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HIRSCHHAUSENS HIRNSCHMALZ

Dr. Eckart von Hirschhausen

ist Mediziner, Moderator und derzeit mit seinem Bühnenprogramm »Wunderheiler« auf Tour. Er findet: Wer sich die Richtlinien für Waschzettel ausgedacht hat, dem sollte man mal den Kopf waschen und dann klein zusammenfalten.

Des Menschen Pille ist sein Himmelreich

Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.« Diesen Satz kennt jeder, doch was bedeutet er praktisch? Interessant ist das »und«: Der Gesetzgeber geht offenbar davon aus, dass man sowohl liest als auch spricht. Weil aber der Arzt oft keine Zeit hat, um ausführlich über Medikamente zu plaudern, bleibt es bei der Lektüre. Und zack – schon hat man das Gefühl, ein extrem gefährliches Präparat in Händen zu halten. Experten schätzen, dass rund die Hälfte aller verordneten Arzneimittel nie eingenommen wird. Eine Verschwendung von fast 20 Milliarden Euro pro Jahr!

Eine australische Forschergruppe wollte wissen, ob die Warnung vor Nebenwirkungen selbst schon schädlich sein kann. Unter dem Vorwand, ein neues Medikament zu testen, suchten sie Studierende mit Schlafstörungen. Die vermeintliche Wunderpille war allerdings ein Placebo, also ohne Wirkstoff. Die Hälfte der Probanden erhielt die Information, das Mittel verändere möglicherweise den Appetit: Manche lasen den Hinweis, dass ihr Hunger ansteigen könnte, andere die gegenteilige Aussage. Die Kontrollgruppen bekamen keine solche Warnung oder schluckten erst gar nichts.

PSYCHOTEST

Was denken Sie: Medikamente sollten gemäβ dem hippokratischen Eid eher nutzen als...?

A) schaden.

B) abnutzen.

C) ausnutzen.

D) nutznieβen.

Das erste Ergebnis: Placebos wirken! Die rote Zuckerpille ließ die meisten Teilnehmer besser einschlafen. Und die Nebenwirkungen? Ob der Appetit nach eigener Einschätzung zu- oder abnahm, hing tatsächlich vom Hinweistext ab. Rund 40 Prozent der Teilnehmer erlebten das, was sie erwarteten – kein einziger jedoch das Gegenteil dessen, was auf der Packungsbeilage stand.

Enthält der Waschzettel also lauter selbsterfüllende Prophezeiungen? Die an sich sinnvolle Aufklärung kann offenbar einen »Nocebo«-Effekt hervorrufen. Unterstützt wird das von der verwirrenden Sprache. Im »Deutschen Ärzteblatt« wurden Ärzte, Apotheker und Juristen einmal gefragt, was sie eigentlich unter »häufig« oder »selten« verstehen. Und siehe da, selbst die Profis meinen damit etwas völlig anderes, als die europäische Richtlinie für Patienteninformationen vorgibt. »Häufig« ist darin definiert als ein bis zehn Prozent. Wenn 100 Leute das Mittel nehmen, sollte also bei maximal zehn Personen die entsprechende Nebenwirkung auftreten, vielleicht auch nur bei einer.

Im normalen Sprachgebrauch ist »häufig« aber viel häufiger! Die Fachleute verstanden darunter, dass 75 von 100 Menschen eine Nebenwirkung zu erwarten hätten. »Selten« bedeutet offiziell einer von 1000 bis einer von 10 000, umgangssprachlich denkt man aber an einen von 20. Würde man die letzte Bundestagswahl in der Sprache von Packungsbeilagen beschreiben, wäre die FDP »häufig« gewählt worden! So weit gehen gefühlte und reale Statistik auseinander.

Bevor Sie aus Angst vor Nebenwirkungen ein Medikament wegwerfen, sprechen Sie besser wirklich mit Ihrem Arzt oder Apotheker. Wenn das Mittel im konkreten Fall sinnvoll ist, überwiegt der Nutzen – und Sie schaden sich stärker, wenn Sie es nicht einnehmen. Oder Sie hätten es von Anfang an nicht gebraucht. Alles, was effektiv ist, hat erwünschte und unerwünschte Effekte. Falls also jemand behauptet, seine Heilmethode hätte überhaupt keine Nebenwirkungen, liegt das meist daran, dass sie auch keine Hauptwirkung hat. chpt_fig_005

Quelle

Neukirch, N., Colagiuri, B.: The Placebo Effect, Sleep Difficulty, and Side Effects: A Balanced Placebo Model. In: Journal of Behavioral Medicine 38, S. 273 – 283, 2015

EDITORIAL

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Christiane Gelitz
Redaktionsleiterin
gelitz@spektrum.de

Verrückter Darm und allergische Seele

Das ist psychosomatisch.« Wenn der Arzt mit diesen Worten zum Psychotherapeuten überweist, fühlen sich viele Patienten nicht ernst genommen. Ein kluger Doktor stellt deshalb lieber die Frage: »Haben Sie gerade Stress?« Denn fast immer läuft es irgendwo nicht ganz rund, und die vermeintliche Ursache ist schnell gefunden. »Das ist der Prüfungsstress«, lautete das Urteil von zwei Ärzten, die ich einst während der Abiturvorbereitung wegen Bauchschmerzen aufsuchte. Kurz darauf ging ich in die Notaufnahme. Wenige Stunden später war der entzündete Blinddarm draußen.

Das Grundproblem: Psychisch bedingte Beschwerden fühlen sich nicht anders an als solche mit somatischer Ursache. Oft spielt beides zusammen. Es gibt körperliche Auslöser, aber erst die Beschäftigung mit den Symptomen trägt dazu bei, dass sie chronifizieren. Das ist etwa beim somatoformen Schwindel der Fall (S. 12). Außerdem kann Schonverhalten, das aus der Angst vor Schmerzen erwächst, den Körper schwächen. Meist handelt es sich um eine schwer entwirrbare Gemengelage von Faktoren.

Um die Zusammenhänge zu veranschaulichen, greifen Psychotherapeuten deshalb noch heute zu bildhaften Vergleichen: Schmerzt der Rücken, tragen wir schwer an unserer Alltagslast. Bricht eine Neurodermitis aus, reagiert die Seele womöglich »allergisch«. Spielt der Darm ververrückt, können wir einen Konflikt nicht verdauen. Dass es eine direkte Verbindung zwischen Denkund Verdauungsapparat gibt, zeigt unser dreiteiliges Spezial (S. 44 bis 59), das sich dem Mikrokosmos im Darm widmet – derzeit eines der spannendsten Forschungsfelder der Medizin.

Wissenschaftler entdecken immer mehr Verbindungsstücke zwischen Körper und Psyche: Akute Belastungen setzen Botenstoffe frei und diese ihrerseits Entzündungsprozesse in Gang. Chronischer Stress wiederum bringt den Hormonspiegel dauerhaft aus dem Lot.

Die Wechselwirkungen von Körper und Seele lassen sich jedoch auch heilsam nutzen (ab S. 66). Beim Singen etwa schüttet der Körper schmerzlindernde Endorphine aus und hebt den Spiegel eines Antikörpers, der Krankheitserreger abwehrt. Und Berührungen, beispielsweise in Form von Massagen, vermitteln das Gefühl von Zugehörigkeit und lindern damit Stress und Ängste.

Oft bedarf es dennoch professioneller Hilfe. »Kaum jemand kann sich wie Baron Münchhausen selbst aus dem Gefühlssumpf ziehen«, sagt der Münchner Facharzt für Psychosomatik Peter Henningsen (S. 16). Für den Alltag empfiehlt er jedoch erst einmal: Lassen Sie es sich gut gehen!

Herzlichst Ihre

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Unsere Reihe »Ratgeber«

Die ersten beiden Teile widmen sich unter anderem psychotherapeutischen Verfahren und alternativen Heilmethoden wie Yoga, Meditation und Hypnose.

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Teil 1
Sucht & Drogen

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Teil 2
Ängste & Depressionen

Teil 3
Psychosomatik

PSYCHOSOMATIK

Das entfremdete Selbst

Menschen mit einer Depersonalisationsstörung nehmen sich selbst und ihre Umgebung als unwirklich und fremd wahr. Was steckt hinter diesem merkwürdigen Empfinden?

Aus der Balance

Gleichgewichtsstörungen haben oft psychische Ursachen. Regine Tschan und Jörg Wiltink von der Universitätsmedizin Mainz über den »somatoformen Schwindel« und wie man ihn bekämpft.

INTERVIEW

Sind glückliche Menschen gesünder?

Ja, sagt Peter Henningsen, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin an der Technischen Universität München. Um sich vor Krankheiten zu schützen, empfiehlt er eine positive Lebenseinstellung und ein reges Sozialleben.

Wenn Stress unter die Haut geht

Psychische Belastungen können Hautkrankheiten wie Neurodermitis verschlimmern, denn Sorgen und Ärger schwächen die Immunabwehr. Die wichtigste Maßnahme: Entspannung!

Dämpfer fürs Gefühlschaos

Menschen, die sich selbst verletzen, stoßen häufig auf Unverständnis. Tatsächlich verarbeiten sie Schmerzen in anderer Weise als Gesunde.

GUTE FRAGE

Warum haben wir bei Stress mehr Lust auf Süßes?

Hirnforscher Achim Peters geht dem Phänomen auf den Grund.

Die Angst vor dem Teller

Wie kann es sein, dass immer mehr Menschen von Lebensmittelintoleranzen berichten, obwohl Experten keinen Anstieg beobachten? Der Nocebo-Effekt könnte schuld sein.

INTERVIEW

»Gesundheit beginnt im Kopf«

Unser Herz ist ein sensibles Organ. Der Physiologe Johann Caspar Rüegg erklärt, weshalb es unter Stress leidet und bei Trauer »bricht«.

GUTE FRAGE

Lässt uns Stress schneller altern?

Die Psychobiologin Sonja Entringer von der Charité in Berlin hat diese Frage untersucht.

SOMATOPSYCHOLOGIE

Mens sana in corpore sano

Medizin und Psychologie gehen traditionell getrennte Wege. Zu Unrecht, sagt der Neuropsychologe Erich Kasten. Manches Mal verschrieben Ärzte Psychopharmaka, obwohl eine körperliche Krankheit die seelischen Probleme verursache.

SPEZIAL ERNÄHRUNG

Essen für die Seele

Fettsäuren in der Nahrung können unsere Gemütslage beeinflussen – im Guten wie im Schlechten. Insbesondere Fischöle beugen Depressionen, Psychosen und impulsivem Verhalten vor.

Stimmungsmacher im Bauch

Die Darmflora hat einen direkten Draht zum Gehirn. Erste Experimente zeigen, dass Milchsäurebakterien auf diesem Weg die seelische Widerstandskraft von Mäusen und Menschen stärken.

Die Darm-Hirn-Achse

Jeden von uns besiedeln schätzungsweise 40 bis 100 Billionen Kleinstlebewesen. Offenbar beeinflusst dieses Ökosystem auch die Hirnentwicklung und das Verhalten.

BRENNPUNKT

»Er wirkte wie ein gütiger alter Herr«

Sexuelle Aktivitäten zwischen Patient und Therapeut gelten als Missbrauch einer beruflichen Machtposition. Die betreffenden Therapeuten sind in der Regel männlich, deutlich älter als ihre Patienten – und Wiederholungstäter.

THERAPIE

Was die Psyche stark macht

Ein Überblick über die wichtigsten Bausteine unseres mentalen Schutzschilds.

Melodien für Körper und Geist

Mediziner und Psychologen entdecken die Heilkraft des Singens. Welche Mechanismen stecken dahinter?

INTERVIEW

Den eigenen Witz neu entdecken

Die Stuttgarter Psychiaterin Barbara Wild und ihre Marburger Kollegin Irina Falkenberg erproben Humor in der Depressionsbehandlung. Ihr Fazit: Lachen heilt nicht, hilft aber!

Können Hände heilen?

Berührungen wird oft therapeutische Wirkung nachgesagt. Tatsächlich regen Streicheleinheiten spezielle Nervenzellen an, die Wohlgefühle wecken, und vertreiben so Ängste und Sorgen.

Live aus der Denkzentrale

Mit Hilfe moderner bildgebender Verfahren können Patienten lernen, ihre Hirnaktivität per Gedankenkraft zu steuern und so ihre chronischen Leiden zu dämpfen.

Schmerzhafte Konflikte

Menschen mit Migrationshintergrund sind in der neuen Heimat häufig besonderen Belastungen ausgesetzt. Da sich seelisches Leiden bei ihnen zudem meist anders äußert als bei Einheimischen, stehen Psychotherapeuten vor ungewohnten Herausforderungen.

RUBRIKEN

Editorial

Verrückter Darm und allergische Seele

Impressum

Hirschhausens Hirnschmalz

Des Menschen Pille ist sein Himmelreich

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Gehirn und Geist – das Magazin für Psychologie und Hirnforschung aus dem Verlag Spektrum der Wissenschaft

Das entfremdete Selbst

Sie erleben sich und ihre Umwelt als unwirklich und fremd: Menschen mit Depersonalisations-Derealisations-Syndrom. Der Psychologe Marco Canterino und der Mediziner Matthias Michal von der Universitätsklinik Mainz erklären, wie es dazu kommt und warum die Störung oft unerkannt bleibt.

VON MARCO CANTERINO UND MATTHIAS MICHAL

AUF EINEN BLICK

Irreal

1 Menschen mit Depersonalisationsstörung empfinden sich selbst oder die Welt um sich herum als unwirklich und fremdartig.

2 Da über die Erkrankung bislang wenig bekannt ist, wird sie oft fehldiagnostiziert und nicht angemessen therapiert.

3 Die größten Erfolge erzielten Psychologen und Ärzte mit einer Behandlung, welche die Körper- und Gefühlswahrnehmung der Patienten schärft.

 

Die vertraute Welt ist verschwunden, und nicht nur sie erscheint diffus, sondern auch meine gesamte frühere Identität. Ich habe kein Selbst mehr, mit dem ich mich identifizieren könnte. Ich bin innerlich wie tot, könnte einen Menschen umbringen oder Millionen im Lotto gewinnen – es würde mich nicht berühren. Ich habe auch das Gefühl für meinen Körper verloren. Alles ist so abgestumpft und unwirklich. Die Farben der Welt, der blaue Himmel, die Sonnenstrahlen lassen mich kalt. Ich kann sie nicht spüren.«

Mit diesen Worten schildert Thomas Martens* den seltsamen Bewusstseinszustand, der ihn seit mehr als drei Jahren quält. Der 27-Jährige ist Patient in unserer Klinik und leidet unter einem Phänomen, das Psychologen als Entfremdungserleben oder Depersonalisation bezeichnen. Die Betroffenen nehmen sich verändert wahr, fühlen sich wie abgelöst von ihrem Selbst. Erreicht dieser Zustand ein klinisch relevantes Ausmaß, spricht man von einer Depersonalisationsstörung.

Die Symptome können vielfältiger Art sein, und den Betroffenen fällt es oft schwer, sie in Worte zu fassen. Manche berichten, sie erlebten sich als Beobachter ihrer eigenen Handlungen und fühlten sich roboterhaft. Meistens wirkt auch die Umgebung auf die Patienten irreal – so als lebten sie in einer Traumwelt. Wegen der oft parallel verlaufenden Entfremdung von Ich und Umwelt nennen Psychologen und Mediziner die Störung auch »Depersonalisations-Derealisations-Syndrom« (kurz: DP-DR).

Allerdings verlieren die Betroffenen nicht in dem Maß das Gefühl für die Realität wie Patienten mit Psychosen; vielmehr steht das Gefühl des »Als ob« im Vordergrund. »Ich fühle mich, als ob ich keinen Körper hätte.« Oder: »Alles wirkt so unwirklich, als ob ich in einem Film mitspielte.« Das sind typische Aussagen von Menschen mit DP-DR. Psychotiker hingegen verlieren den Bezug zur Wirklichkeit und sind davon überzeugt, ihre Empfindungen würden von außen gesteuert.

Patienten mit Depersonalisations-Derealisations-Syndrom neigen zudem dazu, sich zwanghaft selbst zu beobachten und zu katastrophisieren. So deuten sie etwa jede Symptomverstärkung als schwere hirnorganische Erkrankung, beginnenden Wahnsinn oder gar als »Auflösung der Seele«. Häufig berichten die Betroffenen auch, keine Gefühle empfinden zu können, obwohl sie nach außen meist unauffällig wirken. Sie lachen und weinen, fühlen sich aber gleichzeitig völlig unbeteiligt.

Flüchtige Momente der Depersonalisation und Derealisation haben wohl die meisten von uns schon einmal erlebt – etwa, wenn wir das Gefühl hatten, »neben uns zu stehen« oder »nicht ganz bei uns zu sein«. Auslöser können Müdigkeit und Erschöpfung sein, Stress, eine fremde Umgebung, Drogenkonsum oder plötzliche Angst und Erschrecken. So ein Fremdheitserleben dauert aber in der Regel nur einige Sekunden bis wenige Minuten. Doch bei manchen Menschen hält dieser Bewusstseinszustand über Wochen, Monate oder sogar Jahre hinweg an. Sie bedürfen einer psychotherapeutischen Behandlung.

Das Klassifikationssystem ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt DP-DR als eigenständiges Störungsbild unter den »sonstigen neurotischen Störungen« auf (siehe Kasten); im DSM-5, der aktuellen Auflage des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatervereinigung, rangiert das Syndrom unter den so genannten dissoziativen Störungen.

Plötzlich in einer anderen Welt

Es beginnt im Durchschnitt mit etwa 16 Jahren und tritt im Gegensatz zu vielen anderen psychischen Erkrankungen bei Männern und Frauen etwa gleich häufig auf. Meist setzen die merkwürdigen Empfindungen ganz abrupt ein, manchmal in Verbindung mit Cannabiskonsum, Panikattacken oder körperlichen Leiden. So wurde auch Thomas Martens aus heiterem Himmel von dem besagten Gefühl übermannt: »Ich saß abends am PC, um an meiner Hausarbeit zu schreiben, und urplötzlich wirkte die ganze Umwelt surreal – irgendwie verschoben«, erklärt der junge Mann. »Ich kam mir vor wie in einem Film.«

Oft verläuft die Störung anschließend chronisch. Jedoch treten die Symptome nicht immer gleich stark hervor. Forciert werden sie häufig durch Stress, soziale Kontakte und wechselnde, ungewohnte Umgebungen, durch Drogen oder Neonlicht.

Diagnosekriterien

Die Handbücher der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) und der US-Psychiatervereinigung (DSM-5) definieren eine klinisch relevante Depersonalisation wie folgt:

ICD-10 (Depersonalisations-/Derealisations-Syndrom) DSM-5 (Depersonalisations-/Derealisationsstörung)

Mindestens eines der Kriterien 1 und 2 sowie die Kriterien 3 und 4 müssen erfüllt sein:

1.Der Betroffene empfindet seine eigenen Gefühle und Erfahrungen als losgelöst, fern, nicht als seine eigenen.

2.Objekte, Menschen oder die Umgebung erscheinen unwirklich und fern, künstlich, farblos, leblos.

3.Der Betreffende akzeptiert, dass hier ein subjektiver und spontaner Wechsel eingetreten ist, der nicht von äußeren Kräften oder anderen Personen verursacht ist (es besteht Krankheitseinsicht).

4.Klares Bewusstsein und Fehlen eines toxischen Verwirrtheitszustands oder einer Epilepsie

Kriterien A, B, C und D müssen erfüllt sein:

A.Andauernde oder wiederkehrende Erfahrungen der Depersonalisation oder Derealisation: sich im Hinblick auf den eigenen Körper, das Denken, Handeln, Erleben oder der Umgebung unwirklich oder wie losgelöst oder wie ein außen stehender Beobachter zu fühlen (zum Beispiel abgestumpft, wie im Traum oder im Nebel)

B.Während der Depersonalisationserfahrung bleibt die Realitätsprüfung intakt.

C.Die Symptome verursachen ein klinisch bedeutsames Leiden oder soziale, berufliche oder anderweitige Beeinträchtigungen.

D.Das Störungsbild geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück (etwa einen Krampfanfall).

E.Das Störungsbild kann nicht besser durch eine andere psychische Störung erklärt werden.

Seit 2005 bieten wir in der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz eine »Spezialsprechstunde Depersonalisation« an. Betroffene aus ganz Deutschland suchen uns auf, um sich beraten und helfen zu lassen. In der Regel haben sie eine mehrjährige Odyssee mit aufwändiger Diagnostik und mehreren Therapieversuchen hinter sich, ohne dass die Wurzel der Beschwerden, eben die Depersonalisationsstörung, erkannt worden wäre. Stattdessen bekamen sie Psychopharmaka verordnet – meist blieb dies jedoch ohne Erfolg. Viele unserer Patienten gelangen durch Eigenrecherche zur Diagnose und finden über diesen Weg in unsere Sprechstunde.

Auch wenn alle Betroffenen an dem veränderten Bewusstseinszustand leiden, unterscheiden sie sich doch erheblich darin, wie sehr er sie im Alltag beeinträchtigt. Während einige teils sehr erfolgreich ein Studium abschließen oder im Beruf Karriere machen, fühlen sich andere schon von den geringsten Herausforderungen überfordert und ziehen sich aus allen Lebensbereichen zurück. Thomas Martens etwa hatte große Angst davor, nach Abschluss seines Studiums Eigenverantwortung zu übernehmen. Stattdessen vergrub er sich bei seinen Eltern und mied jeglichen Kontakt zur Außenwelt.

Allen Patienten gemeinsam ist das Leiden unter einer inneren Isolation sowie das bedrückende Gefühl, das Leben ziehe sinnlos an ihnen vorbei. Nicht selten leben sie in Partnerschaften, ohne dass der Lebensgefährte eine Ahnung von ihrem Zustand hat. Das funktioniert erstaunlich häufig, weil die Betroffenen wissen, wie sie sich in einer bestimmten Situation zu verhalten haben und was der Partner von ihnen erwartet. Aber das hat seinen Preis: Die Patienten leiden darunter, anderen etwas vorzuspielen.

So sehr sie auch merken, was andere von ihnen erwarten – für ihre eigenen Bedürfnisse haben sie häufig kein Gespür. Viele unserer Patienten fühlen sich unzufrieden, selbst wenn sie erfolgreich im Leben stehen. Sie glauben, in ihnen schlummere eigentlich ein großes Potenzial, sie fänden aber keine Möglichkeit, es zu entfalten.

Ganz besonders leiden Menschen mit DP-DR unter dem Gefühl, die untersuchenden Ärzte verstünden sie nicht oder nähmen sie nicht ernst. Hinzu kommt meist eine große Angst davor, die Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden. So gewöhnen sich die Betroffenen in der Regel irgendwann ab, überhaupt noch über ihr Leid zu sprechen, und versuchen, sich möglichst unauffällig zu verhalten.

Unterschätzte Erkrankung

Obwohl DP-DR-typische Bewusstseinszustände bei psychiatrischen Patienten routinemäßig untersucht und dokumentiert werden sollten, werden diese Phänomene in der klinischen Praxis wie auch in der Forschung häufig vernachlässigt. Was ist der Grund dafür? Eine Rolle spielt sicherlich die Schwierigkeit der Betroffenen, ihre Erlebnisse zu schildern. Noch entscheidender dürfte jedoch sein, dass sich Ärzte oft nicht über die Verbreitung der Störung im Klaren sind.

Bei einer systematischen Auswertung von Krankenkassendaten aus dem Jahr 2006 bemerkten wir, dass das Depersonalisations-Derealisations-Syndrom bei weniger als einem von 14 000 Versicherten diagnostiziert wurde. Damit wäre es eine extrem seltene Störung. Demgegenüber stehen Studien, in denen gezielt nach Symptomen der DP-DR gefragt wurde. So ergab eine von unserer Forschungsgruppe durchgeführte repräsentative Untersuchung aus dem Jahr 2009, dass 1,9 Prozent der Deutschen schwere DP-DR-typische Symptome erleben und sich insgesamt fast zehn Prozent zumindest etwas durch sie beeinträchtigt fühlen (einige der Fragen finden Sie in dem Kasten rechts). Demnach wäre das Depersonalisationssyndrom ähnlich verbreitet wie andere psychische Erkrankungen, etwa Schizophrenie, Magersucht oder Zwangsstörungen.

Nach einem gängigen Irrglauben sei DP-DR grundsätzlich nur Ausdruck einer schweren Depression oder Angststörung. Zwar stellten Anthony David und seine Kollegen vom King’s College London 2003 fest, dass etwa 60 Prozent der Betroffenen zusätzlich eine Depression und etwa 40 Prozent eine Angststörung aufweisen. Häufig treten diese aber erst als Folge der Entfremdung auf.

Forscher belegten mit Hilfe moderner bildgebender Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) und der Positronenemissionstomografie (PET) Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Depersonalisationsstörung. Besonders der häufig beklagte Gefühlsverlust spiegelt sich in der Hirnaktivität wider: So fanden Psychiater um Erwin Lemche vom King’s College London 2008 heraus, dass die Amygdala der Betroffenen sowie andere limbische Strukturen schwächer auf emotionale Reize reagieren als die entsprechenden Hirnareale gesunder Probanden. Sahen die Patienten Gesichter mit trauriger Mimik, nahm die Amygdala-Aktivität sogar ab, während sie bei gesunden Kontrollpersonen deutlich anstieg.

Wie die Londoner Forscher bereits ein Jahr zuvor beobachtet hatten, aktivieren emotionale Stimuli bei Patienten mit DP-DR verstärkt Regionen im Stirnhirn, genauer gesagt im präfrontalen Kortex. Diese sind unter anderem an der Regulation von Emotionen beteiligt. Aber nicht nur in der Gehirnaktivität spiegelt sich die Erkrankung wider. So reagiert etwa das autonome Nervensystem von Betroffenen schwächer auf Furcht einflößende Reize als das von gesunden Probanden, wie Mauricio Sierra, ebenfalls vom King’s College London, 2006 feststellte. Offenbar werden die Verarbeitung emotionaler Erlebnisse und die begleitende körperliche Erregung unterdrückt.

Vertraut oder fremd?

Eine von der Mainzer Arbeitsgruppe durchgeführte Untersuchung ergab, dass 1,9 Prozent der Deutschen regelmäßig typische Symptome einer Depersonalisation aufweisen. Das Entfremdungserleben der Teilnehmer erfassten die Forscher unter anderem mit den folgenden Fragen:

Haben Sie sich jemals so gefühlt, als ob Ihr ganzer Körper oder Teile Ihres Körpers irgendwie losgelöst von Ihnen wären oder nicht zu Ihnen gehören würden?

Haben Sie sich jemals unwirklich gefühlt, oder kamen Sie sich selbst jemals fremd(artig) vor?

Haben Sie jemals in den Spiegel geschaut und sich dabei von Ihrem eigenem Bild wie abgetrennt erlebt?

Haben Sie sich jemals gefühlt, als ob Sie in einem Traum wären, oder den Eindruck gehabt, losgelöst von Ihren Bewegungen zu sein?

Michal, M. et al.: Screening nach Depersonalisation-Derealisation mittels zweier Items der Cambridge Depersonalisation Scale. In: Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie 60, S. 175 – 179, 2010

Aber was sind die Ursachen dieser merkwürdigen Leiden? Und wer ist besonders gefährdet? Leider existieren bislang nur wenige Anhaltspunkte zu möglichen Auslösern. Es ist beispielsweise vollkommen unklar, inwieweit genetische Faktoren die Störung forcieren. Anders als schwere dissoziative Störungen scheint das Depersonalisations-Derealisations-Syndrom auch nicht vermehrt nach traumatischen Erfahrungen wie sexuellem Missbrauch oder körperlichen Misshandlungen in der Kindheit aufzutreten.

Doch viele Betroffene berichten in unserer Sprechstunde, sie seien schon in der Kindheit sehr nachdenklich und introvertiert gewesen. Auch die Beziehung zu den Eltern spielt offenbar eine Rolle: Fast allen unseren Patienten fehlte nach eigenen Angaben in der Kindheit ein »echter« emotionaler Kontakt zu ihren Eltern. Zwar haben sie diese nicht als lieblos in Erinnerung; doch Versuche, mit ihnen über Sorgen oder andere emotionale Themen zu sprechen, hätten sie regelmäßig abgeblockt.

Interessanterweise scheinen auch kulturelle Faktoren die Häufigkeit der DP-DR zu beeinflussen. Die Forschergruppe um Sierra fand 2006 heraus, dass die Störung in den individualistisch geprägten Gesellschaften Mitteleuropas häufiger auftritt als in kollektivistischen Ländern wie etwa Kolumbien.

Einem psychodynamischen Erklärungsansatz zufolge stellt das Phänomen eine psychische Abwehrfunktion dar. Der österreichische Psychiater Paul Schilder (1886 – 1940) beschrieb die Störung als eine »Flucht vor dem vollen Erleben der Wirklichkeit«, die den Betroffenen vor unerträglichen oder besonders belastenden Affekten schützen solle.

Sackgasse Introspektion

Nach einer neueren, verhaltenstherapeutischen Sichtweise erhalten die Betroffenen durch die zwanghafte Selbstbeobachtung und Katastrophisierung ihre Depersonalisationsstörung selbst aufrecht. Permanent fokussieren sie auf ihre Symptome und deuten eigentlich »alltägliche« Erscheinungen als schwere Erkrankungen. Hier beginnt ein Teufelskreis: Die Symptome verstärken sich, die Betroffenen konzentrieren sich noch stärker darauf und so weiter. Dieses Modell besagt, fast jeder Mensch könne durch bestimmte Verhaltensweisen, etwa wenn er sich längere Zeit im Spiegel betrachtet, Entfremdungsgefühle erzeugen.

Unter Medizinern und Psychologen gilt die Störung als schwer behandelbar. Das liegt vor allem daran, dass man noch nicht viel über sie weiß und die Therapieansätze sehr unspezifisch sind. So gibt es etwa kein einziges für die Behandlung zugelassenes Medikament. Studien zufolge kann eine Kombination aus einem Antidepressivum vom Typ der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und dem Antiepileptikum Lamotrigin manchen Patienten helfen.

Die Arbeitsgruppe um Antonio Mantovani von der Columbia University in New York konnte Anfang 2011 die Symptome bei einigen ihrer Patienten mit Hilfe der transkraniellen Magnetstimulation mindern: Die Forscher reizten ein Hirnareal am Übergang vom Temporal- zum Parietallappen, das an der Selbstwahrnehmung beteiligt ist. Nach drei Wochen täglicher Stimulation verbesserte sich der Zustand bei der Hälfte der Probanden, worauf diese weitere drei Wochen behandelt wurden. Die so genannte Cambridge Depersonalization Scale, eine Skala zur Bestimmung der Symptomstärke, offenbarte schließlich, dass diese bei den sechs Patienten nach der Therapie um rund zwei Drittel zurückgegangen war.

Den bislang vielversprechendsten Ansatz bietet eine störungsspezifische Psychotherapie. Zu Beginn einer solchen Behandlung klärt der Therapeut den Patienten ausführlich über das Krankheitsbild und die möglichen Ursachen auf – dazu gehören auch die Verhaltensweisen, welche die Symptome aufrechterhalten. Bereits diese Einführung entlastet viele Patienten, weil sie sich das erste Mal ernst genommen fühlen und merken, dass sie nicht allein mit der Störung sind.

Ein Tagebuch, in das die Betroffenen regelmäßig ihre Beschwerden eintragen, soll ihnen ein Gefühl dafür geben, welche Situationen ihre Symptome eher verstärken und welche sie lindern. Außerdem weist der Therapeut die Patienten in Achtsamkeitsmeditation ein. So lernen sie etwa, sich beim Atmen für eine Weile ausschließlich auf ihren Körper zu konzentrieren. Wie unsere Arbeitsgruppe 2007 herausfand, sinkt mit zunehmender Depersonalisation die Fähigkeit der Patienten, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren. Die Achtsamkeitsmeditation steuert dagegen, indem sie die Körper- und Emotionswahrnehmung schärft.

Im Zuge der Psychotherapie sollen sich die Betroffenen ihrer Neigung bewusst werden, Gefühle zu unterdrücken und aus Furcht vor Zurückweisung Konflikte zu vermeiden. Verlieren sie diese Ängste, können sie sich oft nach und nach wieder als real wahrnehmen und ihre eigenen Bedürfnisse erkennen.

So auch Thomas Martens: Im Lauf der Therapie fiel es ihm zunehmend leichter, sich mit seinen Ängsten zu beschäftigen, ohne sofort Entfremdungssymptome zu entwickeln. Das Bewältigungstraining half ihm, die Furcht vor der Eigenverantwortung zu verlieren. Noch während der Behandlung begab er sich auf Wohnungssuche, um aus seinem Elternhaus auszuziehen.

Die mangelnde Beachtung der Depersonalisationsstörung hat häufig fatale Fehldiagnosen und -therapien zur Folge. So ergab eine Befragung zur Behandlungsgeschichte von 117 DP-DRPatienten am Mount Sinai Hospital in New York, dass elf Prozent der Patienten fälschlicherweise als schizophren galten und entsprechend Neuroleptika erhielten.

Ein möglicher Grund für diese Fehldiagnose ist die Tatsache, dass manche Psychiater Merkmale der DP-DR als unspezifische Frühsymptome der Schizophrenie ansehen. Zudem zählt das Krankheitsbild des Depersonalisations-Derealisations-Syndroms ebenso wie einige psychotische Symptome zu den Ich-Störungen. Weil sie unter demselben Oberbegriff stehen, werden sie häufig in einen Topf geworfen.

Tagebuch aus einer fremden Welt

Die amerikanische Psychiaterin Daphne Simeon beschrieb den Fall des Literatur- und Philosophieprofessors Henri Frédéric Amiel (1821 – 1881), der lebenslang darunter litt, dass sich die Welt und alles in ihr irreal und substanzlos anfühlte. Bereits mit 24 Jahren wurde Amiel Professor für französische Literatur, brachte danach aber keine bedeutenden Arbeiten mehr zu Stande. Allerdings notierte er seine Gedanken und Gefühle ausführlich in Tagebüchern.

Erst nach seinem Tod entdeckte man die Aufzeichnungen, die fast 17000 Seiten umfassen. Die Publikation der Tagebücher machte den Professor posthum berühmt. Aufsehen erregte besonders die Genauigkeit und Aufrichtigkeit seiner Innenschau sowie die Klarheit, mit der er seine Gedanken ausdrückte. Sein Entfremdungserleben beschrieb Amiel etwa so: