BESONDERE KINDER

Psychopharmaka für Kinder?

MEDIKAMENTE Immer mehr Kinder und Jugendliche bekommen Antidepressiva und Antipsychotika verschrieben. Doch nicht in jedem Fall ist ihr Einsatz nötig und sinnvoll.

VON NELE LANGOSCH

Auf einen Blick: Zweifelhafte Heilmittel

1 Kinder und Jugendliche bekommen zunehmend Anti-depressiva und Medikamente gegen Psychosen verschrieben – viele davon »off-label«. Das heißt, sie sind für das betreffende Alter oder die konkrete Erkrankung gar nicht zu gelassen, doch ihr Einsatz ist in bestimmten Fällen sinnvoll und zulässig.

2 Arzneimittelstudien mit minderjährigen Probanden sind rar; entsprechend wenig weiß man über Nutzen und Risiken von Psychopharmaka in dieser Altersgruppe. Gewichtszunahme, vermehrte Suizidalität, Bewegungs- und Herz-Kreislauf-Störungen gehören aber zu den vielen Nebenwirkungen verbreiteter Mittel.

3 Bei Ängsten, Depressionen und Zwangsstörungen bringen Medikamente zusätzlich zu einer kognitiven Verhaltenstherapie in der Regel wenig; bei Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)und Psychosen hingegen ist die Wirkung größer.

Die jüngsten der Patienten können nicht einmal lesen. Sie sind fünf oder sechs Jahre alt, manche sogar erst zwei oder drei. Aber sie sind so zappelig und unruhig, so aggressiv oder so gequält von Ängsten und Zwängen, dass sich ihre Eltern nicht mehr zu helfen wissen. Unter bestimmten Voraussetzungen dürfen Ärzte dann zu Medikamenten greifen: Für Kinder ab sechs Jahren sind das ADHS-Mittel Ritalin und Sertralin gegen Zwangsstörungen zugelassen. Und aggressive Fünfjährige bekommen schon zur Beruhigung Risperidon, ein Antipsychotikum, das ursprünglich zur Behandlung von Schizophrenie und Schlafstörungen bei Erwachsenen entwickelt wurde.

Etwa zehn Prozent der Minderjährigen leiden unter einer psychischen Erkrankung, und häufig gehören Medikamente zur Standardtherapie. »Die Verordnungen von Psychopharmaka für Kinder und Jugendliche in Deutschland nehmen zu«, sagt Christian Bachmann, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg und Experte für die Verbreitung von Psychopharmaka.

Zwar gab die Krankenkasse DAK bekannt, dass Ärzte das bekannte ADHS-Mittel Ritalin inzwischen seltener verschreiben: 2013 erhielten zehn Prozent weniger Kinder und Jugendliche ein Rezept als 2011. Aber wie Studien von Christian Bachmann zeigen, kommen dafür Antidepressiva und Antipsychotika häufiger zum Einsatz. Der Mediziner und sein Team werteten Daten von 1,4 Millionen Versicherten der Krankenkasse Barmer GEK aus. Ergebnis: 2012 erhielten 40 Prozent mehr Kinder und Jugendliche ein Rezept über Antipsychotika als 2005.

Bei den so genannten atypischen Antipsychotika stellten die Forscher sogar einen Zuwachs um 129 Prozent fest. Diese zweite Generation von Medikamenten gegen Psychosen soll zwar weniger Nebenwirkungen haben. Doch Bachmann warnt, dass wie bei der ersten Generation unter anderem eine erhebliche Gewichtszunahme und Bewegungsstörungen drohen.

Fast die Hälfte der verordneten atypischen Antipsychotika machte 2012 die Substanz Risperidon aus; 2005 war es nur knapp ein Drittel. Risperidon ist für die kurzzeitige Therapie von anhaltenden Aggressionen bei Verhaltensstörungen von minderintelligenten oder geistig behinderten Kindern ab fünf Jahren zugelassen. Offenbar wird das Medikament aber auch bei anderen Diagnosen verschrieben: Laut Krankenkassendaten lag nur bei 23 Prozent der Kinder und Jugendlichen eine Intelligenzminderung vor, bei 60 Prozent hingegen eine hyperkinetische Störung und bei mehr als einem Drittel eine Störung des Sozialverhaltens. Der Rückgang von Ritalin-Verordnungen ließe sich also eventuell damit erklären, dass es teils durch Risperidon ersetzt wird.

Verbreitete Praxis: Medikamente ohne Zulassung

Wenn ein Arzt ein Mittel verschreibt, das für die vorliegende Erkrankung oder für Patienten im Kindesalter nicht freigegeben ist, spricht man von einem Einsatz »off-label« (etwa: nicht bestimmungsgemäß). Das kommt in der Praxis häufig vor: »Es gibt nur sehr wenige Psychopharmaka, die für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen zugelassen sind«, erklärt Christian Bachmann. Eine neuere Übersichtsarbeit zählt insgesamt 27 Wirkstoffe. Viele davon sind jedoch veraltet – und wird ein neues Präparat für Erwachsene entwickelt, führen die Pharmaunternehmen selten die nötigen Zulassungsstudien mit Kindern und Jugendlichen durch. »Der Markt ist für die Pharmaindustrie einfach zu klein«, sagt der Psychiater. Dazu kommt: Die Arzneimittelforschung an Minderjährigen birgt viele Probleme; beispielsweise hängen Verstoffwechslung und Halbwertszeit der Substanzen vom körperlichen Reifungsgrad ab. Probanden zu finden, deren Eltern der Teilnahme zustimmen, ist ebenfalls schwierig.

In anderen europäischen Ländern sieht das ähnlich aus: Die meisten Medikamente, die Minderjährige in der EU verschrieben bekommen, wurden nur an Erwachsenen getestet, und das nicht unbedingt für dieselbe Krankheit – dieses Fazit zog 2015 ein Netzwerk europäischer Psychopharmakologen in einer kritischen Bestandsaufnahme. Wie die verordneten Medikamente bei Kindern und Jugendlichen wirken, ist also oft kaum bekannt. Es fehlen für zahlreiche Wirkstoffe Langzeitstudien an großen Stichproben, die Aufschluss über Risiken und Nebenwirkungen sowie die richtige Dosis bei jungen Patienten geben.

Auch bei so genannten Tic-Störungen behandeln Fachärzte ihre jungen Patienten mit Psychopharmaka für Erwachsene oder für ähnliche Störungen. »Offiziell steht uns dazu lediglich das ältere Antipsychotikum Haloperidol zur Verfügung, das noch Jahre nach der Einnahme schwere andauernde Bewegungsstörungen auslösen kann, zum Beispiel unwillkürliche Zuckungen im Gesicht. Eine Verordnung dieses Medikaments wäre zwar rechtlich einwandfrei, aber unethisch«, erläutert der Kinder- und Jugendpsychiater Marcel Romanos vom Universitätsklinikum Würzburg. »Deshalb wird oft auch das Antipsychotikum Tiaprid verschrieben, das gut gegen die Tics wirkt und vergleichsweise weniger Nebenwirkungen verursacht. Es ist jedoch nicht für Minderjährige zugelassen und kann daher nur off-label verordnet werden.«

Neben Antipsychotika werden auch zunehmend Antidepressiva verschrieben – insbesondere älteren Jugendlichen. Wie die von Bachmann ausgewerteten Krankenkassendaten zeigen, erhielten 2012 etwa 0,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen Antidepressiva. Unter den 15- bis 19-Jährigen waren es 1,4 Prozent und damit um 71 Prozent mehr als noch 2005. Bei jüngeren Kindern veränderte sich die Verschreibungspraxis nicht bedeutsam.

Dabei kommen trizyklische Antidepressiva, eine ältere Klasse von Medikamenten gegen Depressionen, immer seltener zum Einsatz, vermehrt dagegen die neueren Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (kurz SSRI für englisch: selective serotonin reuptake inhibitor). Am verbreitetsten ist Fluoxetin: 2012 machte es etwa ein Viertel der Antidepressiva-Verordnungen aus. Es ist das einzige SSRI, das in Deutschland für Kinder und Jugendliche freigegeben ist. Ärzte können damit Kinder ab acht Jahren mit mittelgradigen bis schweren depressiven Episoden behandeln, allerdings nur, wenn eine Psychotherapie nach spätestens sechs Sitzungen noch nicht anschlägt.

»Mehr Zurückhaltung als in den USA«

Warum verschreiben Ärzte jungen Patienten mehr Psychopharmaka – wurden Kinder früher etwa zu selten damit behandelt? Das sei nicht der Hauptgrund, sagt Studienleiter Bachmann. Vielmehr könne es mehrere Ursachen geben: Medikamente sind schneller verfügbar, ihre Einnahme ist mit weniger Aufwand verbunden als eine Psychotherapie. »Und sicher spielt auch die verstärkte Werbung der Pharmaindustrie für Antipsychotika eine Rolle.« Den Würzburger Psychiater Marcel Romanos beunruhigt die zunehmende Medikation von Minderjährigen nicht: »In Deutschland herrscht viel mehr Zurückhaltung als etwa in den USA. Dort sehe ich die Situation sehr kritisch.«

Doch wiederkehrende Nachrichten von unwirksamen oder unnötigen Medikamenten und ihren Nebenwirkungen verunsichern viele Eltern. Bachmann kann solche Sorgen gut nachvollziehen: »Tatsächlich gibt es gerade bei Erkrankungen wie ADHS und Autismus eine Vielzahl falscher Diagnosen.« Bisher unveröffentlichten Daten einer Krankenkasse konnte er entnehmen, dass weniger als die Hälfte der Kinder, bei denen einmal Autismus diagnostiziert wurde, einige Jahre später noch als autistisch galten. »Dabei wächst sich Autismus nicht einfach aus«, erklärt der Experte. »Das gibt einem zu denken.« Kann man einer Diagnose also nicht vertrauen? Diese Frage warf 2015 auch ein Befund der Universität München auf, wonach Kinder umso häufiger eine ADHS-Diagnose bekommen, je jünger sie bei der Einschulung waren – offenbar erscheinen sie häufiger auffällig, weil sie dem Schulalltag weniger gewachsen sind als ältere Klassenkameraden. Die Wissenschaftler hatten dazu Daten von rund sieben Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland ausgewertet.

Bei ungefähr jedem 20. Kind zwischen 3 und 17 Jahren wurde schon einmal ADHS diagnostiziert. Laut der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie bekommt rund jeder zweite Betroffene mindestens einmal ein Medikament gegen die Störung verschrieben. Aber viele Mütter und Väter fragen sich: Sind Tabletten wirklich die beste Wahl?

Verunsicherte Angehörige sollten die Meinung eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder eines spezialisierten Kinderarztes einholen. Ein guter Arzt nimmt die Sorgen der Eltern ernst und bespricht mit ihnen, ob der Einsatz eines Psychopharmakons tatsächlich nötig ist (siehe »Merkliste für Angehörige«). Dabei stützen sich die Mediziner in der Regel auf Leitlinien, die wiederum auf wissenschaftlichen Studien beruhen. Allerdings fehlt es auch hier an repräsentativen Daten zu den verschiedenen Behandlungsoptionen. Denn deren Wirkung miteinander zu vergleichen, ist aufwändig, langwierig und deshalb teuer. Meist vergeht zwischen Planung und Veröffentlichung der Ergebnisse ein knappes Jahrzehnt.

»Für die meisten Störungsbilder sehen die Leitlinien eine Kombination aus Psychotherapie und Medikamenten vor«, erklärt Bachmann. Einige können aber auch ohne Psychopharmaka behandelt werden. »Wir wissen zum Beispiel, dass eine Verhaltenstherapie allein sehr gut gegen Angststörungen hilft .« Auch bei Essstörungen, einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder leichten Depressionen wird zuerst eine Psychotherapie empfohlen.

Antidepressiva oder Psychotherapie?

Untermauert wird das unter anderem von der umfangreichen TAD-Studie (Treatment for Adolescents with Depression) des National Institute of Mental Health in den USA. Dabei beobachteten Wissenschaftler mehr als 300 depressive Jugendliche über einen Zeitraum von neun Monaten. Die jungen Patienten wurden entweder mit dem SSRI Fluoxetin, einer kognitiven Verhaltenstherapie oder mit beidem behandelt. Eine weitere Gruppe erhielt in den ersten drei Monaten nur ein Scheinmedikament.

Das Antidepressivum half zunächst schneller als eine Psychotherapie: Nach drei Monaten besserte das Medikament die Symptome bei 62 Prozent der Jugendlichen und die Kombi-Therapie sogar bei 73 Prozent, aber nur 48 Prozent sprachen auf die kognitive Verhaltenstherapie allein an – etwa gleich viele wie auf das Placebo. Nach viereinhalb Monaten lagen Psychopharmaka und Psychotherapie jedoch bereits nahezu gleichauf (65 beziehungsweise 69 Prozent), und wurden sie kombiniert, ging es 85 Prozent der Patienten besser. Nach neun Monaten verbuchten die beiden Einzelmethoden nun ebenfalls über 80 Prozent Erfolg – die drei Therapiegruppen unterschieden sich also nicht mehr bedeutsam. Allerdings senkte die Verhaltenstherapie das Risiko für suizidale Gedanken oder Handlungen deutlich stärker als das Psychopharmakon allein. Die Studienleiter empfehlen eine Kombination beider Verfahren, um schnellstmöglich die beste Wirkung zu erzielen.

Gilt das auch für Kinder und Jugendliche mit Zwangserkrankungen, bei denen viele Psychiater ebenfalls zu Antidepressiva raten? Um das zu prüfen, sichtete 2015 ein internationales Team um Tord Ivarsson vom Zentrum für psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Oslo 14 Th erapiestudien an minderjährigen Patienten. Die getesteten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer halfen erwartungsgemäß mehr als ein Scheinpräparat. Im direkten Vergleich erwies sich eine kognitive Verhaltenstherapie aber als wirksamer, und eine zusätzliche Medikation steigerte den Effekt nur geringfügig. Schlug ein Medikament nicht gleich an, so zahlte sich ein Wechsel zur kognitiven Verhaltenstherapie aus; umgekehrt war das nicht der Fall. Zu den untersuchten Wirkstoffen zählten neben Fluoxetin auch die in Deutschland schon für Sechs- beziehungsweise Achtjährige mit Zwangsstörungen zugelassenen Medikamente Sertralin und Fluvoxamin.

Bei anderen Störungsbildern gelten Psychopharmaka jedoch als erste Option. »Ein Jugendlicher mit Schizophrenie muss zum Beispiel so schnell wie möglich medikamentös behandelt werden«, betont Marcel Romanos. Auch der Schweregrad der Erkrankung spiele eine Rolle: »Bei einer Depression, Tic-Störung oder bei ADHS setzen wir Psychopharmaka nur dann ein, wenn die Erkrankung schwer oder chronisch ist.«

Deren Wirksamkeit bei ADHS bestätigte das National Institute of Mental Health bereits in den 1990er Jahren. Die Forscher behandelten fast 600 unter ADHS leidende Grundschüler entweder mit Medikamenten wie Ritalin, mit einer Verhaltenstherapie oder mit beiden. Die rein medikamentöse und die kombinierte Behandlung reduzierten die Symptome langfristig viel wirksamer als eine Psychotherapie allein. Gerade bei jüngeren Kindern mit ADHS sollten die Angehörigen aber miteinbezogen werden: In einem Elterntraining lernen sie unter anderem, wie sie den Familienalltag strukturieren und ihr Kind für erwünschtes Verhalten belohnen.

Einzelne Befunde zur medikamentösen Therapie mit Methylphenidat geben zu denken: Eine Nacherhebung der oben genannten US-Studie zeigte, dass jene Kinder, die das Medikament drei Jahre lang eingenommen hatten, zwei Zentimeter kleiner waren als gleichaltrige Probanden ohne Medikation.

Für andere Psychopharmaka sind dagegen gravierendere Nebenwirkungen nachgewiesen. Schon 2006 kam eine Analyse der bis dahin publizierten Studien zu dem Ergebnis, dass SSRI das Risiko für suizidale Gedanken und Verhaltensweisen bei Minderjährigen im Vergleich zu einem Scheinpräparat verdoppelten – von zwei auf vier Prozent. 2014 zeigten die Daten von mehr als 160 000 depressiven Patienten, dass sich die jüngeren unter hoch dosierter Therapie mit SSRI doppelt so häufig selbst verletzten wie jene, die eine moderate Dosis erhielten.

2015 mehrten sich Zweifel an der Verlässlichkeit von Arzneimittelstudien, als ein Team um die Psychologin Joanna Le Noury einen Befund aus dem Jahr 2001 überprüfte. Darin hatten Forscher um den angesehenen Psychiater Martin Keller von der Brown University ein positives Fazit zu Paroxetin gezogen, ein verbreitetes Antidepressivum für Erwachsene. Doch bei einer Sichtung der Rohdaten kam das Team um Le Noury zu dem Schluss, dass es gegen Depressionen bei Jugendlichen nicht besser wirkte als ein Scheinmedikament, ebenso wenig Imipramin, mit dem es verglichen wurde; vielmehr löste Paroxetin Suizidgedanken sowie -handlungen und Imipramin Herz-Kreislauf-Probleme aus. Bei der ursprünglichen Studie von 2001 hatten die damaligen Autoren offenbar zahlreiche Zwischenfälle verschwiegen oder verharmlost.

Die US-Arzneimittelzulassungsbehörde warnte schon 2002 vor dem Einsatz von Antidepressiva bei Minderjährigen; 2005 schloss sich das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte an. Die deutsche Behörde riet dazu, SSRI und SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, eine weitere Klasse von Antidepressiva) nur dann anzuwenden, wenn sie für die betreffende Altersgruppe zugelassen seien.

Langzeitschäden von Antipsychotika

Welche unerwünschten Effekte Psychopharmaka langfristig entfalten, ist noch weitgehend unklar. »Wir wissen nicht, wie sie sich auf die Hirnentwicklung bei Kindern und Jugendlichen auswirken«, warnt Wilfried Huck, inzwischen pensionierter Kinder- und Jugendpsychiater an der Klinik Hamm. Marcel Romanos betont: »Die Antidepressiva der SSRI-Klasse und Stimulanzien wie Methylphenidat gegen ADHS werden bereits so lange eingesetzt, dass Spätschäden aufgefallen wären. Deren Nebenwirkungen haben wir im Griff. Dagegen sind Antipsychotika problematischer.« So nehmen junge Patienten bei Einnahme bestimmter Antipsychotika im Schnitt stärker zu als ältere. Auch ihre Blutwerte können sich verändern und lang anhaltende motorische Störungen auftreten.

Die Medikamente könnten dem Gehirn sogar langfristig schaden: Je mehr Antipsychotika Erwachsene im Lauf ihres Lebens einnehmen, desto weniger graue und weiße Substanz findet sich bei ihnen später insbesondere im Frontalhirn. Die Datenlage lässt zwar keine eindeutigen Schlüsse auf Ursache und Wirkung zu. Ein solcher Einfluss wäre allerdings bei Kindern und Jugendlichen besonders heikel, weil bei ihnen die neuronale Reifung unter anderem im Frontalhirn noch nicht abgeschlossen ist.

Nur mangelt es an repräsentativen Langzeitstudien, die darüber Aufschluss geben könnten. Die Europäische Union und das National Institute of Mental Health in den USA unterstützen deshalb mehrere große Studien: Die EU etwa setzt sechs Millionen Euro ein, um Wirkungen und Nebenwirkungen eines Off-label-Anti-psychotikums bei Kindern mit gestörtem Sozialverhalten zu erfassen. Forschergruppen aus Deutschland und sechs weiteren europäischen Ländern nehmen daran teil. Außerdem protokollieren Ärzte an 16 klinischen Zentren in Deutschland im Rahmen eines Projekts des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte drei Jahre lang, wie Psychopharmaka wirken.

»Immer individuell abwägen«

Nur was tun, solange die Wissenslücken noch so groß sind? »Da derzeit Befunde zu langfristiger Wirksamkeit und Nebenwirkungen fehlen, muss man Risiken und Nutzen von Psychopharmaka immer individuell abwägen«, sagt Bachmann. In jedem Fall müssen Ärzte ihre jungen Patienten und deren Familien genau über die möglichen unerwünschten Effekte aufklären und das Einverständnis zur Therapie einholen.

Sogar der eher pharmakritische Psychiater und Familientherapeut Wilfried Huck betont: »Wir können nicht ganz auf Psychopharmaka verzichten.« Seiner Meinung nach bekommen jedoch zu viele Kinder und Jugendliche Medikamente. »Sie sollten nur in Notsituationen und kurzfristig eingesetzt werden, zum Beispiel bei hochaggressiven Jugendlichen oder bei einer akuten Psychose. In solchen Fällen hilft das Medikament den Patienten, wieder klarer im Kopf zu werden.«

Abgesehen davon sollten Ärzte aber alternative Verfahren vorziehen. Entscheidend für den Therapieerfolg sei, so Huck, »dem Patienten Hoffnung auf Besserung zu geben, sein Vertrauen in andere Menschen wiederherzustellen und ihn anzunehmen, wie er ist«. Auch neue oder wiederbelebte zwischenmenschliche Bindungen könnten helfen. »Wenn zum Beispiel ein Kind mit ADHS mit seinem Umfeld besser vernetzt ist, sprengt es dieses Netz auch nicht mehr so leicht.«

Ein solcher Therapieansatz hat in Skandinavien sogar bei der Behandlung von Psychosen Erfolg. Bei der in Finnland entwickelten »bedürfnisangepassten Behandlung« (need adapted treatment) kommt fast die Hälfte der Erkrankten innerhalb der ersten zwei Jahre ohne Antipsychotika aus. Nach ähnlichen Prinzipien arbeitet die »Soteria«, ein Therapiekonzept für Menschen mit akuter Schizophrenie. Hier steht die emotionale Entspannung im Mittelpunkt; die Patienten nehmen Medikamente in der Regel nur in deutlich reduzierter Dosis ein. In Deutschland gibt es derzeit fünf Soteria-Einrichtungen. Die Patienten sind zwar überwiegend volljährig. Doch solche alternativen Angebote zeigten, so Huck, dass man auch anders mit Patienten umgehen kann. Dafür brauche man allerdings viel Zeit und die richtige Umgebung. Er ist sich sicher: »Wenn man in Kliniken andere Möglichkeiten hätte, zum Beispiel mehr Personal, würde man wesentlich weniger Minderjährige mit Psychopharmaka behandeln.«

KURZ ERKLÄRT: OFF-LABEL-USE

Als »off-label« bezeichnet man den Einsatz eines zugelassenen Arzneimittels in einem Fall, für den es nicht zugelassen ist, etwa in einer bestimmten Altersgruppe. Dabei können sich Ärzte auch auf medizinische Leitlinien stützen: Diese empfehlen bestimmte Verordnungen »off- label«, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse den Einsatz rechtfertigen. Damit die gesetzlichen Krankenkassen dafür auch zahlen, muss eine schwer wiegende Erkrankung vorliegen und eine begründete Aussicht auf Erfolg bestehen. Zudem darf es keine andere therapeutische Option geben.

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Merkliste für Angehörige: Das sollten Sie fragen, wenn der Arzt ein Psychopharmakon verschreibt

Kinder- und Jugendpsychiater empfehlen Eltern und Betroffenen, sich über folgende Themen informieren zu lassen:

1.Name des Medikaments und etwaige andere Bezeichnungen

2.Wirksamkeit bei anderen Kindern mit vergleichbarer Problematik; Zulassungsstatus oder Gründe für Off- label-Behandlung

3.Wirkweise und Dauer bis zur Wirkung; Kriterien für die Wirksamkeit

4.Übliche, seltene und ernste Nebenwirkungen; Risiko einer Abhängigkeit oder Sucht

5.Empfohlene Dosis und Regeln für die Einnahme

6.Vorab nötige Routineuntersuchungen und weitere begleitende Laborkontrollen; Dokumentation von Reaktionen des Kindes; Zuständigkeit für Dosisanpassung und Wirkungsüberprüfung

7.Aktivitäten, die während der Behandlung zu vermeiden sind

8.Dauer der Medikation und Gründe für ihre Beendigung; Umgang mit Problemen wie Krankheit und Nebenwirkungen

9.Kosten pro Woche oder Monat (auch im Vergleich von Original- und Nachahmerpräparaten)

10.Etwaige Pflicht, Dritte (beispielsweise Lehrer oder Hortbetreuer) zu informieren

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UNSERE AUTORIN

Nele Langosch ist Diplompsychologin und arbeitet als Journalistin in Hamburg. Besonders begeistert ist sie von dem Erfolg alternativer Therapieansätze bei Psychosen – ganz ohne Medikamente.

QUELLEN

Bachmann, C. J. et al.: Antipsychotic Prescription in Children and Adolescents – An Analysis of Data from a German Statutory Health Insurance Company from 2005–2012. In: Deutsches Ärzteblatt 111, S. 25–34, 2014

Grau, K. et al.: Psychopharmakologie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland: Off-label-Use und Zulassungen verfügbarer Fertigarzneimittel. In: Psychopharmakotherapie 22, S. 240–249, 2015

Le Noury, J. et al.: Restoring Study 329: Efficacy and Harms of Paroxetine and Imipramine in Treatment of Major Depression in Adolescence. In: British Medical Journal 351, 4320, 2015

Villemonteix, T. et al.: Grey Matter Volumes in Treatment Naïve vs. Chronically Treated Children with Attention Deficit/Hyperactivity Disorder: A Combined Approach. In: European Neuropsychopharmacology 25, S. 1118–1127, 2015

Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1381804

Spielend lernen

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EDITORIAL

Was macht fit fürs Leben?

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Katja Gaschler

Redakteurin

gaschler@spektrum.de

Eltern erziehen ihre Kinder nach bestem Wissen und Gewissen – und das nicht erst seit heute. Deshalb bekam Elke in den 50er Jahren eine saftige Ohrfeige, nachdem sie ihrer Puppe die Haare abgeschnitten hatte. Damit sie lernt, den Wert von Eigentum zu respektieren. Deshalb brachte sie 20 Jahre später ihre kleine Gabi in den Kinderladen (merke: Eigentum macht nicht glücklich!). Und deshalb darf Jan nachher nicht mehr raus zum Spielen. Ebenjene Gabi will mit ihm nämlich noch Mathe üben, denn ohne Fleiß keine Eigentumswohnung.

Ich hadere noch, welche Einstellung ich meinem Sohn nahebringen muss, damit er später im Leben zurechtkommt. Sollte er besser früh das Prinzip unserer Wettbewerbsgesellschaft begreifen? Oder kann er sein Potenzial nur mit dem Gefühl entfalten: »Ich bin gut so, wie ich bin«? Vielleicht sehen Sie darin keinen Widerspruch. In der Realität aber merken es die meisten Kindern spätestens in der 3. Klasse, wenn sie notenmäßig unter dem Durchschnitt liegen und damit wohl nicht zu den intellektuellen Leuchten gehören. Und dass die Eltern das in der Regel nicht wirklich gut finden. Hagelt es die ersten Vieren, schwindet schnell das Selbstvertrauen. So muss Gabi sich ganz schön was einfallen lassen, um Jan bei den Hausaufgaben zu motivieren (ab S. 24).

Es geht aber auch anders. Mika klingelt bei Jan: ob der nicht doch mit rausdarf? Mika schreibt auf der Gemeinschaftsschule keine Klassenarbeiten, er hat keine Hausaufgaben, und Noten gibt’s auch nicht. Letztere sind als Bewertungsinstrument ungeeignet und schaden dem Lernwillen, erklären die Gegner von Zensuren (ab S. 18). Das finden Jans Eltern realitätsfremd. Was soll aus Mika werden, wenn er jetzt nicht kapiert, worauf es ankommt?

Wenn man wüsste, worauf es ankommt, in 15 oder 20 Jahren! Den steigenden Bedarf an IT-Spezialisten hatten Forscher bereits Mitte der 1980er vorhergesagt, nur hatten sie ihn noch weit unterschätzt. Deshalb kann man heute auf dem dritten Bildungsweg auch ohne Abitur etwa Informatik studieren. In Unternehmen erklingt indes immer lauter der Ruf nach kreativen »Musterbrechern«, die mit Leidenschaft Neues schaffen. Ob das Turbo-Abi diese Kompetenzen stärkt?

Vielleicht tun Eltern besser daran, den Wunsch ihrer Sprösslinge nach Selbstbestimmung öfter zu akzeptieren oder gar zu unterstützen (»Den Freigeist wecken«). Da erinnert sich Gabi, dass das Matschen damals, als Kind, so schön war, und dann noch nackig. Außerdem: Spielen in der Natur trainiert die Konzentrationsfähigkeit (ab S. 38)! »Also gut, Jan, raus mit dir, wo das Wetter gerade so schön ist …«

Ihre

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IN DIESER AUSGABE

Schule meistern

Mit fünf in die Schule?

Viele Eltern von Fünfjährigen fragen sich, ob ihr Kind schon für die Schule bereit ist. Bringt eine frühe Einschulung langfristig eher Vor- oder Nachteile? Erste Langzeitstudien geben Hinweise.

Von Nele Langosch

Interview

»Ein Schulkind sollte seine Bedürfnisse gut äußern können«

Wann ist ein Kind schulreif? Bei der Entscheidung sollte nicht nur der intellektuelle Entwicklungsstand betrachtet werden. Der Psychologe Wolfgang Schneider erklärt, welche sozialen und emotionalen Kompetenzen ebenfalls zählen.

Lernen! Aber wie?