EDITORIAL

Von Orchideenfächern und Karrierepfaden

Als ich 2000 mein Psychologiestudium an der Universität Mainz begann, wurde gerade ein neues Schwerpunktfach im Hauptstudium eingeführt: Gesundheitspsychologie. Neben Klinischer und Wirtschaftspsychologie konnte man es als eines von zwei Anwendungsfächern zur Vertiefung wählen. Die meisten Kommilitonen standen dem Neuling allerdings skeptisch gegenüber: Das Gebiet sei zwar irgendwie spannend, für die spätere Stellensuche sei es aber vielleicht nicht förderlich, sich auf einen so »exotischen« Bereich zu spezialisieren.

Joachim Retzbach

retzbach@spektrum.de

Die Diplom-Studienordnung ist Geschichte. Und auch die Einstellungen zur Gesundheitspsychologie als Praxisfeld dürften sich gewandelt haben. Eine steigende Zahl von Psychologen arbeitet in Reha-Kliniken, kümmert sich in Betrieben um die Prävention von Burnout und anderen stressbedingten Krankheiten oder in der Palliativversorgung um schwer kranke Menschen. Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) sieht derzeit in diesem Arbeitsfeld gute Jobchancen. Einen Überblick über den aktuellen Stand des Fachs und seine Geschichte geben Heike Spaderna von der Universität Trier und Heike Eschenbeck von der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd ab S. 24.

Dabei ist die Gesundheitspsychologie natürlich nur eines von vielen Praxisfeldern, in denen Psychologen nach dem Studium Arbeit finden. Am beliebtesten bei Absolventen ist nach wie vor – neben der Wirtschaftspsychologie (Überblick ab S. 46) – vor allem die Klinische Psychologie. Sie vermittelt die Grundlagen für die Ausbildung zum Psychotherapeuten, jener Tätigkeit also, die immer noch die meisten Studierenden im Sinn haben, wenn sie sich für das Studienfach entscheiden. Wie sich der Umgang mit psychisch kranken Menschen mit der Zeit verändert hat, welchen Aufschluss die Erforschung des Gehirns über psychische Krankheiten geben kann und wie Psychologinnen und Psychologen aktuell traumatisierten Geflüchteten helfen, lesen Sie ab S. 6.

Auch weniger verbreitete Anwendungsgebiete wie Kultur- oder Ingenieurpsychologie werden in diesem Dossier vorgestellt. Und dennoch deckt es nicht alles ab, was Psychologen beruflich machen. Mich beispielsweise sollte es nach dem Studium über Umwege zum Journalismus ziehen. Was zeigt: Karrierewege sind heutzutage verschlungen – insbesondere, wenn man seiner Neugier und seinen Neigungen folgt.

Eine anregende Lektüre wünscht

IN DIESER AUSGABE

Klinische Psychologie

Vom Exorzismus zur Psychotherapie

Die Behandlung psychisch kranker Menschen hat eine lange Tradition. Aber helfen neuere Verfahren tatsächlich am besten?

Von Sven Barnow, Annemarie Miano und Katrin Schulze

Psychotraumatologie

»Die Folgen sind dramatisch«

Die Psychologin Maggie Schauer beschreibt ihre Arbeit im Traumazentrum der Universität Konstanz.

Von Daniela Zeibig und Melinda Baranyai

Klinische Neuropsychologie

Detektivarbeit im Gehirn

Wie kann man Menschen mit Hirnschädigungen helfen?

Von Theresa Halder, Johanna Funk und Thomas Schenk

Gesundheitspsychologie

Gelassen, glücklich und gesund

Unsere Denkweise spielt bei ungesundem Verhalten eine große Rolle.

Von Heike Spaderna und Heike Eschenbeck

Gute Frage

Warum nehmen viele ehemalige Raucher an Gewicht zu?

Das Phänomen erläutert Anil Batra, Professor für Suchtmedizin.

Verkehrspsychologie

Risikofaktor Mensch

Neun von zehn Autounfällen gehen auf menschliches Versagen zurück. Verkehrspsychologen erforschen, was unsere Fahrweise sicherer macht.

Von Mark Vollrath

Ingenieurpsychologie

Auf der Suche nach dem perfekten System

Ingenieurpsychologen wollen technische Geräte optimieren. Ihr Ziel: funktionale, einfach zu bedienende Geräte, die den Nutzer begeistern.

Von Manfred Thüring und Stefan Brandenburg

Sportpsychologie

Schneller, höher, weiter!

Mit mentalem Training helfen Psychologen den Athleten, effektiv zu trainieren und im Wettkampf die bestmögliche Leistung abzurufen.

Von Oliver Stoll

Medienpsychologie

Hier und doch woanders

Das vergleichsweise junge Anwendungsgebiet widmet sich unter anderem der Frage, wie Internet und Multimedia unsere Psyche beeinflussen.

Von Markus Appel und Joachim Retzbach

Pädagogische Psychologie

Die Lehre vom Lernen

Um Schule und Lernen entzünden sich viele Kontroversen. Pädagogische Psychologen stellen verbreitete Ansichten auf den Prüfstand.

Von Birgit Spinath

Nachgefragt

Woran forschen Sie gerade, Herr Klieme?

Ein Erziehungswissenschaftler hinterfragt den Sinn von Noten.

Von Rabea Rentschler

Umweltpsychologie

Die Welt und wir

Die Umwelt beeinflusst unser Erleben und Verhalten – und umgekehrt wirken wir auf sie ein. Psychologen ergründen die komplexe Beziehung.

Von Jürgen Hellbrück und Elisabeth Kals

Rechtspsychologie

Verbrechen unter der Lupe

Warum werden Menschen kriminell? Wie verlässlich sind Zeugenaussagen? Einblicke in ein spannendes Berufsfeld.

Von Niels C. Habermann

Kulturpsychologie

Macht der Gemeinschaft

Für ein friedliches Zusammenleben ist es heute wichtig, fremde Sitten und Gebräuche zu verstehen.

Von Ulrich Kühnen

Arbeits- und Organisationspsychologie

Mehr als nur Broterwerb

In Betrieben und Organisationen untersuchen Psychologen, wie sich Gesundheit und Zufriedenheit, Leistung und Engagement von Mitarbeitern steigern lassen.

Die Dreh- und Angelpunkte bilden Kommunikation, Wertschätzung und die Zusammenarbeit in Teams. Besonderes Fingerspitzengefühl ist bei Veränderungsprozessen gefragt.

Von Simone Kauffeld und Amelie Güntner

Editorial

Infografik

Psychologie der Verführung

Konsumpsychologen entwickeln Tipps und Tricks für den Verkauf.

Von Ulrich Pontes

Impressum

Hirschhausens Hirnschmalz

Auf die Stirn geschrieben

KLINISCHE PSYCHOLOGIE

Fast jeder Zweite in Deutschland erkrankt irgendwann in seinem Leben an einer psychischen Störung. Die Klinische Psychologie erforscht, was den seelischen Leiden zu Grunde liegt – und wie man sie erfolgreich therapiert.

Vom Exorzismus zur Psychotherapie

VON SVEN BARNOW, ANNEMARIE MIANO UND KATRIN SCHULZE

 

Auf einen Blick:

Die Geschichte der Klinischen Psychologie

 

1 Die Klinische Psychologie widmet sich der Entstehung und Behandlung von psychischen Störungen und hat eine lange Tradition.

 

2 Die beiden großen historischen Schulen, die Psychoanalyse und der Behaviorismus, prägen hier zu Lande noch heute den Umgang mit psychisch erkrankten Menschen.

 

3 Seit dem Aufkommen der dritten Welle der Verhaltenstherapie berücksichtigen Therapeuten verstärkt Konzepte wie Achtsamkeit, Akzeptanz und Meditation. Inwiefern das den Therapieerfolg steigert, ist jedoch umstritten.

Der Bus ist ihr einfach vor der Nase weggefahren. Dabei hat der Fahrer Anna doch noch genau gesehen! Sie wird zu spät kommen, ausgerechnet heute, wo eine wichtige Sitzung stattfindet. Und nun klingelt auch noch ihr Smartphone. Im richtigen Moment, denn am anderen Ende der Leitung ertönt eine Computerstimme, die sie fragt, wie stark bei ihr gerade bestimmte Gefühle vorhanden sind. Anna tippt bei Wut eine Zehn in ihr Handy ein, das bedeutet intensiv. Wie sie damit umgegangen sei, will der digitale Versuchsleiter daraufhin wissen.

Moderne klinische Forschung findet längst nicht mehr nur im Labor statt, sondern auch im realen Leben – so wie im Fall von Anna. Unsere Arbeitsgruppe an der Universität Heidelberg kontaktierte zwischen 2012 und 2014 mit Hilfe einer Software rund 300 Versuchsteilnehmer jeweils über einen längeren Zeitraum mehrmals täglich. Damit erfassten wir, wie sich diese in ihrem Alltag fühlten. Anschließend werteten wir aus, wie stark, wie häufig und wie wechselhaft die Probanden ihre Gefühle erlebten. Insbesondere interessiert uns dabei, wie sie mit diesen umgingen. Solche Befragungen im täglichen Leben können zu wichtigen Einsichten führen, die wir im Labor nur schwer erhalten. So sind Menschen mit einer depressiven Neigung zum Beispiel weniger in der Lage, ihre Emotionen effektiv zu regulieren, und grübeln eher, statt sie erst einmal wahrzunehmen und zu akzeptieren. Wir haben etwa nachgewiesen, dass unvermittelte Schwankungen positiver Gefühle mit einem höheren Risiko einhergehen, eine psychische Störung wie etwa eine Depression zu entwickeln, während unbeständige negative Gefühle, also wenn eine Person rasch zwischen Wut und Traurigkeit wechselt, weniger bedeutsam sind.

Psychische Störungen sind kein Phänomen der Neuzeit; es gab sie wohl schon immer. Heute sind sie in unserer Gesellschaft aber präsenter als früher – und sie werden mit wissenschaftlichen Methoden erforscht. Wie wichtig das ist, belegen aktuelle Statistiken: Seelische Leiden sind der dritthäufigste Grund für eine Arbeitsunfähigkeit und verursachen jeden siebten Krankheitstag im Beruf. Die Wahrscheinlichkeit, mindestens einmal im Leben eine solche Erkrankung zu entwickeln, liegt bei rund 43 Prozent.

Natürlich lässt sich darüber diskutieren, welches Verhalten und Erleben noch »normal« ist und was man als abweichend oder krankhaft definiert. Grundsätzlich gelten Verhaltensweisen und Gefühle als behandlungswürdig, wenn sie beim Betroffenen einen Leidensdruck erzeugen, ihn im Alltag beeinträchtigen oder gar eine Gefahr für ihn oder seine Umgebung darstellen. Ab wann eine psychische Störung vorliegt, ist wie bei organischen Erkrankungen in den aktuellen diagnostischen Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation festgelegt, der so genannten ICD-10 (10. Auflage der »International Classification of Diseases«). Mittels klinischer Interviews erkunden Psychiater oder Psychologen die Symptome ihrer Patienten und stellen daraufhin eine Diagnose. Dieses Klassifikationssystem ist eine der wichtigsten Errungenschaften der modernen Klinischen Psychologie. Der US-amerikanische Diagnoseleitfaden DSM-5 (5. Auflage des »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders«) wird hier zu Lande vorwiegend in der Forschung verwendet.

In früheren Zeiten ging man noch davon aus, dass böse Geister, Dämonen oder Konflikte zwischen Gott und dem Teufel auffälliges Verhalten verursachen. Entsprechend beschränkte sich die Behandlung überwiegend auf Geister- oder Teufelsaustreibungen. Für einen Lichtblick sorgte der griechische Arzt Hippokrates (um 460–370 v. Chr.). Er führte als einer der ersten Gelehrten psychische Störungen nicht auf übernatürliche Konflikte, sondern auf ein Ungleichgewicht von Körperflüssigkeiten zurück – und somit auf somatische Ursachen. Viele seiner Annahmen erscheinen heute bizarr, etwa dass Hysterie durch einen im Körper umherwandernden Uterus ausgelöst werde, der nach Kindern suche. Dennoch war seine Sichtweise revolutionär; sie geriet aber bald wieder in Vergessenheit. Im Mittelalter mussten erneut Dämonen zur Erklärung ungewöhnlichen Verhaltens herhalten.

Im 15. Jahrhundert entstanden in Europa die ersten »Irrenhäuser«. Diese hatten jedoch eher das Ziel, die Bevölkerung vor den »Verrückten« zu schützen, als Letztere zu behandeln. Zu jener Zeit waren Ärzte der Auffassung, ein psychisch kranker Mensch habe sich bewusst für den Irrsinn und gegen die Vernunft entschieden. Deshalb versuchte man, den Patienten mit brutalen Methoden wie Verbrühen oder Fesseln »umzustimmen«. Um 1800 stieß der französische Mediziner Phillippe Pinel (1745–1826) eine humanitäre Reform in der Behandlung psychisch Kranker an. Er vertrat den Standpunkt, psychische Störungen solle man mit Unterstützung und Freundlichkeit behandeln. Meldungen über seine Erfolge führten auch in anderen Ländern zu einem Umdenken.

Als Wilhelm Wundt (1832–1920) an der Universität Leipzig im Jahr 1879 das erste psychologische Institut gründete, erlangte die Psychologie den Status einer eigenständigen Wissenschaft. Kurz darauf verwendete der Psychologe Lightner Witmer (1867–1956), ein Schüler Wundts, als Erster den Begriff »Klinische Psychologie«. Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten sich dann größtenteils unabhängig voneinander zwei Erklärungsmodelle für menschliches Erleben und Verhalten: die Psychoanalyse und der Behaviorismus.

Ein Vorreiter der Psychoanalyse war der Wiener Arzt Josef Breuer (1842–1925), dessen Patientin Bertha Pappenheim (besser bekannt unter dem Pseudonym Anna O.) in den Jahren 1880 bis 1882 ohne ersichtliche körperliche Ursache unter Lähmungserscheinungen litt. Breuer bemerkte, dass sie, ebenso wie andere Patienten, kurz nach einer Hypnose weniger oder keine Symptome zeigte. Bei seiner Forschung zur Hypnose unterstützte ihn sein Wiener Kollege Sigmund Freud (1856–1939), der wenige Jahre später die Psychoanalyse begründete. Die beiden Mediziner nahmen an, dass innere Konflikte, oft sexueller Natur, körperliche und seelische Krankheitssymptome auslösen. Diese Konflikte in Gesprächen zu thematisieren und bewusst zu machen, helfe gegen die Beschwerden oder mildere sie zumindest ab. Freud betonte zudem, wie sehr unbewusste Vorgänge die Persönlichkeit prägen. Und er stellte viele wichtige Fragen, die Psychologen bis heute zu beantworten versuchen: etwa, wie sich Traumata in der frühen Kindheit auf die Psyche auswirken und mit welchen unbewussten Abwehrstrategien Menschen inneren Zwiespalt vermeiden.

Die Entdeckung des Unbewussten

Die klassische Psychoanalyse erfuhr im Lauf ihrer Geschichte etliche Veränderungen, Weiterentwicklungen und Abspaltungen. Zwei Kollegen von Freud, Carl Gustav Jung (1875–1961) und Alfred Adler (1870–1937), erarbeiteten zum Beispiel psychodynamische Theorien, die sexuelle Aspekte als weniger bedeutsam erachteten. Jung ging davon aus, dass Menschen ein kollektives Unbewusstes mit so genannten Archetypen erben, den Urformen menschlicher Vorstellungs- und Verhaltensmuster (Analytische Psychologie). Adler glaubte hingegen, nicht nur innere Triebe, sondern auch soziale und kulturelle Faktoren beeinflussten das Erleben und Verhalten (Individualpsychologie). Aus den Modifizierungen psychoanalytischer Prinzipien hat sich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie entwickelt. Sie geht ebenfalls davon aus, dass unser Denken, Fühlen und Handeln von unbewussten psychischen Einflüssen abhängt, die im Gespräch mit dem Therapeuten bewusst gemacht und gelöst werden sollen. Die Behandlung ist aber im Vergleich zur klassischen Psychoanalyse kürzer, und Therapeut und Patient sitzen sich gleichberechtigt gegenüber.

Während Freud und seine Kollegen das Unbewusste erforschten, entstand in Russland und den USA eine Forschungsrichtung, die sich ausschließlich beobachtbarem Verhalten widmete: der so genannte Behaviorismus (amerikanisches Englisch: behavior = Verhalten). Er gilt als wichtiger Vorgänger der heutigen Klinischen Psychologie, insbesondere der Verhaltenstherapie. Sein Begründer John B. Watson (1978–1958) meinte, nur Beobachtbares solle Untersuchungsgegenstand der psychologischen Forschung sein. Watson sah seine Disziplin als Naturwissenschaft des Verhaltens an und übertrug die Erkenntnisse des klassischen Konditionierens, die der russische Physiologe Iwan P. Pawlow (1849–1936) an Tieren gewonnen hatte, auf den Menschen.

Die häufigsten psychischen Störungen

Innerhalb von zwölf Monaten litten laut einer Studie von 2015 27,8 Prozent der Bevölkerung in Deutschland unter einer oder mehreren psychischen Störungen. Fast die Hälfte von ihnen erhielt mehr als eine Diagnose.

 

In einem berühmten, aus heutiger Sicht ethisch völlig inakzeptablen Experiment brachte der Psychologe dem elf Monate alten Albert bei, sich vor einer Ratte zu fürchten. Jedes Mal, wenn der Kleine das Nagetier erblickte, ließ der Forscher ein lautes Geräusch ertönen, um den Jungen zu erschrecken. Nach und nach entwickelte das Kind auch Angst vor Hasen, Hunden und anderen Tieren – diese so genannte Reizgeneralisierung spielt bei der Entstehung von Angststörungen eine große Rolle.

Einige Jahre später führte der Psychologe Burrhus F. Skinner (1904–1990) den Begriff der operanten Konditionierung ein. Bei dieser Methode wird im Unterschied zur klassischen Konditionierung spontan auftretendes Verhalten durch eine darauf folgende Konsequenz belohnt oder bestraft. Skinner hatte beobachtet, dass Ratten öfter auf einen Hebel drücken, wenn sie dafür Futter erhalten. Bekommen sie dagegen einen Stromschlag, wenn sie den Schalter betätigen, lernen die Tiere innerhalb von kurzer Zeit, diesen nicht mehr zu berühren. Skinner sah die operante Konditionierung als Chance, Menschen zum Besseren zu erziehen. Seine Zukunftsvision einer neuen Gesellschaftsordnung brachte er im utopischen Roman »Walden Two« zu Papier. Obwohl weder Watson noch Skinner versuchten, ihre Erkenntnisse auf die Behandlung psychischer Störungen anzuwenden, schufen sie mit der Konditionierung eine wichtige Grundlage der Verhaltenstherapie.

Das erste verhaltenstherapeutische Behandlungsverfahren entwickelte 1958 der südafrikanische Psychiater Joseph Wolpe (1915–1997): Die Technik der systematischen Desensibilisierung soll Patienten helfen, ihre Phobien zu überwinden. Dabei verlernen sie ihre Angst, indem sie sich in entspanntem Zustand in ihrer Vorstellung schrittweise mit Angst auslösenden Dingen konfrontieren – etwa unterschiedlich furchterregenden Spinnen. Die Methode nutzen Verhaltenstherapeuten auch heute noch, allerdings hat es sich bei solchen spezifischen Phobien als noch effektiver erwiesen, sich dem bedrohlichen Objekt tatsächlich zu stellen.

In den 1970er Jahren entstand eine zunehmende Unzufriedenheit, ausschließlich beobachtbares Verhalten zu berücksichtigen, denn kognitive Prozesse spielten bei der Aufrechterhaltung psychischer Störungen eine erkennbar gewichtige Rolle. Albert Ellis (1913–2007) und Aaron T. Beck (* 1921) leiteten die so genannte kognitive Wende der Verhaltenstherapie ein, die man heute auch als zweite Welle bezeichnet. Sie wollten zusätzlich schwer erfassbare Prozesse wie Denken und Fühlen in Forschung und Therapie berücksichtigen.

Beck ging davon aus, dass bestimmte Denkfehler eine Depression begünstigen und aufrechterhalten. Im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) lernen die Patienten daher noch heute, diese automatischen Gedanken zu erkennen und auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen. Inzwischen haben viele Studien die Wirksamkeit dieses Verfahrens bestätigt, bei Ängsten und Depressionen ebenso wie bei Essstörungen, somatoformen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten. So zeigt die KVT bei Depressiven beispielsweise ähnlich gute Effekte wie eine Pharmakotherapie, bei letzterer kommt es aber zu mehr Rückfällen. Auch die Wirksamkeit psychodynamischer Therapieverfahren überprüft die klinische Forschung mittlerweile. So zeigte 2009 eine Metaanalyse, dass es Patienten nach einer psychoanalytischen Behandlung deutlich besser geht als vorher. Welche Therapieform effektiver ist, hängt nicht zuletzt vom Störungsbild und den Bedürfnissen des Klienten ab.

 

Therapieschulen in Deutschland

Rund 23 500 psychologische Psychotherapeuten haben die Zulassung der Kassenärztlichen Vereinigung. Die meisten sind Verhaltenstherapeuten.

Die historische Trennung überwinden

Aktuell befinden wir uns in der dritten Welle der Verhaltenstherapie: Konzepte wie Achtsamkeit, Akzeptanz, Meditation und Emotionsverarbeitung haben an Bedeutung gewonnen. Denn die klassische KVT erzielt bei bestimmten komplexen, lang anhaltenden psychischen Störungen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung keine befriedigenden Erfolge. Daher gehören etwa zur Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT), die häufig Borderline-Patienten empfohlen wird, auch Techniken der Emotionsregulation, Meditation und achtsamkeitsbasierte Verfahren.

Zudem zeichnet sich die dritte Welle dadurch aus, dass viele Experten inzwischen dafür plädieren, die starre Trennung zwischen den großen Schulen, also den psychodynamischen Behandlungsverfahren und der KVT, zu überwinden. Neue Therapiekonzepte wie die Schematherapie beinhalten dementsprechend kognitive und psychodynamische Methoden. Auch viele Therapeuten ergänzen ihr Repertoire an Verfahren mit Therapieelementen anderer Schulen und passen sich so mehr dem an, was der Patient braucht.

Es bleibt dennoch offen, inwieweit die dritte Welle wirklich zu einem besseren Verständnis psychischer Störungen geführt hat. Wissenschaftler wie die Psychotherapeutin Brunna Tuschen-Caffier von der Universität Freiburg und der Psychotherapieforscher Jürgen Hoyer von der Universität Dresden kritisieren, neue Verfahren wie etwa die Schematherapie bedienten sich zum Teil mehrdeutiger Konstrukte, die einer empirischen Überprüfung kaum zugänglich seien.

Andere Wissenschaftler sind ebenfalls skeptisch. Ihr Hauptargument: Die neuen Therapieansätze seien in der Regel nicht wirksamer als die KVT. Aktuelle Metaanalysen stützen diese Aussage. Lediglich die DBT wirkt bei einer Borderline-Persönlichkeitsstörung nachweislich besser als die klassische KVT. Bei vielen anderen Störungen sind achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Therapien zwar effektiv – aber eben nicht effektiver als kognitiv-verhaltenstherapeutische Methoden. Dennoch hat das breitere Spektrum an Therapieverfahren gute Seiten, denn der Patient kann so die Technik wählen, die seiner Persönlichkeit und seinen Bedürfnissen am ehesten entspricht, und das ist Studien zufolge zentrale Voraussetzung für den Erfolg einer Therapie.

Wie wird sich die Klinische Psychologie weiterentwickeln? Wie könnte eine vierte Welle der Verhaltenstherapie aussehen? Diese Fragen kann momentan noch niemand beantworten. Ein bedeutsames Ziel der klinischen Forschung muss es jedenfalls sein, die Rückfallgefahr zu reduzieren. Denn bisher erkrankt beispielsweise zwei Jahre nach der erfolgreichen Behandlung einer depressiven Episode rund die Hälfte der Betroffenen erneut.

In Zukunft müssen Forscher außerdem individuelle Unterschiede der Patienten stärker berücksichtigen und besser ergründen, welche Faktoren welche Störung begünstigen. Weiterhin müssen sie Mittel und Wege finden, wie sich die psychische Gesundheit präventiv stärken lässt. Um zu verstehen, welche Therapieelemente eigentlich wirken und welche Bedeutung die Emotionsregulation hat, werden Wissenschaftler voraussichtlich noch mehr als bisher auf bildgebende Verfahren und genetische Analysen setzen. Und Probanden wie Anna helfen dabei, mit neuen Untersuchungsmethoden im Alltag dem auf die Spur zu kommen, was uns krank macht oder gesund hält.

 

um 400 v. Chr.

Frühe Vernunft

Der griechische Arzt Hippokrates ist einer der Ersten, der psychische Störungen nicht auf übernatürliche Konflikte, sondern auf körperliche Ursachen zurückführt.

 

500–1500

Vom Teufel besessen

Im Mittelalter glauben die meisten Menschen, böse Geister und Dämonen seien die Ursache psychischer Erkrankungen.

 

ab 1500

Erste Anstalten

In Europa entstehen die ersten »Irrenhäuser« zum Schutz der Bevölkerung vor den »Verrückten«.

 

um 1800

Kritik an Irrenhäusern

Philippe Pinel, Chefarzt des Krankenhauses La Bicêtre in Paris, setzt eine »Irrenhausreform« in Gang. Er fordert eine »moralische Behandlung« von Menschen mit psychischen Störungen.

 

1811

Brutale Methoden

Viele Psychiater vertreten die Ansicht, man könne psychisch Kranke mit Zwang, Angst und Schrecken wieder zur Vernunft bringen – etwa auf dem »Tranquilizer-Stuhl«, auf dem man den Patienten fixiert.

 

1858

Erste Handbücher

John C. Bucknill und Daniel H. Tuke veröffentlichen das »Manual der psychologischen Medizin«. Es ist eines der ersten systematischen Diagnose- und Behandlungshandbücher.

 

1896

Geburt der Psychoanalyse

Der Wiener Neurologe Sigmund Freud verwendet in seinem Aufsatz »Zur Ätiologie der Hysterie« erstmals den Begriff »Psychoanalyse«. Zur selben Zeit eröffnet der US-amerikanische Psychologe Lightner Witmer in Philadelphia die erste »psychologische Klinik«.

 

1920

Einzug der Verhaltenstherapie

Der US-amerikanische Psychologe John B. Watson erklärt, nur beobachtbares Verhalten solle Untersuchungsgegenstand der Psychologie sein. Er gilt als Begründer des Behaviorismus, dessen Prinzipien noch heute die moderne Verhaltenstherapie prägen. In seinem ethisch inakzeptablen Little-Albert-Experiment lehrt er ein elf Monate altes Kleinkind das Fürchten.

 

1960–1980

Die »Zweite Welle«

Der Psychiater Aaron T. Beck betont die Rolle von Kognitionen bei psychischen Störungen. Er gilt gemeinsam mit Albert Ellis als Begründer der kognitiven Verhaltenstherapie.

 

ab 1990

Die »Dritte Welle«

Verhaltenstherapeuten berücksichtigen zunehmend Akzeptanz, Achtsamkeit, Meditation und Emotionen bei der Behandlung.

 

1999

Gleichstellung

Psychotherapeutenreform in Deutschland: Psychologen mit einer Approbation zum psychologischen Psychotherapeuten können ihre Behandlungen von nun an über die Krankenkassen abrechnen. Zuvor war das Ärzten vorbehalten.

 

2013

Von Schwarz-Weiß zu Grautönen

In der 5. Auflage des »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders«, DSM-5, basieren Diagnosen noch immer hauptsächlich auf Kategorien (Diagnose: nein/ja), erlauben aber erstmals eine dimensionale Beurteilung des Schweregrads (leicht, mittel, schwer).

 

QUELLEN

Goyal, M. et al.: Meditation Programs for Psychological Stress and Well-Being: A Systematic Review and Meta-Analysis. In: JAMA Internal Medicine 174, S. 357–368, 2014

 

Jacobi, F. et al.: Twelve Months Prevalence of Mental Disorders in the German Health Interview and Examination Survey for Adults – Mental Health Module (DEGS1-MH): A Methodological Addendum and Correction. In: International Journal of Methods in Psychiatric Research 24, S. 305–313, 2015

 

Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1404235

 

UNSERE EXPERTEN

Sven Barnow ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg und leitet die dortige Psychotherapieambulanz, Annemarie Miano (Mitte) und Katrin Schulze arbeiten als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am selben Lehrstuhl. Barnow und sein Team erforschen unter anderem, welche Rolle Emotionen für die psychische Gesundheit spielen und wie Menschen lernen, besser mit ihren Gefühlen umzugehen.

PSYCHOTRAUMATOLOGIE

INTERVIEW Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Viele durchleben traumatische Odysseen. Die Psychologin Maggie Schauer berichtet über ihre Arbeit am Kompetenzzentrum Psychotraumatologie in Konstanz, das Betroffene behandelt.

»Die Folgen sind dramatisch«

Frau Doktor Schauer, weltweit sind mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht – vor Kriegen, Hungersnöten oder einfach vor ihren miserablen Lebensbedingungen. Wer kommt zu uns?

Zum einen sind das Menschen aus »failed states« wie Somalia, Afghanistan oder Irak: Sie flüchten vor Krieg, Armut und Gewalt. Familien schicken ihre Söhne und Männer auf die Reise nach Europa, da sie die größten Überlebenschancen haben und aus dem Exil eine Brücke der Versorgung bilden können. Andere haben keine Wahl und werden vertrieben, sie fliehen als Gruppe ohne bestimmtes Ziel. Die meisten Menschen sind innerhalb Afrikas, im Mittleren und Nahen Osten auf der Flucht – auch Alte und Kranke. Nach Deutschland kommen aber auch immer mehr Menschen, die für sich und ihre Kinder in ihren Herkunftsländern keine gute Lebensperspektive mehr sehen. Etwa wegen hoher Jugendarbeitslosigkeit, mangelnder Gesundheitsversorgung oder Bildungschancen.

Was erleben sie auf der Flucht nach Europa?

Menschen aus Syrien beispielsweise haben zwar keine lange Fluchtstrecke, sie treffen aber schon früh auf unüberwindliche Hindernisse beim Versuch, Grenzen zu überschreiten. Dann stranden sie in Lagern oder vor Zäunen. Menschen aus afrikanischen Ländern durchqueren meist über viele Monate hinweg andere Konfliktregionen und oft auch Teile der Sahara. Dabei machen sie Schreckliches durch: Sie erleben, wie andere an Erschöpfung sterben; Mord, Menschenhandel und Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Mal klammern sie sich auf dem Dach überfüllter Lastwagen fest – wer herunterfällt, verhungert am Wegesrand –, mal geht es zu Fuß weiter. Wenn sie an der nordafrikanischen Küste ankommen, sind viele Geflüchtete bereits stark geschwächt und krank. Es liegt dann schon so viel hinter ihnen, dass sie sich auf alles einlassen, um das Mittelmeer noch zu überqueren. So steigen am Ende 200 Leute in ein viel zu kleines Boot, dessen Motor nach wenigen Stunden ausfällt. Wer aufmuckt, wird bewusstlos geschlagen oder ins Meer geworfen. Solche Geschichten hören wir oft von jenen, die es zu uns schaffen.

Was sind die Folgen für die Psyche?

Für viele ist die Flucht extrem traumatisierend. Und schon vor dem Aufbruch mussten sie oft schwere Situationen meistern. In vielen Ländern beginnt massive Gewalt bereits im Elternhaus. Wenn jahrzehntelang Armut und Aggression auf der Straße herrschen, steigt dadurch der Druck in den Familien. So werden Flüchtende schon in ihrer Heimat traumatischem Stress ausgesetzt, was sie anfälliger für psychische Störungen macht.

Was erwartet sie in den Ankunftsländern?

Das hängt sehr davon ab, wo die Menschen ankommen. In manchen Ländern werden sie in so genannten Detention Camps interniert. In diesen Lagern werden die Geflüchteten je nach Herkunft und Auslastung unterschiedlich lange festgehalten. Oder sie werden ohne Versorgung und Geld auf die Straße geschickt und sind von da an obdachlos. In Deutschland bekommen Asylbewerber nach der Registrierung einen Platz in einer Erstaufnahmeeinrichtung zugewiesen, später in einer Gemeinschaftsunterkunft. Hier erhalten sie Leistungen zur Deckung des notwendigen Bedarfs und persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens. Also einen Schlafplatz, Essenspakete und medizinische Notversorgung. Allerdings müssen sich oft viele Personen ein Zimmer teilen. Kaum einer hat die Mittel, mehr als seine Grundbedürfnisse zu erfüllen.

 

MAGGIE SCHAUER