag zu Fuss unterwegs zu sein.

Bevor die für Frau O. leider denkwürdige Arztkonsultation abgeschlossen wird, vereinbaren die beiden Frauen noch einen Aktionsplan für die nähere Zukunft. Die Ärztin betont, dass dies alles keine Notfallmassnahmen seien:

Nochmalige Konsultation zur Durchführung einer körperlichen Untersuchung. Dabei möchte die Ärztin auch die Füsse kontrollieren.

Anmeldung zur Ernährungsberatung. Es sollen vorerst die Prinzipien einer diabetesgerechten Ernährung besprochen werden. Frau O. wird auch konkrete Menüpläne bekommen. Später soll das Augenmerk dann auf eine leicht kalorienreduzierte Kost gelegt werden, damit sie das Gewicht langsam reduzieren kann.

Anmeldung bei einer Diabetesfachfrau zur Instruktion der Blutzuckerselbstmessung. Die Hausärztin möchte Frau O. von Anfang an aktiv in die Therapiekontrolle mit einbinden. Es sind keine Routinemessungen vorgesehen.

Frau O. soll sich überlegen, welche Form von regelmässiger körperlicher Aktivität ihr Spass machen könnte. Wahrscheinlich wird sie als Erstes ein Probetraining bei der Nordic-Walking-Gruppe besuchen, die seit längerer Zeit im Dorf aktiv ist.

Die Hausärztin sieht vor, nach Normalisierung der Blutzuckerwerte weitere Laborkontrollen durchzuführen. Sie möchte vor allem Bescheid wissen über die Nierenfunktion, die Leberwerte und die Blutfette. Die Resultate sind aber aussagekräftiger, wenn sie nicht jetzt, bei noch unbehandeltem, erhöhtem Blutzucker, gemessen werden.

Vereinbaren eines Termins mit dem Augenarzt zur Kontrolle des Augenhintergrundes, um sicher zu sein, dass der bisher nicht bekannte Diabetes keine Schäden angerichtet hat

Frau O. verlässt die Praxis ihrer Hausärztin nicht glücklich, aber ziemlich angstfrei. Sie weiss, dass die richtigen Massnahmen zur Kontrolle des Diabetes eingeleitet worden sind, und ist froh, dass nichts notfallmässig geschehen muss. Entsprechend kann sie sich auch Zeit nehmen, den Diabetes Schritt für Schritt kennenzulernen.

Was ist Diabetes mellitus?

Der Begriff ist aus einem altgriechischen (diabainein = hindurchfliessen) und einem lateinischen Wort (mellitus = zuckersüss) zusammengesetzt und bedeutet «zuckersüsser Durchfluss». Schon im Altertum stellte man nämlich fest, dass es eine Krankheit gibt, bei der Betroffene einen süssen Urin haben. Weil der Diabetes mellitus heute extrem häufig ist, nimmt man es mit der korrekten Bezeichnung oft nicht sehr genau. Man begnügt sich, über den «Diabetes» zu sprechen. Das bei uns früher verwendete Wort «Zuckerkrankheit» ist hingegen nicht mehr gebräuchlich.

Als Diabetes mellitus wird jeder Zustand bezeichnet, bei dem der Zuckerspiegel (Glukose) im Blut über ein bestimmtes Niveau ansteigt. Dafür verantwortlich ist das Insulin, ein in den Betazellen der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) produziertes Hormon. Damit ein Diabetes entstehen kann, muss ein Mangel an Insulin auftreten oder eine Situation, in der Insulin vermindert wirkt, eine Insulinresistenz (mehr dazu ab Seite 29).

Insulin wirkt wie ein Schlüssel. Seine wichtigste Aufgabe ist es, die Türen der Zellen zu öffnen, damit der in den Blutgefässen transportierte Zucker dort eintreten und als Treibstoff genutzt werden kann.

image INFO Der Diabetes mellitus ist immer das Resultat eines Insulinmangels oder einer Insulinresistenz. Beide können auch gleichzeitig vorhanden sein.

Diabetes ist weltweit auf dem Vormarsch

Es mag ein geringer Trost sein, aber mit Ihrem Diabetes sind Sie nicht allein. Es gibt heute weltweit über 415 Millionen Menschen mit Diabetes. Bis 2030 sollen es nach Schätzungen der Internationalen Diabetesföderation (IDF) gar über 550 Millionen Betroffene sein. Diese rasante Zunahme hat viel zu tun mit unserer Lebensweise: Überall dort, wo es zunehmend Autos, Fernseher, Fast Food und Süssgetränke gibt, erkranken Menschen häufiger an Diabetes.

Um einem störenden Missverständnis bereits jetzt vorzubeugen: Selbstverständlich braucht es auch und in erster Linie eine genetische Veranlagung, um Diabetiker, Diabetikerin zu werden. Es trifft nicht einfach diejenigen mit einem besonders gesundheitsschädigenden Lebensstil. Zumindest in vielen zivilisierten Ländern ist der grösste Teil der Bevölkerung körperlich weniger aktiv als frühere Generationen und das Angebot an – oft industriell verarbeiteten – Lebensmitteln ist praktisch unbegrenzt. Ohne entsprechende Erbanlagen bleiben trotzdem viele Menschen von Stoffwechselstörungen verschont.

image INFO Am meisten Diabetiker gibt es weltweit mit über 100 Millionen in China, in Indien sind es fast 70 Millionen, in den USA fast 30 Millionen und in Russland und Brasilien je rund 13 bis 14 Millionen. Insgesamt sind heute über 8 % der Weltbevölkerung von Diabetes betroffen. Prozentual gibt es erhebliche Unterschiede. Diese sind genetisch bedingt. Speziell gefährdet sind Menschen im Nahen Osten, in China, Indien und Sri Lanka. Sie haben bei gleicher Grösse und gleichem Gewicht einen höheren Anteil an Körperfett als zum Beispiel Europäer, was den Typ-2-Diabetes begünstigt.

Absolute «Weltmeister» bezüglich Diabeteshäufigkeit sind Urvölker (In-digene), etwa die Pima-Indianer in Arizona, die Nauruer in der Südsee oder die Aborigines in Australien. 50 % der Pima-Indianer haben einen Diabetes, also jeder zweite. Man erklärt sich dies damit, dass die Urvölker direkt aus dem Mittelalter in die Überflussgesellschaft katapultiert worden sind. Ihr Körper hatte keine Zeit, sich langsam an die neuen Verhältnisse anzupassen. Die Gene, die ihnen noch vor wenigen Jahrzehnten halfen, Hungersnöte zu überstehen, sind offensichtlich für den modernen Lebensstil wenig geeignet.

Und in der Schweiz?

Weil der Diabetes mellitus keine meldepflichtige Krankheit ist, sind nur ungefähre Zahlen bekannt. Sie basieren auf den Verkaufszahlen von Insulin, blutzuckersenkenden Tabletten und Glukosemessstreifen einerseits, den Todesursachenstatistiken und der Schweizerischen Gesundheitsbefragung andererseits. Man schätzt, dass es in der Schweiz knapp 500 000 Betroffene gibt, davon rund 35 000 Typ-1-Diabetiker.

Ein Name, viele Typen

Die WHO unterscheidet vier Diabetestypen: den Typ-1-Diabetes, den Typ-2-Diabetes, den Schwangerschaftsdiabetes und «andere Diabetesformen», ein Sammelsurium ganz unterschiedlicher Probleme des Glukosestoffwechsels.

Sie haben vielleicht schon von einem Typ-1- und einem Typ-2-Diabetes gehört. Und die Begriffe «Jugenddiabetes» und «Altersdiabetes» sind Ihnen auch noch bekannt. Es gibt tatsächlich verschiedene Diabetesformen. Allen gemeinsam ist definitionsgemäss ein erhöhter Glukosegehalt im Blut. Die zugrundeliegenden Störungen sind aber sehr vielfältig.

Typ-1-Diabetes

Der Typ-1-Diabetes, von dem weniger als 10 % aller Diabetiker betroffen sind, ist eine sogenannte Autoimmunkrankheit. Eine solche entsteht, wenn der Körper oder genauer das Immunsystem ein Organ oder Teile davon fälschlicherweise als etwas Fremdes betrachtet und deshalb versucht, sie abzustossen. Beim Diabetes sind dies die Betazellen der Bauchspeicheldrüse (Pankreas), des Produktionsorts des Insulins. Diese Zellen werden zerstört und in der Folge tritt ein Insulinmangel auf. Typ-1-Betroffene müssen das Insulin deshalb zeitlebens ersetzen.

image INFO Der Typ-1-Diabetes trifft oft bereits Kinder und Jugendliche. Er kann aber bei Personen in jedem Lebensalter auftreten. Der Begriff «Jugenddiabetes» wird deshalb nicht mehr verwendet.

Typ-2-Diabetes

Hauptmerkmal beim Typ-2-Diabetes, der häufigsten Diabetesform, ist in sehr vielen Fällen die Insulinresistenz: Die Bauchspeicheldrüse produziert zwar noch Insulin, der Körper kann dieses aber nicht wirksam genug einsetzen. Die Insulinresistenz wird, neben einer genetischen Veranlagung, gefördert durch Übergewicht und Bewegungsmangel (mehr dazu auf Seite 29).

image INFO Der Typ-2-Diabetes ist hauptsächlich eine Krankheit der zweiten Lebenshälfte. Dennoch sollte man nicht mehr vom «Altersdiabetes» sprechen. Bei ausgeprägtem Übergewicht, im Fachbegriff Adipositas, ist diese Diabetesform zunehmend auch schon im Jugend- und frühen Erwachsenenalter anzutreffen.

Der Typ-2-Diabetes hat sozusagen zwei Geschwister: Er tritt sehr oft zusammen mit hohem Blutdruck und einer Störung des Fettstoffwechsels auf. Sind die Betroffenen auch noch übergewichtig, spricht man von einem «metabolischen Syndrom».

Schwangerschaftsdiabetes

Tritt eine Störung des Glukosestoffwechsels erstmals während einer Schwangerschaft auf, spricht man von einem Schwangerschaftsdiabetes oder Gestationsdiabetes. Der Schwangerschaftsdiabetes ist häufig, er betrifft etwa 10 bis 15 % aller schwangeren Frauen. Bei fast allen verschwindet er unmittelbar nach der Geburt wieder. Bei 30 bis 50 % der betroffenen Frauen tritt allerdings in späteren Jahren ein Typ-2-Diabetes auf.

Weitere Diabetesformen

In diesem Sammeltopf finden sich alle anderen, eher seltenen Diabetesformen. Ein klassisches Beispiel sind schwere Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse oder deren Entfernung. Im Weiteren sind einige immer familiär auftretende Störungen des Glukosestoffwechsels bekannt, die auf die Schädigung eines einzelnen Gens zurückgeführt werden können (sogenannte monogenetische Diabetesformen). Der Defekt kann sowohl im Bereich der Insulinproduktion – in den Betazellen des Pankreas – als auch bei der Insulinwirkung an den Zielorganen liegen. Auch die Überfunktion gewisser Hormondrüsen kann zu einem Diabetes führen: Wenn die Gegenspieler des Insulins – wie Adrenalin, Cortisol, Glukagon oder Wachstumshormone – vermehrt produziert werden, vermindert sich selbstverständlich die Insulinwirkung. Und schliesslich können auch Medikamente und gewisse Giftstoffe diabetogen, also Diabetes auslösend, wirken. Bekanntestes Beispiel ist das Cortison (siehe Seite 185).

Typische Symptome

Ein stark erhöhter Blutzucker führt dazu, dass viel Zucker im Urin ausgeschieden wird. Der Zucker «reisst» dabei Wasser mit sich. Betroffene müssen daher übermässig viel Wasser lösen. Der grosse Wasserverlust wiederum macht starken Durst. Über eine Veränderung des Wasserhaushaltes in den Linsen des Auges bewirkt er zudem flüchtige Sehstörungen. Der Insulinmangel beziehungsweise die abgeschwächte Insulinwirkung bringt den Stoffwechsel aus der Bahn. Nicht nur Zucker wird vermehrt ausgeschieden; auch Fett und Eiweiss werden abgebaut und gehen verloren. Es resultiert oft ein deutlicher Gewichtsverlust.

image INFO Häufiges Wasserlösen, Durst, flüchtige Sehstörungen, Gewichtsverlust, zudem vermehrte Müdigkeit lassen an einen Diabetes mellitus denken. Einen Diabetes in Betracht ziehen sollte man auch bei Hautinfekten, bei häufigen Blasenentzündungen und bei Entzündungen der Vorhaut oder der Eichel beim Mann beziehungsweise bei (wiederholtem) Auftreten von Scheidenpilz bei der Frau.

Unterschiedliche Symptome je nach Typ

Bei einem Typ-1-Diabetes kann man fast immer mit ausgeprägten Symptomen rechnen. Es gilt dann eigentlich nur noch, den Verdacht bei einem Arzt, einer Ärztin abzuklären.

Zwar können auch beim Typ 2 die gleichen Symptome auftreten. Da sich die Krankheit aber meist langsam entwickelt, haben Betroffene im Anfangsstadium oft lange keine oder nur leichte, kaum störende Symptome. Die Diagnosestellung kann sich deshalb um Jahre verzögern. Nicht selten erfolgt sie gar erst dann, wenn erste Komplikationen auftreten.

image ACHTUNG Die Folgen eines unentdeckten Diabetes sind nicht harmlos. Personen mit erhöhtem Risiko sollten daher etwa ab dem 40. Altersjahr ihren Blutzucker alle drei Jahre prüfen lassen.

Der Schwangerschaftsdiabetes tritt fast immer langsam und symptomlos auf. Zum Wohle des Kindes muss er aber möglichst früh behandelt werden. Denn sonst beginnt das Ungeborene wegen des hohen Zuckerspiegels Fettpolster anzulegen und stark zu wachsen. Für solche Kinder ist es schwierig, auf natürlichem Weg auf die Welt zu kommen. Zudem treten in den ersten Lebenswochen häufig Anpassungsprobleme auf. Kinder von Frauen mit einem Schwangerschaftsdiabetes sind im späteren Leben auch vermehrt gefährdet, übergewichtig zu werden.

image TIPP Frauen mit erhöhtem Risiko sollten bereits beim ersten Arztkontakt den Blutzucker messen lassen. Bei allen anderen Schwangeren genügt ein Glukose toleranztest zwischen der 24. und 28. Schwangerschaftswoche.

1 mmol/l = Millimol pro Liter

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Typ-2-Diabetes: Vorbeugen lohnt sich

Ein Diabetes mellitus kann jeden treffen – es ist niemand grundsätzlich davor geschützt. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, daran zu erkranken, nicht für alle gleich gross. Je nach Diabetestyp gibt es klare Risikofaktoren.

Die Risikofaktoren kennen

Während die Wissenschaft über die Ursachen für Typ-1-Diabetes weiterhin rätselt, gibt es einiges, was die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes klar begünstigt. Deshalb lassen sich hier auch frühzeitig vorbeugende Massnahmen ergreifen.

Der Typ-1-Diabetes ist, wie bereits erwähnt, eine Autoimmunkrankheit (siehe Seite 18). Er tritt deshalb nicht überraschend etwas gehäuft bei Menschen auf, die bereits eine andere Autoimmunkrankheit haben, etwa eine Störung der Schilddrüsenfunktion. Ebenso sind Leute vermehrt gefährdet, bei denen Autoimmunkrankheiten in der Familie vorkommen.

Typ-1-Diabetes: Beobachtungen und Vermutungen

Nach dem heutigen Wissensstand wird nicht der Typ-1-Diabetes selbst, sondern eine Veranlagung dazu vererbt. Welche Faktoren die Krankheit dann auslösen, darüber wird weiterhin geforscht und spekuliert. Diskutiert werden etwa folgende Punkte:

Säuglinge, die lange gestillt wurden, erkranken später weniger oft an Diabetes. Könnte vielleicht der frühe Kontakt mit Kuhmilch oder Kuhmilchpräparaten eine Immunreaktion auslösen? Eine Veränderung der Darmflora durch einen zu frühen Kontakt des Darms mit Bestandteilen der Kuhmilch wird ebenfalls erwogen.

Auch zahlreiche Viren sind als mögliche Auslöser von Typ-1-Diabetes diskutiert worden. Dabei wurden sowohl Infektionen noch im Mutterleib als auch solche kurz nach der Geburt verdächtigt. Die Virus-Hypothese bleibt aber unbewiesen.

Das «Sonnenscheinhormon», Vitamin D, könnte bei der Entstehung des Typ-1-Diabetes ebenfalls eine Rolle spielen. In Europa besteht nämlich ein klares Nord-Süd-Gefälle: In nördlichen Ländern, zum Beispiel in Skandinavien, ist der Typ-1-Diabetes häufiger als in den Mittelmeerländern. Ist Vitamin D bzw. der Mangel daran dafür verantwortlich?

Gleiche Gene, unterschiedliche Entwicklung

Dass irgendwelche äusseren Faktoren als Auslöser des Typ-1-Diabetes mitverantwortlich sein müssen, bestätigt die Zwillingsforschung. Lediglich in 30 bis 50 % der Fälle bekommen bei eineiigen Zwillingen beide Diabetes, obwohl sie zweifelsfrei die gleichen Gene haben.

image INFO Das durchschnittliche Risiko, bei einem betroffenen Geschwister ebenfalls an Diabetes zu erkranken, liegt bei etwa 6 bis 10 %. Kinder betroffener Eltern werden zu rund 3 bis 5 % einen Diabetes bekommen, wenn der Vater Diabetiker ist; zu etwa 2 bis 4 % bei einer diabetischen Mutter.

Typ-2-Diabetes: Gehören Sie zur Risikogruppe?

Das Risiko, an einem Typ-2-Diabetes zu erkranken, ist wesentlich grösser als beim Typ 1, sind doch annähernd 90 % aller Betroffenen Typ-2-Diabetiker. Allerdings kann man einigen gut bekannten Risikofaktoren aktiv begegnen. Selbstverständlich gilt: Je grösser die Zahl dieser Risikofaktoren, desto wahrscheinlicher ist es, einen Typ-2-Diabetes zu bekommen.

Wie gross ist mein persönliches Risiko?

Die klassischen Risikofaktoren sind:

Diabeteserkrankungen in der Familie: Häufigere Diabetesfälle bedeuten meist auch ein höheres Risiko.

Übergewicht und Adipositas (mehr dazu ab Seite 27)

Bewegungsarmut

zunehmendes Alter; massiv adipöse Kinder und Jugendliche können allerdings auch schon von einem Typ-2-Diabetes betroffen sein.

hoher Blutdruck (Hypertonie) und/oder erhöhte Blutfettwerte, metabolisches Syndrom (Definition siehe Seite 19)

zu grosser Bauchumfang

image TIPP Es gibt online Risikorechner, mittels derer Sie Ihr persönliches Risiko für einen Typ-2-Diabetes genauer abschätzen können; zum Beispiel auf der Website der Schweizerischen Diabetes-gesellschaft: www.diabetesschweiz.chDiabetesRisikotest.

Vererbung oder Umwelt? Die Pima-Indianer geben Antwort

Auf Seite 17 steht, dass jeder zweite Pima-Indianer einen Typ-2-Diabetes hat. Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Die Aussage gilt lediglich für diejenigen Pima, die in den USA, in der Nähe der Millionenstadt Phoenix leben – in der modernen Zivilisation. Der Stamm der Pima hat sich nämlich vor ein paar Generationen getrennt. Ein Teil lebt seither in den Bergen Mexikos; diese Pima leben weiterhin traditionell. Viele leisten regelmässig körperliche Arbeit. Ihre Ernährung ist diejenige ärmlicher Bauern.

Trotz des gleichen genetischen Hintergrunds ist die Zahl der von Diabetes betroffenen Pima in den Bergen Mexikos rund zehnmal tiefer als diejenige bei den Pima im Grossraum Phoenix. Daraus lässt sich schliessen, dass die Umweltbedingungen beziehungsweise der Lebensstil von herausragender Bedeutung für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes sind.

image INFO Das Beispiel der Pima zeigt klar, dass die Gene bei der Entwicklung eines Typ-2-Diabetes eine Rolle spielen. Es zeigt aber auch, dass die Krankheit auch bei entsprechender Veranlagung nicht in jedem Fall schicksalshaft und unverrückbar auftreten muss.

Diabetes in der Schwangerschaft

Die Entwicklung eines Gestationsdiabetes betrifft 10 bis 15 % aller Schwangeren. Gefährdungsfaktoren sind:

starkes Übergewicht (Adipositas) mit einem Body Mass Index > 30 kg/m2 (mehr zum BMI siehe nebenan)

BMI > 25 kg/m2 mit mindestens einem zusätzlichen Risikofaktor

Diabetes in der Familie, also bei Eltern oder Geschwistern

starke Gewichtszunahme während der Schwangerschaft

Schwangerschaftsdiabetes in einer früheren Schwangerschaft

Alter > 30 Jahre

frühere Geburten mit einem Geburtsgewicht des Kindes > 4000 Gramm

ausgeprägte körperliche Inaktivität

hoher Blutdruck und/oder Fettstoffwechselstörung

wiederholte Fehlgeburten

afrikanische, asiatische oder lateinamerikanische Herkunft

Übergewicht und die Folgen

Die Zahl übergewichtiger Menschen hat sich in den vergangenen 30 Jahren weltweit mehr als verdoppelt. Die Auswirkungen dieser dramatischen Entwicklung sind in ihrer ganzen Tragweite noch nicht abschätzbar. Aber schon jetzt ist klar: Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sterben mehr Leute an den Folgen von Übergewicht als an Hunger.

Die Resultate einer 2015 durchgeführten Untersuchung in der Schweiz zeigen, dass es auch hierzulande eine stattliche Anzahl massiv übergewichtiger Menschen gibt. Im Vergleich zu anderen Ländern wie etwa den USA, wo bereits fast 30 % der Menschen adipös sind, nehmen sich die Zahlen aber immer noch recht bescheiden aus.

Die gängigste Art, das eigene Körpergewicht einzuordnen, ist immer noch der Body Mass Index, kurz BMI. So berechnen Sie ihn:

Beispiel für eine 73 Kilo schwere und 1,78 Meter grosse Person: 73 kg ÷ 1,78 m ÷ 1,78 m = 23 kg/m²

Die WHO1 hat folgende Gewichtskategorien definiert:

 

BMI

 

Frauen CH

Männer CH

Untergewicht:

unter 18,5 kg/m2

 

4 %

1 %

Normalgewicht:

18,5–24,9 kg/m2

 

67 %

46 %

Übergewicht:

25,0–29,9 kg/m2

 

18 %

40 %

Leichte Adipositas:

30,0–34,9 kg/m2

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Schwere Adipositas:

35,0–39,9 kg/m2

11 %

13 %

Krankhafte Adipositas:

über 40,0 kg/m2

 

 

Bin ich übergewichtig?

Selbstverständlich hat jeder Mensch sein persönliches Idealgewicht und auch der BMI ist nicht über alle Zweifel erhaben. Sehr muskulösen Leuten wird durch den BMI oft leichtes Übergewicht unterstellt, da Muskeln schwerer sind als Fett. Auch sind nicht alle Menschen gleich «breit» gebaut. Grundsätzlich können Sie mit den Zahlen des BMI aber gut abschätzen, ob Sie sich bezüglich Gewicht noch in der Komfortzone befinden.

Weil das Bauchfett zahlreiche Stoffwechselvorgänge noch ungünstiger beeinflusst als das Fett in anderen Körperregionen (siehe Kasten gegenüber), kann man auch aus der Messung des Bauchumfangs gewisse Rückschlüsse ziehen auf die gesundheitliche Gefährdung. Als Risikofaktor anerkannt ist ein Wert von über 94 cm beim Mann und über 80 cm bei der Frau. Ein erhebliches Risiko liegt vor bei einem Bauchumfang über 102 cm beim Mann, über 88 cm bei der Frau. Selbstverständlich ist aber auch der Wert dieser Messung begrenzt; so wird die Körpergrösse nicht mit einbezogen. Ist Ihnen in diesem Zusammenhang auch schon aufgefallen, wie ungleich die Fettverteilung bei übergewichtigen Menschen ist? Ein Körperrumpf in Birnenform – mit ausladendem Gesäss – ist für die Gesundheit weniger kritisch als einer in Apfelform – mit vermehrtem Bauchfett.

Übergewicht kann viele Konsequenzen haben

Übergewicht und Adipositas können erhebliche gesundheitliche Störungen verursachen; die Folgekrankheiten führen zu einer erhöhten Sterblichkeit:

Das Risiko, an einem Diabetes mellitus Typ 2 zu erkranken, nimmt mit zunehmendem Übergewicht fast exponentiell zu. Menschen mit schwerer Adipositas (BMI über 35 kg/m2) sind zu rund einem Drittel Diabetiker. Wird das überschüssige Fett bevorzugt im Bereich des Bauches und der inneren Organe gelagert – Fachleute sprechen von einer abdominellen oder zentralen Adipositas –, ist das Risiko noch weiter erhöht.

Die Wahrscheinlichkeit für einen hohen Blutdruck (Hypertonie) ist mit zunehmendem Übergewicht erhöht.

Übergewicht fördert eine typische Form der Fettstoffwechselstörung. Das «schlechte» Cholesterin (LDL) ist zwar oft nur geringgradig erhöht, das «gute» Cholesterin (HDL) aber fast regelmässig vermindert. Zudem werden erhöhte Triglyceridwerte gemessen. (Detaillierte Informationen zu LDL, HDL und Triglyceriden finden Sie auf Seite 236.)

Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt, Herzschwäche (Herzinsuffizienz), Hirnschlag und Herzrhythmusstörungen, insbesondere Vorhofflimmern, sind, meist in Abhängigkeit des Grades der Adipositas, wahrscheinlicher.

Arthrosen (altersbedingte Abnützungen der Gelenke) sind bei Übergewicht häufiger als bei Normalgewicht. Die am meisten betroffenen Gelenke sind die Knie.

Gewisse Krebserkrankungen treten bei Adipositas gehäuft auf. Dies betrifft unter anderem Krebs der Gebärmutter, Gallenblase, Nieren, Leber, Speiseröhre, des Magens, Dickdarms und der Brust. Ganz offensichtlich ist dafür die begleitende Insulinresistenz (siehe unten) verantwortlich.

Das sogenannte obstruktive Schlaf-Apnoe-Syndrom (OSAS), das charakterisiert ist durch häufige Atempausen im Schlaf, findet sich bei Übergewicht deutlich häufiger. Der Schlaf ist wenig erholsam; es besteht deshalb oft eine ausgeprägte Tagesmüdigkeit.

Auch chronische Nierenkrankheiten und Nierensteine kommen häufiger vor bei Adipositas.

Insulinresistenz: Wenn das Fett die Arbeit des Insulins behindert

Einem klassischen Typ-2-Diabetes liegt eine Kombination von Insulinmangel und Insulinresistenz zugrunde.

image INFO Eine Insulinresistenz hat ein vermindertes Ansprechen der Zellen der Zielorgane wie Leber, Muskeln und Fettgewebe auf Insulin zur Folge. Sie hat eine zentrale Bedeutung für viele gestörte Stoffwechselvorgänge und spielt nicht nur beim Diabetes eine Rolle, sondern auch bei anderen Krankheiten wie hohem Blutdruck und Fettstoffwechselstörungen.

Insulin gilt primär als das Hormon, das den Blutzucker in normalen Bahnen hält. Es hat aber zahlreiche weitere wichtige Aufgaben. Etwas überspitzt könnte man es als das menschliche «Lagerhaushormon» bezeichnen: Ist genügend Insulin vorhanden, können Glukose, Aminosäuren und Fettsäuren, die mit der Nahrung zugeführt wurden, in die entsprechenden Zellen des Körpers transportiert und aufgenommen werden. Je nach Bedarf werden sie dort gespeichert oder als Energielieferanten wieder eingesetzt. Grundsätzlich ist das Insulin bestrebt, möglichst viel der aufgenommenen Nahrung im Körper zurückzuhalten, auch als Reserve für schlechtere Zeiten.

Folgen der Insulinresistenz

Ist die Insulinwirkung reduziert, kommt es als Erstes zu einer verminderten Aufnahme von Glukose in die Gewebe. Der Zucker wird im Blut zurückgestaut und steigt an. Solange die Insulinproduktion in den Betazellen noch normal funktioniert, schaltet die Bauchspeicheldrüse einfach einen Gang höher und kompensiert die sich anbahnende Störung mit mehr Insulin. Es entsteht eine sogenannte Hyperinsulinämie. Messungen bei neu diagnostizierten Typ-2-Diabetikern bestätigen, dass in diesem Stadium sehr oft noch kein absoluter Insulinmangel herrscht. Der durch die Insulinresistenz verursachte erhöhte Insulinbedarf kann aber nicht mehr genügend abgedeckt werden. Nach Jahren erschöpft sich bei entsprechender Veranlagung die (erhöhte) Insulinproduktion zusehends. Zudem lähmt der nun permanent erhöhte Blutzucker die Betazellen noch mehr. Ein Diabetes tritt auf.

image INFO Wer gute Gene hat, kann die Insulinproduktion ein Leben lang auf erhöhtem Niveau aufrechterhalten. Dies erklärt, weshalb 15 bis 25 % der Menschen in der Schweiz eine Insulinresistenz haben, aber lediglich rund 5 % einen Typ-2-Diabetes.

Das komplexe Zusammenspiel von Insulinresistenz und gesteigerter Insulinproduktion hat verschiedene ungünstige Auswirkungen auf den Organismus:

Mangelnde Aufnahme der Glukose ins Muskel- und Fettgewebe. Dies beeinträchtigt sowohl die Speicherung des Zuckers wie auch seine (Wieder-)Verwertung als Energielieferant.

Übermässige Eigenproduktion von Zucker in der Leber (und den Nieren)

Gesteigerter Fettabbau mit Erhöhung der zirkulierenden Fettsäuren, die dann vermehrt in die Körperzellen aufgenommen werden und zur Verfettung von Organen führen können (siehe Seite 33).

Vermehrtes Zellwachstum durch dauerhaft erhöhte Insulinspiegel; Insulinresistenz und Hyperinsulinämie sind sehr wahrscheinlich mitverantwortlich für das leicht erhöhte Risiko für gewisse Krebsformen beim Typ-2-Diabetes.

Aktivierung des sympathischen Nervensystems durch die permanente Hyperinsulinämie. Dies begünstigt das Entstehen eines erhöhten Blutdrucks.

Überaktivierung des Immunsystems. Dies führt zu einer chronischen Entzündungsreaktion im Körper und zu einer weiteren Verschlechterung der Insulinsekretion und der Insulinwirkung.

Diese Aufzählung ist nicht vollständig. Sie bestätigt aber eindrücklich, dass die Insulinresistenz nicht einfach zu einer Störung des Glukosestoffwechsels führt, sondern in etliche weitere Systeme eingreift. Der Begriff «Zuckerkrankheit» ist deshalb zu Recht aus dem Vokabular gestrichen worden.

Wieso kommt es zu einer Insulinresistenz?

Wichtige Faktoren für die Entwicklung einer Insulinresistenz sind:

die genetische Veranlagung; in der Schweiz sind ca. 15 bis 25 % der Menschen betroffen,

Übergewicht und Adipositas; am gefährlichsten ist das Bauchfett

körperliche Inaktivität,

ungesunde Ernährung,

die ethnische Herkunft, zum Beispiel China, Indien, Naher Osten.

Damit ist auch schon klar, wie Sie einer Insulinresistenz entgegenwirken können: mit regelmässiger körperlicher Aktivität, einer Gewichtsreduktion und gesunder Ernährung. Auch zwei blutzuckersenkende Medikamente, die bei Diabetes eingesetzt werden, entfalten ihre Wirkung über eine Verbesserung der Insulinsensitivität (mehr dazu ab Seite 140).

Eine genaue Messung der Insulinresistenz ist übrigens nur mit aufwendigen Tests möglich und wird deshalb nur in Studien durchgeführt. Für den Hausarzt, die Hausärztin gibt es zwei Möglichkeiten, sie mit wenig Aufwand zu diagnostizieren:

Eine Insulinresistenz ist fast sicher vorhanden, wenn adipöse Dia-betiker mit erhöhten Triglyceridspiegeln im Blut mehr als eine Einheit Insulin pro Kilogramm Körpergewicht brauchen, um den Blutzucker zu normalisieren.

Ebenfalls insulinresistent sind in der Regel Betroffene, die alle Kriterien eines metabolischen Syndroms (siehe Seite 19) erfüllen.

Vom gefährlichen Fett, zum Beispiel in der Leber

Es wurde bereits erwähnt: Einer der unerwünschten Effekte der Insulinresistenz ist die vermehrte Freisetzung von Fettsäuren aus den Fettzellen. Diese überschwemmen die Leber. Zudem wird diese belastet durch eine beim Typ-2-Diabetes vermehrt stattfindende Umwandlung von Zucker, insbesondere von Fruktose (Fruchtzucker), in Fett. Und schliesslich muss die Leber auch mit einer oft hohen Zufuhr von gesättigten Fetten in der Nahrung fertig werden.

image ACHTUNG Wenn die Leber die anfallenden Fette nicht mehr verarbeiten kann, werden sie in den Leberzellen gespeichert, hauptsächlich als Triglyceride (siehe Seite 236). Besteht mehr als 5 % des Lebervolumens aus Fett, spricht man von einer Fettleber.

50 bis 75 % der Typ-2-Diabetiker haben eine Fettleber. Auch bei rund 25 % der Allgemeinbevölkerung ist eine Verfettung der Leber vorhanden, bei Männern etwas häufiger als bei Frauen. Es handelt sich hier um die sogenannte nicht alkoholische Fettleber; die Betroffenen haben in der Regel keine Alkoholprobleme. Allerdings ist die Kombination von regelmässigem Alkoholkonsum und einer diabetesbedingten Fettleber sehr ungünstig.

Von der Fettleber zur Leberzirrhose? Das muss nicht sein