Impressum


Deutsche Erstausgabe
Originaltitel: TSAR
Copyright Gesamtausgabe © 2016 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

  

Cover: Michael Schubert
Übersetzung: Andreas Schiffmann

  

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2016) lektoriert.

  

ISBN E-Book: 978-3-95835-131-8

  

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Teil Eins 

Blaue Tage

 

Kapitel 1 

Bermuda, Gegenwart

 


Krieg und Frieden. Im Leben herrschte gemäß Alexander Hawkes Erkenntnissen entweder das eine oder das andere. Wie sein verstorbener Vater, dessen Vornamen er trug und der ein vielfach für seine heiklen Umtriebe gegen die Sowjets, während des Kalten Krieges, ausgezeichneter Held gewesen war, zog er den Frieden zwar vor, stand aber in dem Ruf, kampferfahren zu sein. Egal, wann und wo auf der Welt seine recht ungewöhnlichen Fähigkeiten verlangt wurden: Alex folgte bereitwillig diesen Anfragen. Wie die Hauptfigur eines Mantel-und-Degen-Films stürzte er sich ein ums andere Mal ins Getümmel.

Nun, mit 33, begann für ihn ein in jeder Hinsicht guter Lebensabschnitt, weil er weder zu jung noch zu alt war. Ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Jugend und Abgeklärtheit, wenn man es so ausdrücken wollte.

Um von vornherein keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Alex Hawke war durch und durch ein Gewaltmensch. Er war keineswegs zimperlich, wenn es ums Zuschlagen ging, ein Heißsporn vom Scheitel bis zur Sohle. Kurz nachdem er aus vollem Halse brüllend auf die Welt gekommen war, hatte sein sehr englischer Vater zu seiner in gleicher Weise typisch amerikanischen Mutter Kitty gesagt: »Ich spüre, der Junge wurde mit einem Herz geboren, das ihn auf jedes Schicksal vorbereitet. Die Frage ist nur, in welche Bahnen er seine mordsmäßige Energie lenkt.«

Normalerweise zeigte er ein zurückhaltendes, gelassenes Wesen, doch sein flammendes Temperament konnte unversehens mit ihm durchgehen. Umso seltsamer erschien, dass sich sein wahrer Charakter oberflächlichen Betrachtern nicht sofort erschloss. Jemand, dem er flüchtig zum Beispiel bei einem Abendspaziergang auf dem Berkeley Square begegnete, konnte ihn als umgänglichen, ja selbst unterhaltsamen Typen ansehen. Ihm wohnte etwas zwanglos Anmutiges inne, eine beschwingte Unbekümmertheit und ein vager Anflug von Heiterkeit in den Augen, die keinerlei Selbstgefälligkeit ausdrückten.

Allerdings war das, was Hawke ausmachte, seine Art zu Grinsen, als gebe es kein Morgen. Dabei wirkte er derart bezaubernd, dass ihm keine Frau und auch nicht viele Männer widerstehen konnten.

Außerdem fiel er auf. Kräftig gebaut mit heroischem Haupt, deutlich über 1,80m groß gewachsen, befolgte er einen strengen Trainingsplan, um immerzu überdurchschnittlich fit zu bleiben. Sein Gesicht sah aus, wie mit Sorgfalt modelliert, wobei sein inneres Ringen, die zahllosen Fragen und Zweifel, offenbar deutliche Spuren hinterlassen hatten.

Seine eisblauen Augen strahlten hell, und sein Mienenspiel deckte ein beeindruckendes Spektrum ab, angefangen bei Fröhlichkeit und Charme, die er in täglichen Unterhaltungen zeigte, bis zu tiefsinnigem Ernst. Je nachdem, wie er sich benahm, konnte er sich leicht mit einer leid- oder machtvollen Aura umgeben, sodass selbst belanglose Gesprächsthemen schlagartig an ungeahnt erhellender Bedeutsamkeit gewannen.

Hawke hatte einen dichten Schopf pechschwarzen Haares, die sich nur schwerlich bändigen ließen, eine hohe Stirn mit glatter Haut und eine gerade Nase, die ihm etwas Gebieterisches verlieh. Darunter befanden sich ein kantiges Kinn und ein wohlgeformter Mund, der verführerische Grausamkeit nur andeutete, wenn er die Winkel hochzog.

Man konnte sich ihn einfach als gesunden, gut geratenen Kerl vorstellen, mit dem andere Männer gerne mal was tranken, wohingegen ihn Frauen viel lieber in der Horizontalen sahen.

 

Er schlief nun schon fast eine Stunde an einem idyllischen Strand auf einer der Bermudainseln. Heute war ein heißer Tag, und der Himmel blau, wohin man auch schaute. Dass Hawkes Lider flimmerten und seine vom Salz ausgetrockneten Lippen zu einem schwachen Lächeln verzogen waren, zeugte von dem recht befremdlichen Traum, den er gerade durchlebte. Ein plötzliches Geräusch von oben – vielleicht einer jener langschwänzigen Sturmvögel, deren Klicken an Delfine erinnerte – riss ihn aus seinem Dämmerzustand.

Er öffnete erst ein Auge, dann auch das andere, und verabschiedete sich grinsend von einer flüchtigen Erinnerung an sexuelle Verzückung, die noch in seinem Unterbewusstsein nachklang.

Erotische Bilder, üppige Nymphen mit rosa und cremeweißer Haut zerstoben rasch, als er den Kopf anhob und erwartungsvoll mit seinen blauen Augen, die er zusammenkniff, in die Wirklichkeit schaute. Knapp innerhalb des Riffsaums schaukelte ein weißes Segel und drehte leewärts. Während er die formschöne kleine Bermuda-Slup beobachtete, wandte sich das Tuch wieder dem Wind zu, wobei er übers Wasser deutlich hörte, wie es rauschte und flatterte – Musik in seinen Ohren.

Keine Frage, dachte er in Bezug auf diesen Abschnitt seines Lebens und seine gegenwärtige Situation, während er geistesabwesend über die sanften Wellen schaute. Mein blauer Himmel.

Auf diesem sonnenverwöhnten Eiland mitten im Atlantik war es vollkommen friedlich. Endlich erlebte er die ›blauen Tage‹, nach denen er sich verzehrt hatte. Zum Glück vergaß er allmählich die ›rote Phase‹, aus der er kürzlich zurückgekehrt war; ziemlich haarige Auseinandersetzungen mit einem Verrückten namens Papa Top und dschihadistischen Hisbollah-Milizen am Amazonas. Jeder weitere blaue Tag ließ jene fürchterlichen Eindrücke mehr verblassen, wofür er zutiefst dankbar war.

Er rollte sich mit Leichtigkeit auf den Rücken. Der Sand, dessen Körner an Zucker oder hellrotes Puder denken ließen, wärmte seine nackte Haut. Nachdem er kurz zuvor geschwommen war, musste er eingenickt sein. Hmm. Nun verschränkte er die Hände hinterm Kopf und atmete tief ein. Die salzige Luft weitete seine Lungenflügel.

Die Sonne stand hoch am azurblauen Himmel über Bermuda.

Hawke hob seinen linken Arm und schaute träge auf seine Taucheruhr. Es war kurz nach 14 Uhr. Während er überlegte, was für den Rest des Tages anstand, musste er wieder lächeln. Abgesehen von einem entspannten Dinner mit seinem engsten Freund Ambrose Congreve und dessen Verlobter Diana Mars um acht hatte er den Abend frei. Er leckte das getrocknete Salz von seinen Lippen, schloss die Augen erneut und sonnte seinen nackten Leib weiter.

Sein Rückzugspunkt war eine kleine Bucht, in der das Wasser türkis schimmerte. Die leichte Brandung rollte über den gesprenkelt pinkfarbenen Ufersand heran und zurück, wie um sich zu sammeln, bevor sie einen weiteren Anlauf versuchte. Diesen winzigen Meerbusen, dessen Einfahrt allenthalben 100 Yards breit war, konnte man von der Küstenstraße aus nicht sehen. Die Einheimischen hatten die South Road – so hieß sie – Jahrhunderte zuvor durch die schroffe Korallen- und Kalksteinlandschaft gezogen. Sie erstreckte sich am Gestade entlang weit bis nach Somerset und zum Royal Naval Dockyard.

Hawkes überschaubarer Halbmondabschnitt des Paradieses wurde von saftig grünen Mangroven- und Coccoloba-Bäumen flankiert, ununterscheidbar von den vielen ähnlichen Buchten östlich und westlich an der Südküste Bermudas. Erreichen konnte man sie nur vom Meer aus. Nachdem er sich monatelang hier eingefunden hatte, ohne je gestört zu werden, war er allmählich zu glauben geneigt, das Fleckchen gehöre ihm allein. Er gab ihm sogar einen Spitznamen: Schlappstrand, weil er nach drei Meilen Schwimmen, um hierher zu gelangen, ziemlich ausgelaugt war.

Hawke hatte sich bewusst nach Bermuda zurückgezogen. Er erachtete die Insel als idealen Ort, um seine Wunden zu lecken und seine angeknackste Psyche wieder zu stärken. Das Überseegebiet mitten im Atlantischen Ozean, das ungefähr gleich weit von seinen beiden Hauptstädten London und Washington entfernt war, besaß eine geringe Bevölkerungsdichte sowie ein mildes Klima, in dem die Menschen unbekümmert lebten, und nur wenige seiner Bekannten – seien es Freunde oder Feinde – würden darauf kommen, dass er sich dort aufhielt.

Im Zuge jener unschönen Gefechte in den Urwäldern des Amazonas im Vorjahr hatte er auch unter verschiedenen Arten von Dschungelfieber gelitten, die ihm beinahe zum Verhängnis geworden wären, doch nach sechsmonatiger Beschaulichkeit an tropischer See und Luft stand fest: Er hatte sich noch nie in seinem Leben so gut gefühlt. Nicht einmal der maßvolle tägliche Konsum von Gosling's Rum – schwarzes Elixier, wie ihn die Ansässigen nannten – hatte verhindert, dass Hawkes Körper irgendwie zu seinem alten Kampfgewicht von 180 Pfund gefunden hatte. Jetzt tat er sich durch tiefe Sonnenbräune und einen flachen Bauch hervor – ja, ihm ging es einfach blendend. Er mochte Anfang 30 sein, fühlte sich aber mindestens zehn Jahre jünger.

Hawke hatte in einem kleinen, leicht baufälligen Ferienhaus am Strand Unterschlupf gefunden. Das alte Gebäude war früher zur Herstellung von Zucker verwendet worden und stand auf einem Hügel mehrere Meilen westlich der Stelle, wo er gerade lag. Er pflegte nunmehr die ausgesprochen gesunde Angewohnheit, täglich zu dieser abgeschiedenen Bucht zu schwimmen. Zweimal drei Meilen waren nicht übertrieben und auch kein übler Zusatz in seinem Sportplan, der mehrere Hundert Rumpfbeugen und Liegestütze umfasste, nicht zu vergessen das gründliche Training mit Gewichten.

Da er sich seiner Privatsphäre sicher sein durfte, zog er seinen Schwimmanzug im Allgemeinen aus, wenn er ankam. Ihn abzustreifen und an einen Mangrovenbaum in der Nähe zu hängen war zu einem Ritual geworden, dann ein paar Stunden Sonnenbaden au naturel, wie es die Franzosen ausdrücken würden. Im Großen und Ganzen blieb Hawke anspruchslos, aber der Luxus, kühle Luft und warmes Licht an Körperteilen zu spüren, die er in der Regel bedeckt hielt, war zu ergötzlich, um darauf zu verzichten. Er hatte sich so an diese neue Sitte gewöhnt, dass ihm selbst der leiseste Gedanke daran, Sporthosen zu tragen, abwegig vorkam, ja lächerlich sogar. Und – was?

Er starrte fassungslos.

Was zum Teufel war das?

 

Kapitel 2 


Ihm war etwas Blaues im Sand aufgefallen, rechteckig und klein, ein gutes Stück rechts von seiner Position entfernt. Er stützte sich auf seine Ellbogen und beäugte den Gegenstand. Handelte es sich um von den Wellen angespültes Treibgut? Nein, eindeutig nicht. Anscheinend war während Hawkes friedlichen Schlummers an seinem allerheiligsten Hort irgendein unerwünschter Eindringling aufgekreuzt und hatte ein Handtuch an seinem Strand zurückgelassen.

Der lautlose Marodeur schien es gewissenhaft platziert zu haben, rechtwinklig zur Brandung und mit vier rosafarbenen Muschelschalen an den Ecken beschwert, damit es nicht fortgeschwemmt oder weggeweht wurde. Ferner zierte ein fantasievoll geschwungenes K, aufwendig gestickt mit glänzend goldenem Garn, den blauen Frotteestoff. Über dem Buchstaben befand sich ein Symbol, das Hawke bekannt vorkam, ein zweiköpfiger Adler. So etwas benutzte nur ein reicher Typ als Badetuch.

Sachen gibt's. Vom Besitzer fehlte jede Spur. Wohin war er verschwunden, dieser freche Mr. K.? Schwimmen gegangen, vermutete Hawke. Warum hatte er seinen Anker ausgerechnet in dieser Bucht ausgeworfen? Eigentlich hätte sich der Störenfried, dieser K. soundso, beim Anblick eines anderen Mannes – im Adamskostüm obendrein, um Himmels willen – im trauten Schlaf hier am Strand veranlasst sehen müssen, anderswo nach Ruhe zu suchen, oder?

Offensichtlich nicht.

In dem Moment tauchte eine Frau im Meer auf … und nicht bloß irgendeine, sondern eine erhabene Schönheit, wie Hawke sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Das Wasser perlte an ihr hinunter, während sie sich näherte. Sie war groß, hatte lange, gerade Beine und eine helle Bräune, die an Milchkaffee erinnerte. Von Nacktheit konnte nicht ganz die Rede sein. Sie trug einen schmalen Stoffwickel um die Hüften, doch ihre drallen Brüste, deren Warzen vollkommen rosa waren, blieben gänzlich unbedeckt.

Eine hellblaue Taucherbrille, die sie nach oben geschoben hatte, haftete an ihrer hohen Stirn, und goldblonde Locken fielen auf ihre bronzefarbenen Schultern. Eine derart animalische Schönheit war Hawke noch nie untergekommen; ihre Gegenwart, während sie auf ihn zuging, wirkte geradezu schwindelerregend.

Sie blieb stehen und sah für einen Augenblick unverhohlen taxierend auf ihn hinab. Dabei schürzte sie ihre Lippen zu einem Lächeln, das er nicht so recht deuten konnte – Hohn in Anbetracht seiner peinlichen Lage?

Hawke schaute zögerlich zu dem Mangrovenbaum hinüber, der ungefähr zehn Yards entfernt waren. Seine ausgebleicht rote Badehose hing an einem kahlen Ast inmitten runder Blätter, die dicht an dicht wuchsen. Die Fremde folgte seinem Blick, ohne mit dem Lächeln aufzuhören.

»Ich würde mich nicht um das Schwimmzeug kümmern«, sagte sie, wobei ihre grünen Augen in der Sonne funkelten.

»Und wieso nicht?«

»Weil es sowieso zu spät ist.

Hawke sah sie mehrere Sekunden an, nicht ohne ein Schmunzeln zu unterdrücken, bevor er fortfuhr: »Was zum Kuckuck tun Sie an meinem Strand, wenn ich so vermessen sein darf, zu fragen?«

»Das ist Ihr Strand?«

»Sozusagen.«

»Was ich hier tue? Wonach sieht's denn aus?«

Sie hatte ein Tasche aus durchsichtigem Plastik mit Kordel dabei, die unter anderem kleine, pinkfarbene Muschelschalen enthielt. Hawke bemerkte außerdem ein Seil, das sie um ihre Taille trug und an dem mehrere kleine Fische festgemacht waren. Er hatte sich viel zu lange an ihrem außergewöhnlichen Körper geweidet, um auf die Harpune in ihrer rechten Hand zu achten.

»Also«, hob er wieder an. »Entlang der Küste gibt es sehr viele andere Buchten genau wie diese. Sie hätten sich doch wohl eine aussuch–«

»Solche Muscheln findet man nur hier«, warf sie ein, während sie die Tasche hochhielt, sodass der Kunststoff Hawke in der Sonne blendete. »Sie heißen auch Pink Chinese.«

»Was Sie nicht sagen«, erwiderte Hawke. »Gibt es die auch in Rot?«

»Rote Chinesen?« Sie musste lachen, obwohl sie sich bemühte, es zurückzuhalten.

Erst jetzt fiel ihm der slawische Akzent in ihrem ansonsten perfekten Englisch auf. War sie Russin? Sicher, antwortete er sich selbst, da ihm plötzlich wieder der Doppeladler über dem Monogramm in den Sinn kam, das alte Wappen des russischen Kaiserreichs.

Sie betrachtete ihn weiter von oben herab. Er rutschte nervös unter ihrem forschen Blick herum. Ihr eindringliches Starren löste eine allzu vertraute Erregung aus, sowohl innerlich als auch äußerlich. Er erwog, sich die Hände vor die Scham zu halten, sah dann aber ein, dass er zu lange damit gewartet hatte, um dabei nicht noch lächerlicher zu wirken, als es ohnehin bereits war. Dennoch wünschte er sich, sie würde nicht so starren. Er fühlte sich wie ein präpariertes Insekt, das auf ein Brett gesteckt wurde, verdammt noch mal.

»Sie haben einen außerordentlich schönen Körper«, sagte sie, als sei es eine wissenschaftlich belegte Tatsache.

»Ach ja?«

»Er zieht auf interessante Art und Weise Licht an.«

»Was soll das denn bitteschön heißen?«, fragte Hawke stirnrunzelnd, doch sie hatte sich auf der Stelle umgedreht, schritt leichtfüßig über den Strand zu dem blauen Handtuch und ließ sich mit so anmutigen Bewegungen darauf nieder, dass man sie für eine Ballett- oder Seiltänzerin hätte halten können. Nachdem sie sich mit ihren langen Beinen wie eine Yogini im Schneidersitz aufgerichtet hatte, öffnete sie die Tasche und nahm ein Päckchen Marlboro-Zigaretten heraus. Auf einmal hielt sie ein goldenes Feuerzeug in der Hand – ein altes Dunhill, vermutete Hawke und fügte seinen spärlichen Kenntnissen über sie das Stichwort »reiches Gör« hinzu. Sie klappte das Feuerzeug auf und steckte sich eine Zigarette an. Nach dem ersten Zug blies sie den Qualm als dünne Fahne aus.

»Schmeckt wunderbar. Wollen Sie eine?«, bot sie an, während sie Hawke aus dem Augenwinkel anschaute.

Er brauchte dringend eine Zigarette. »Ihnen ist wohl das Rauchverbotsschild entgangen, das ich dort draußen in der Uferströmung aufgestellt habe?«

Darauf erhielt er keine Antwort. Sie pickte eine der pinkfarbenen Muscheln aus der Tasche, ließ sie neben sich in den Sand fallen und begann, etwas auf einem kleinen Spiralblock zu zeichnen. Währenddessen pfiff sie leise und schien Hawke völlig vergessen zu haben.

Er war der Ansicht, dass das unzureichende Dreieck aus weißem Stoff an ihrem Unterleib ihr einen ungerechten Vorteil verschaffte. Um dem Mädchen ins Gesicht schauen zu können, wälzte er sich auf den Bauch und stützte sein Kinn auf einen Unterarm. Um ehrlich zu sein hätte er gern mitgeraucht – irgendetwas getan, um seiner Verstörung Herr zu werden. Er stellte fest, dass er sich nicht an ihr sattsehen konnte. Sie neigte sich nun nach vorne und rauchte mit den Ellbogen auf den Knien weiter, sodass ihre Brüste mit den korallenroten Warzen hervorragten, sich abwechselnd hoben und senkten beziehungsweise leicht wackelten, wenn sie Rauch ein- oder ausatmete.

Während er beobachtete, wie sie sich bewegte, wenn sie die Muschel verschob oder auf den Boden aschte, war ihm, als ob sein Herz vorübergehend zu schlagen aufhören und dann umso vehementer hämmern würde. Sein Puls schien sich zusehends zu beschleunigen, und je länger dies andauerte, desto unruhiger wurde er.

Beim Rauchen achtete sie nicht mehr auf ihn, sondern blickte hin und wieder nachdenklich aufs Meer hinaus, bevor sie ihren Stift wieder vom Boden aufhob und mit dem Zeichnen fortfuhr. Hawke schaute gebannt zu und bemerkte gar nicht, dass sie wieder sprach.

»Ich komme jeden Tag hierher«, sagte sie beiläufig. »Meistens sehr früh morgens wegen des Lichts. Heute bin ich spät dran, weil … ach, das braucht Sie nicht zu interessieren. Wie steht's mit Ihnen?«

»Ich übernehme quasi die Nachmittagsschicht.«

»Aha. Und wer sind Sie?«

»Ein Brite.«

»Das erkennt man. Tourist?«

»Ich wohne von Zeit zu Zeit hier.«

»Wo denn?«

»Ich habe ein kleines Haus. Oben auf dem Hügel an der Hungry Bay.«

»Tatsächlich? Hätte nicht gedacht, dass dort außer diesen fiesen Klammeraffen, die ständig in den wild wachsenden Bananenpalmen schnattern, noch jemand lebt.«

»Das Haus ist sehr klein und steht am höchsten Punkt – Teakettle Cottage. Kennen Sie es?«

»Die alte Zuckerfabrik, ja. Ich dachte, einer der letzten Wirbelstürme hätte die Bude weggeweht.«

»Nein, nein. Sie hat's überstanden«, entgegnete Hawke. Er konnte sich nicht erklären, weshalb er seine bescheidene Bleibe in Schutz nahm.

»Dann sind Sie berechtigt, sie zu besetzen, schätze ich. Sie dürfen von Glück reden, wenn die Polizei Sie nicht rauswirft. Obdachlose und Landstreicher schaden dem Image des Fremdenverkehrs von Bermuda.«

Hawke ließ ihr diese beleidigende Spitze durchgehen. Sie starrte ihn abermals dreist an, ihre Augen leuchteten beinahe begierig. Er konnte diesen neugierigen Smaragden nur ausweichen, indem über den Ozean schaute – am Horizont entlang – und so tat, als suche er weiß Gott was.

»Für einen Obdachlosen am Strand haben Sie eine ziemliche Menge Narben. Was machen Sie beruflich?«

»Schaukämpfe mit Alligatoren? Raubkatzen?«

Das Mädchen verzog keine Miene, sondern sagte nur: »Wenn es Ihnen so schrecklich unangenehm ist, gehen Sie Ihre Badehose holen. Ich verspreche, Ihnen nichts abzuschauen.«

»Sehr nett, danke.« Er blieb liegen.

»Wie heißen Sie?«, wollte sie wissen.

»Hawke.

»Hawke. Der Name gefällt mir. Kurz und prägnant.«

»Wie lautet Ihrer?«

»Korsakowa.«

»Wie Russlands berühmter Komponist Rimski-Korsakow.«

»Wir rühmen uns lieber damit, Sibirien erobert zu haben.«

»Ihr Vorname lautet?«

»Anstasia, aber nennen Sie mich Asia.«

»Klingt sehr kontinental.«

»Ich bin mir sicher, dass man das in Ihren Kreisen witzig findet, Mr. Hawke.«

»Wir versuchen, humorvoll zu sein.«

»So, so. Oh, das ist Hoodoo, mein Fahrer. Genau pünktlich.«

Sie zauberte ein weißes Nichts von Bikini aus ihrer Tasche und streifte diesen erst über eine bebende Brust, dann über die andere. Hawke, der es nicht fertigbrachte, nur eine Sekunde dieses bewunderungswürdigen Schauspiels zu verpassen, bemerkte seinen trockenen Mund und dass er flach hechelnd Luft schnappte. Ihre Brustwarzen wurden unter dem dünnen Stoff hart, was sie noch erotischer anmuten ließ, obwohl sie nun bedeckt waren.

Als er erneut spürte, wie sich sein bestes Stück aufrichtete, sorgte er sich mit einem Mal umso mehr darum, seine Badehose nicht zu tragen. Schnell lenkte er seine Gedanken auf eine schmähliche Partie Kricket vor langer Zeit, die Mannschaften der Colleges Eton und Malvern im Londoner Stadion Lord's, als er zwölf gewesen und nach einer spektakulären Niederlage vom Platz gegangen war. Jene schmerzhafte Erinnerung hatte unpassende Begierden bisher souverän abgetötet und ließ ihn hoffentlich auch jetzt nicht im Stich.

Asia schien nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass er arge Nöte ausstand. Als ein kleines Zodiac-Boot mit mittiger Steuerkonsole in die Bucht brauste, raffte sie schnell ihre Sachen zusammen und sprang auf. Der Fahrer war ein eleganter Schwarzer, schlank und sportlich mit schneeweißen Haaren. Hoodoo trug blütenweiße Kleider, ein kurzärmeliges Hemd und traditionelle Kniestrümpfe unter Bermudashorts. Er lächelte und winkte der hübschen Blonden, während er mit dem Bug an den Strand glitt. Am Heck hingen zwei wuchtige Außenborder. Hawke ging davon aus, dass es Viertakter waren. Sie liefen so leise, dass er nicht gehört hatte, wie das Zodiac nähergekommen war.

Hoodoo sprang aus dem Schlauchboot und blieb auf seinen Fahrgast wartend mit der Fangleine stehen. Hawke fiel auf, dass er aussah wie ein junger Harry Belafonte mit vorzeitig ergrautem Schopf.

Asia Korsakowa hielt inne, schaute noch einmal auf Hawke hinab und sagte: »Schöne Augen. Betörend, dieses Blau, wie überfrierender Regen am Polarkreis.«

Als er keine Antwort gab, fügte sie lächelnd hinzu: »Sehr erfreut, Sie kennengelernt zu haben, Mr. Hawke. Entschuldigung wegen der Störung.«

»Ja, es war auch mir ein Vergnügen, Miss Asia.« Mehr brachte er nicht heraus, nachdem er sich umgedreht hatte und nun erheben wollte, um Abschied zu nehmen.

»Nein, nein, Sie brauchen nicht aufzustehen, tun Sie das bloß nicht!«, bat sie lachend mit Blick über ihre Schulter.

Hawke strahlte, während er dabei zuschaute, wie sie Hoodoos Hand nahm, anmutig in das schwankende Boot stieg und sich auf eine hölzerne Ruderbank am Heck setzte. Als er den Namen TSAR am Bug erblickte, nahm Hawke an, dass dies das Beiboot einer großen Jacht war.

»Machen Sie's gut«, rief er, als das kleine Zodiac zum offenen Meer hin wendete, beschleunigte und die Bucht hinter sich ließ.

Er wusste nicht, ob sie ihn gehört hatte. Jedenfalls drehte sich Anastasia Korsakowa weder zu ihm um, noch wurde irgendwie deutlich, dass sie sein Lebewohl aufgeschnappt hatte. Bedauerte er nun, sie ziehen lassen zu müssen, wo ihm ihre Störung doch so zuwider gewesen war? Wie schnell ein Mann das Gesicht einer hübschen Frau verinnerlichte, sodass es sich in seinen Verstand einbrannte.

Er schaute hinter dem kleinen Boot her, bis auch seine Heckwelle hinter den Felsen verschwunden war.

Dann stand er auf, klopfte sich den Sand von der nackten Haut und nahm seinen ausgebleichten Schwimmanzug. Nachdem er hineingeschlüpft war, ging er zügig in das klare, blaue Wasser. Mit kraftvollem Armschlag schwamm er auf die erste Linie aus Korallenriffs zu, wo hinter dem Hügel über dem Meeresspiegel sein kleines Haus stand.

Unterwegs dachte er daran, dass Mark Twain das Wesen von Bermuda wohl am besten auf den Punkt gebracht hatte. Gegen Ende seines Lebens hatte der Autor einem Freund, der auch nicht mehr der Jüngste gewesen war, von der Inselgruppe geschrieben: »Fahr ruhig in den Himmel, wenn du willst, aber ich bleibe lieber hier.«

Es mochte nicht unbedingt der Himmel sein, kam Hawkes Vorstellung davon aber verteufelt nahe.

 

Kapitel 3 

Moskau

 


Der Hubschrauber des russischen Präsidenten setzte zur Landung auf dem Dach des brandneuen GRU-Komplexes an. ›Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije‹ oder ›Hauptverwaltung für Aufklärung‹ erheiterte Präsident Wladimir Rostow wiederholt, und nicht in geringem Maße. Dass jede Regierung die Namen und Kürzel diverser Institutionen mit schöner Regelmäßigkeit änderte, war ein Überbleibsel aus der Ära der Tschekisten: Geheimniskrämerei bis zum Gehtnichtmehr.

Jeder in Moskau mit zwei Augen im Kopf wusste genau, was es mit diesem Gebäude auf sich hatte. Es war das Hauptquartier des KGB.

Wladimir Wladimirowitsch Rostow, ein schlanker und unprätentiöser Mann, der einen Kopf größer war als der durchschnittliche Russe, wirkte oft verdrießlich und hatte eine lange, spitze Nase, die auch gut zu einem Narren bei Shakespeare gepasst hätte. Er hielt sich eigenartig gebeugt, als heuchle er Demut, und wurde auf den Fluren des Kremls häufig wegen dieser Gangart parodiert, sobald er jemandem den Rücken zukehrte.

Sein Spitzname ›Graue Eminenz‹ sagte alles.

In diesem Moment nun, da er versonnen durch ein von Graupeln schraffiertes Fenster des Helikopters auf die Straßen Moskaus schaute, die in der feuchtkalten Luft matt glänzten, wirkte er welk und müde. Nicht mehr lange und er beging seine achte Dekade auf Erden. Jedes Jahr spürte er in seinen Knochen, wenngleich es politischem Selbstmord gleichkäme, dies zuzugeben. Er kehrte gerade von der Barentssee zurück, wo er Marineeinheiten bei Manövern zugesehen hatte.

Während des nicht enden wollenden und turbulenten Fluges nach Moskau an Bord eines strategischen Bombers vom Typ Tupolew Tu-160 war ihm kalt und unbehaglich zumute gewesen. Dennoch freute er sich. Er hatte es geschafft, zwei anregende Tage auf See zu genießen. Russlands wiedergeborene Nordflotte war im Rahmen der lange erwarteten Kriegshandlungen überraschend erfolgreich gewesen. Genaugenommen befand sie sich, wie er der GRU bald berichten würde, nach zehnjähriger Auszeit fast auf der Höhe ihrer früheren Stärke.

Auf der Brücke des Atomkreuzers Peter der Große hatte der Präsident nachts im Eisregen gestanden und beobachtet, wie seine neusten Suchoi-Jets von einem Flugzeugträger gestartet waren. Der nächste Morgen schließlich hatte den eigentlichen Grund seiner Visite markiert: der Abschuss einer neuen ballistischen Interkontinentalrakete von der Jekaterinburg, Russlands neuestem Atom-U-Boot.

Diese Waffe, eine seegestützte Version der Topol-M namens Bulawa, war die nun mächtigste Angriffswaffe des Landes und allem, was Amerikas Arsenal hergab, um mindestens drei Jahre voraus. Sie trug zehn unabhängig voneinander lenkbare Nuklearsprengköpfe und besaß eine Reichweite von achttausend Kilometern.

Der Test der Bulawa war zur großen Erleichterung in allen Belangen erfolgreich verlaufen. Man ging davon aus, dass die Russen nunmehr über eine Technologie verfügten, die uneingeschränkt zur Überwindung der US-Raketenabwehrsysteme tauge.

Beim Essen an jenem Abend in der Kabine des Flottenadmirals auf dem Flaggschiff hatten die Offiziere hinter dem Bulawa-Programm erklärt, schon die Anfangsgeschwindigkeit der neuen Waffe lasse im Grunde alle Raketenabwehrvorrichtungen der USA alt aussehen. Damit machte die Armee einen gewaltigen Schritt vorwärts, und ebendiese Nachricht wollte Präsident Rostow Moskau mit Wonne unterbreiten.

Alles war hervorragend gelaufen, wie er nun fand, als er sich gegen das bequeme Polster der hinteren Sitzbank des Helikopters zurücklehnte. Sein Bericht bei dem streng vertraulichen Treffen mit Graf Iwan Korsakow und Mitgliedern der »Zwölf« an diesem Morgen würde positiv ausfallen. Rostow wusste, das war eine gute Sache. Korsakow galt als mächtigster Mann im Kreml und zeigte sich Hiobsbotschaften gegenüber wenig duldsam. In ihrer Beziehung zueinander hatte der Präsident früh erkannt, dass der Graf Ordnung als oberste Priorität erachtete.

Eines Tages, den er nie vergessen sollte, hatte der Mann ihn in einem dämmrigen Flur des Kremls beiseitegezogen und ihm zugeflüstert, Putin werde bald weit, weit weg sein, woraufhin er, Wladimir Rostow, zum zweitmächtigsten Mann in ganz Russland avancieren dürfe.

»Zum zweitmächtigsten?«, hatte die Graue Eminenz mit charakteristisch schüchternem Grinsen nachgehakt.

»Jawohl. Sie werden Präsident, doch wir alle wissen, wer Russland in Wirklichkeit regiert, nicht wahr, Wolodja?« Graf Korsakow hatte gelacht und ihm väterlich eine Hand auf die Schulter gelegt.

»Selbstverständlich, Exzellenz.«

Korsakow – der Dunkle Ritter, wie man ihn nannte – lenkte den Staat insgeheim mit eiserner Faust, aber da er weder einen offiziellen Titel besaß noch ein Amt im Kreml bekleidete, wussten nur eine Handvoll Personen in den höchsten Positionen, dass eigentlich er der Zauberer war, der die Fäden hinter den Kulissen zog.

Als der Militärhubschrauber des Präsidenten, ein Mil Mi-8, auf dem regennassen Dach landete, näherte sich bereits sein Verteidigungsminister Sergei Iwanow, um ihn zu begrüßen. Der schwache Septemberregen ging in Schnee über, und der Mantel des Mannes flatterte im Abwind der Rotoren an seinem dünnen Leib. Dessen ungeachtet strahlte er ausgelassen. Was ihm von Herzen beglückte, war der Stolz auf sein neues Hauptquartier, nicht der Anblick der Maschine des Präsidenten.

Sergeis Arbeitsplatz, dessen Bau etwa 9,5 Millionen Rubel gekostet hatte, war fortan die Heimat des GRU, des Hauptgeheimdienstes im Land, und in nur dreieinhalb Jahren aus dem Boden gestampft worden, ein Wunder für Moskauer Verhältnisse. Der Minister durfte also mit Recht Begeisterung zeigen.

Nachdem sie sich schnell die Hände gegeben hatten, eilten sie im Regen zur verglasten Eingangshalle.

»Verzeihen Sie die Verspätung«, sagte der Präsident zu seinem alten KGB-Genossen.

»Überhaupt nicht tragisch, Wladimir Rostow«, erwiderte Sergei. »Wir haben noch genug Zeit, um Sie vor unserem Treffen mit Korsakow einmal durch den Komplex zu führen. Ich verspreche, Sie nicht zu langweilen.«

Die neue GRU-Zentrale stand mit Blick aufs Chodynkafeld, den ehemaligen Flugplatz an der Choroschewskij-Autobahn, auf dem Gelände eines alten KGB-Komplexes, den man lange spöttisch als »das Aquarium« bezeichnet hatte. Es war ein Schandfleck gewesen, ein heruntergekommenes Relikt des früheren Russlands. Dieses neue Bollwerk aus Glas und Stahl enthielt auf annähernd 670.000 Quadratfuß Fläche die in allen Bereichen modernste Einrichtung. Dafür hatte sich Verteidigungsminister Sergei Iwanow stark gemacht. Immerhin ging es hier um das Neue Russland!

Das Innere barg eine Fülle kostspieliger Geheimnisse und Kommunikationsmöglichkeiten auf dem neusten Stand der Techniken. Dennoch war ein Großteil der zur Verfügung gestellten Gelder in den Bau der Mauer geflossen, die den Komplex umgab. Auf ihrem Weg hinunter zum Kontrollraum bekräftigte Sergei dem Präsidenten gegenüber, dieser Wall könnte dem Angriff jedes Panzers auf der Welt standhalten.

»Diesbezüglich muss ich unsere Panzerkommandanten fragen«, erwiderte Rostow. Seine langjährige Erfahrung hatte ihn skeptisch gemacht, was Behauptungen des heimischen Militärs anging.

Während ihres kurzen Rundgangs kam er allerdings nicht umhin, über das neue Lagezentrum zu staunen. Doch das ließ er sich wie gewohnt nicht anmerken.

Beiläufig erkundigte er sich beim nächstbesten Offizier, einem Oberst, über die genauen Funktionen der Räumlichkeiten.

»Na, es gibt nichts, was hier nicht abgewickelt werden kann, Präsident Wladimir Rostow«, antwortete der Mann mit stolzgeschwellter Brust.

»Sagen Sie, haben Sie die Anhörung des US-Senats zum Thema Waffenbesitz auf C-SPAN gestern Nacht verfolgt?«, fragte das Staatsoberhaupt mit einem Grinsen, das dem seines Untergebenen in nichts nachstand.

»Na ja, nur so nebenbei«, druckste der Mann. »In manchen Fällen ist das Lagezentrum …«

Ein General trat vor, damit sich der Oberst nicht weiter in Verlegenheit brachte. »Das ist eher die Aufgabe der SWR, Wladimir Rostow.« Den russischen Auslandsnachrichtendienst Sluschba Wneschnei Raswedki kannte der Präsident freilich auch bestens. Als KGB-Chef war er persönlich für die Generalüberholung der Behörde verantwortlich gewesen.

»Tatsächlich?« Er schaute den General leicht erheitert an. »Die Aufgabe der SWR, sagen Sie? Ist das nicht entzückend? Man lernt jeden Tag dazu.«

Der General schaute verlegen weg, solange Rostows unergründliches Lächeln anhielt. Dann nickte er kurz allen im Raum zu und verließ diesen. Korsakow wartete oben.

»Der Mann ist ein Trottel«, bemerkte Sergei Iwanow im Aufzug. »Entschuldigung dafür, Präsident Wladimir …«

»Sie meinen diesen lachhaften, kleinen General? Stimmt. Er ist der Sohn oder Neffe von irgendjemandem, den man kennen sollte, richtig?«

»Ja, Putins Neffe.«

»Ziehen Sie ihn aus dem Verkehr, Sergei. Energetika.«

Damit bezog er sich auf ein Hochsicherheitsgefängnis auf einer verlassenen Insel in der Nähe des Marinestützpunkts Kronstadt bei Sankt Petersburg. Dieses hatte man vorsätzlich auf eine weitläufige Halde für radioaktiven Müll gebaut. Wer hinter diesen Mauern eingesperrt wurde, war zum Tode verurteilt, ob er es wusste oder nicht.

Sogar Rostows Vorgänger, der Ministerpräsident mit dem kalten Blick, der sein Amt zu lange ausgereizt hatte, gehörte nun zu den Gefangenen. Der Präsident fragte sich kurz, ob Putin mittlerweile überhaupt noch Haare auf dem Kopf hatte.

Als der Aufzug stoppte, traten sie hinaus.

»Wir sind weit gekommen, Sergei Iwanowitsch. Vor acht Jahren hatten wir Wichtigeres zu tun – selbst im militärischen Bereich –, als schicke Verwaltungsbunker zu bauen, doch die russische Armee, ja der gesamte Staat ist in hohem Maße auf die GRU als Seh- und Hörorgan angewiesen. Das Personal verdient derart moderne Arbeitsbedingungen.«

Das stimmte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 war es mit den Informationsbeschaffungsdiensten im Land für mehrere Jahre auf beängstigende Weise bergab gegangen. Das zutiefst gefürchtete KGB, Rostows Brötchengeber bis zu seinem jetzigen Leben, hatte als Institution eine Talfahrt durchlebt. Eine Vielzahl sowjetischer Spione waren zu westlichen Behörden übergelaufen und hatten ihre Geheimnisse verkauft. »Besser tot als rot«, dies war ein geflügeltes Wort unter Briten und Amerikanern gewesen. Doch jene Ära gehörte nun definitiv der Vergangenheit an.

Der Dunkle Ritter, Graf Iwan Korsakow, hatte sich erhoben, um Mütterchen Russland zu retten.

Mit Rostow an seiner Seite würde er der Nation wieder zu ihrem rechtmäßigen Stand in der Welt verhelfen.

Ganz oben.

 

Kapitel 4

 

»Guten Morgen, meine Herren«, sagte Graf Iwan Iwanowitsch Korsakow hinter seinem dunkelroten Vorhang.

Seiner Grabesstimme wohnte durch ein Mikrofon verstärkt etwas Körperloses inne, das jedermann in Hörweite noch unruhiger machte. Er konnte sie sehen, sie ihn jedoch nicht. Wenige Personen, nur seine engsten Vertrauten im Kreml, genossen das Sonderrecht, Korsakows Antlitz sehen zu dürfen. Er bewegte sich und waltete im Schatten.

Korsakow wurde von den Medien weder interviewt noch fotografiert und war über alle Maßen reich. Der mächtigste Mann Russlands lebte sehr zurückgezogen.

Allerdings spürte jeder im Neuen Russland und bis zu einem gewissen Grad auch fast der ganze Rest der Welt die Tragweite seines sagenhaften Intellekts. Im schwachen Licht der Geheimzimmer im Herzen des Kreml regierte Graf Korsakow wie ein Zar. Hinter jenen dicken Mauern aus roten Ziegelsteinen, die im 15. Jahrhundert erbaut worden waren, munkelte man sogar, er trage den Titel bald offiziell.

Wladimir Rostow und seine Silowiki, die zwölf größten Machthaber im Land, hatten sich in Korsakows privatem Besprechungsraum eingefunden. Diese prächtige Galerie mit schweren, vergoldeten Kronleuchtern hatte der Graf kraft der Anordnung des Präsidenten erhalten. Er durfte persönlich darauf zurückgreifen, wann immer im neuen GRU-Hauptquartier Fragen bezüglich der Staatssicherheit zur Diskussion standen.

An den getäfelten Wänden gerahmt, ebenfalls in Gold, hingen Bilder, die auf Korsakows Steckenpferd hindeuteten: Luftschiffe. Angefangen bei einem Kupferstich des ersten Heißluftballons, der je abgehoben hatte – 1783 über Paris –, bis zu Ölgemälden der großen Zeppeline der Nazis fehlte keines. Sein Lieblingsmotiv, gemalt auf einer übergroßen Leinwand, zeigte den deutschen ZR-1 bei seinem legendären Nachtangriff über London, wobei sein Rumpf silbern im Schein der rot glühenden Feuer auf den Straßen unterhalb glänzte.

Den Großteil des Raums nahm ein Tisch ein, den Rostow anhand eines eigenen Entwurfs hatte fertigen lassen. Das eigentlich Ungewöhnliche daran stellte seine Form dar. Er war so groß, dass ohne Weiteres bis zu 25 Personen an allen drei Seiten Platz fanden. Der Tisch glich einem überdimensionierten, gleichseitigen Dreieck aus mit Schellackpolitur behandeltem Kirschholz. An einer Spitze stand natürlich der hohe Ledersessel des Grafen.

Hinter dem Sessel hing jener Vorhang aus rotem Samt, der während Stalins Schreckensherrschaft bekannt geworden war. Bei bestimmten Versammlungen im Kreml hatte der Diktator hinter diesem Stoff gesessen und die Gespräche aufmerksam mitverfolgt, deren Worte denjenigen, die sie äußerten, hinterher oftmals Kummer bereiteten. Auf der anderen Seite gegenüber von Stalins Vorhang hing ein herrlich herausgearbeiteter und wiederum vergoldeter Doppeladler zum Gedenken an das einstige Kaiserreich.

Jetzt saß Graf Korsakow hinter dem alten, abgegriffenen Stoff. Er war wie Stalin zuvor der Strippenzieher, der die wahre Macht in seinen Händen hielt.

Die zwölf Männer verteilten sich an den drei Seiten des glatt polierten Tischs. Platzkarten teilten ihnen ihre Stühle zu, und dass Besteck aus reinem Gold sowie edles Geschirr aus rotem Porzellan ausgelegt waren, welches man dauerhaft aus Schloss Peterhof »geliehen« hatte, ließ darauf schließen, man werde ein Frühstück serviert bekommen. Dessen nahm sich unverzüglich eine Gruppe Kellner an, die in prachtvoll weißen Jacketts mit goldenen Schulterklappen eingetreten waren.

Rostow erschien erst, als sich alle niedergelassen hatten, und nahm an der »Spitze« Platz. Während ihm einer der Aufwärter den Stuhl unterschob, lächelte er einigen Anwesenden wohlwollend und anderen eher kühl zu, wobei manche auch mit völliger Nichtbeachtung gestraft wurden. Die Spannung nahm erheblich zu, als einer der Männer, die er ignorierte, seinen Trinkbecher versehentlich mit einem Ellbogen umstieß und sich das enthaltene Wasser über den Tisch ergoss. Ein Kellner machte das Malheur mit einem Lappen ungeschehen, doch der Präsident tadelte den Mann mit einem verächtlichen Blick.

Neben jedem Goldbecher voller Wasser auf dem Tisch lag ein Geschenk, vermutlich eine kleine Aufmerksamkeit des Grafen. Rostow nahm seines in die Hand und betrachtete es: ein goldenes Zellenemail-Schupftabakdöschen mit dem Konterfei von Iwan dem Schrecklichen. Er verstand es als Witz. Es handelte sich sogar um ein echtes Fabergé-Werkstück, wie er erkannte, als er es umdrehte.

»Guten Morgen, Genossen«, dröhnte die vertraut geisterhafte Stimme aus verborgenen Lautsprechern. Sie hörte sich nach einer Bassbox an, die richtig eingestellt werden musste, doch der Tonfall des Grafen war unmissverständlich: Heute rollen Köpfe, dachte der Präsident und musste schmunzeln. Heute rollen Köpfe.

»Guten Morgen, Exzellenz!«, antworteten die Männer nahezu im Einklang und vielleicht einen Tick zu schrill.

Von den 13 Personen am Tisch blieb nur das russische Staatsoberhaupt völlig still. Er lächelte die anderen nachsichtig an, was ihm einen beinahe väterlich amüsierten Gesichtsausdruck verlieh. Die guten Nachrichten, die er mitbrachte, erlaubten ihm, entspannt zu bleiben und einen ruhigen Eindruck zu vermitteln. Seine Tischgesellen hingegen wirkten unruhig, blickten hektisch um sich. Dabei waren viele von ihnen mit zwei Sternen dekoriert, dem sogenannten ›Helden‹ sowohl der Sowjetunion als auch der Russischen Föderation. Hieran zeigte sich, welch enorme Macht der Dunkle Ritter besaß.

»Die Besichtigung hat Ihnen allen gefallen, nicht wahr?«, fragte Korsakow.

Einhelliges Nicken folgte. Der Präsident war einer der wenigen, der diese Geste nicht nachahmte. Er hatte sich schon früh einen Trick angeeignet, um nicht alles automatisch abzusegnen, was der Graf von sich gab: Indem er seinen rechten Ellbogen fest auf den Tisch stützte und die Hand zur Faust ballte, legte er sein Kinn darauf und verharrte so für den weiteren Verlauf jeder Versammlung. Geistloses Kopfwackeln kam für den Präsidenten von Russland nicht infrage!

»Lassen Sie uns beginnen, Genossen«, fuhr Korsakow fort. »Wir heißen Präsident Rostow nach seiner Rückkehr von der Barentssee willkommen und sind gespannt, was er von den Raketentests unserer neuen Bulawa auf dem Meer zu berichten weiß. Als ersten Punkt unserer Tagesordnung werden wir allerdings eine kleine Ungenauigkeit richtigstellen. Bei einer Besprechung im Kreml vor einem Jahr gab ich dieser Gruppe zwei sehr schlichte Dinge zur Berücksichtigung mit auf den Weg. Ich bestand darauf, dass Sie Ihre Steuern zahlen – bis auf den letzten Rubel. Ferner verlangte ich, dass Sie sich auf keinerlei politische Aktivitäten einlassen, die unserem werten Präsidenten in irgendeiner Weise schaden könnten. Erinnert sich jeder hier noch daran?«

Die Männer im Raum verfielen in unbehagliches Schweigen. Selbst das Dienstpersonal bemerkte die Befangenheit und nahm Abstand vom Tisch. Die Leibwächter des Präsidenten, zwei stämmige Ukrainer, die vor der Tür geblieben waren, betraten den Raum.

»Anscheinend nicht. Ich möchte bitte, dass sich General Iwan Alexandrowitsch Serow erhebt.«

Der Genannte, ein alter, fett gewordener Glatzkopf, raffte sich mühselig auf, nicht ohne sein Wasser erneut umzustoßen. Sein Gesicht war leichenblass, und seine rechte Hand mit der Schnupftabakdose, die er begutachtet hatte, zitterte unbeherrscht.

»Danke sehr, General. Jetzt Sie, Alexej Nemerow. Wenn auch Sie bitte aufstehen würden.«

Der Mann gehorchte, eine dürre Gestalt wie aus Wachs mit schütterem, blonden Haar und runden Gläsern in einer Stahlrahmenbrille. Ihm wurde bewusst, dass er aus gutem Grund neben dem General platziert worden war. Nun standen Sie Seite an Seite, beide sichtlich erschüttert – nur einer vor Furcht und der andere vor Wut.

»Exzellenz, da muss ein Irrtum vorliegen«, sagte Nemerow mit finsterem Blick auf den Vorhang, als könnten seine Augen diesen durchdringen und der Mann dahinter ließe sich greifen, bevor Korsakow die Gelegenheit –

Die Stimme des Grafen blieb tief und klang äußerst bedrohlich. »Ein Irrtum wurde begangen, in der Tat, Alexej! Sie scheinen beide vergessen zu haben, weshalb Sie in unserem glorreichen Neuen Russland zu solch erlauchten Positionen gekommen sind, sich über Milliarden erheben und in Villen auf Cap d'Antibes residieren dürfen. Heute sind Sie nur hier, weil ich mich auf Sie verließ … und heute werden Sie verschwinden, weil ich das nicht mehr tue.«

Rostows Leibwächter, die eingetreten und an der Wand entlang nähergekommen waren, standen direkt hinter den beiden Verrätern. Jeder der beiden machte einen Schritt vorwärts, geräuschlos und ohne dass ihre vorgesehenen Opfer es wahrnahmen. Die übrigen elf Männer wandten ihre Blicke von dem blutigen Drama ab, das folgen musste.

Serow und Nemerow stießen gegen den Tisch. Beide spürten mit einem Mal den Druck von kaltem Stahl an ihren Hinterköpfen, und beide schlossen in Erwartung des Unausweichlichen die Augen.

»Wo Chaos vorherrscht, hat sich die Ordnung zurückgezogen«, sprach Korsakow. »Möge sie wiederhergestellt werden.«

Dies war das Signal. Die beiden Bewaffneten feuerten gleichzeitig. Ihre Parabellum-Hohlspitzgeschosse drangen in die Schädel ein, woraufhin Knochensplitter und Hirnmasse als hellroter bis grauer Sprühnebel hoch über den Tisch spritzten. Gewebeklumpen klatschten in die entsetzten Gesichter der Männer, die genau gegenüber den Gerichteten saßen.

Bevor die toten Leiber zu Boden fallen konnten, wurden sie von den Leibwächtern unter den Armen festgehalten und vom Tisch weggezogen. Sie schleiften die Körper zur Tür, die nun von einem Kellner geöffnet wurde.

»Machen Sie bitte wieder zu«, verlangte Korsakow, als die Toten draußen waren und die Bediensteten ihr zerbrochenes Geschirr – ein unansehnliches Bild – sowie einen Teil der Schweinerei beseitigt hatten. Die blutgetränkten Servietten tauschte man gegen frische weiße.

»Nun lassen Sie uns fortfahren. Bitte genießen Sie Ihr Frühstück, meine Herren. Ich möchte noch das eine oder andere loswerden, bevor der Präsident von den Marinemanövern in der Barentssee berichtet. Hat noch jemand Fragen? Nein? Gut. Ich will Ihnen erklären, worum es bei dieser Versammlung eigentlich geht. Sie werden sich brennend dafür interessieren, das garantiere ich Ihnen.«

An dieser Stelle machte der Graf eine Pause, um den zu Zehn geschrumpften Zwölf Zeit zu geben, sich zu fassen. Sobald er sah, dass sie es Rostow gleichtaten, indem sie sich anschickten, aus Schnapsgläsern »Wässerchen« zu trinken, wie die Russen ihren geliebten Wodka nannten, sowie an den Eiern, Essiggurken und Würstchen auf ihren Tellern herumstocherten, redete er weiter.

»Zunächst einmal würde ich in Bezug auf unsere innerstaatlichen Probleme und speziell die Gräueltaten der Tschetschenen in letzter Zeit vorschlagen, dass wir uns angewöhnen, jedwede Schwierigkeit aus allen Blickwinkeln zu betrachten, also weder das Vordergründige noch die Kehrseite außer Acht zu lassen. Unter bestimmten Bedingungen kann vermeintlich Schlechtes gute Ergebnisse erzielen und auf den ersten Blick Gutes zu Schlechtem führen. Die vielen zivilen Opfer in Nowgorod waren bedauernswert, doch wir werden Sie zu unserem Vorteil nutzen, glauben Sie mir.

Die Welt befindet sich einmal mehr in einem chaotischen Zustand, meine Herren. Das liegt daran, dass ihr ein ausgewogenes Gleichgewicht fehlt. Seit dem verheerenden Zusammenbruch der Sowjetunion gibt es nur noch eine Großmacht, die Vereinigten Staaten von Amerika. Ein Gegenpol, der so etwas wie symmetrische Ordnung auf unserem Planeten herstellen könnte, existiert nicht mehr. Die Europäer möchten diese Funktion einnehmen und scheitern kläglich. Nun, das war vorhersehbar. Die Chinesen würden es auch gern versuchen, besitzen jedoch betrüblicherweise kein angemessenes Atomwaffenarsenal, zumindest im Augenblick. Darin sind wir uns alle einig, oder?«

Man murmelte Zustimmung. Der Schock angesichts des Gewaltausbruchs wenige Minuten zuvor saß bei allen viel zu tief, als dass sie normal reagieren konnten.

»Nur zwei Weltmächte kommen als realistische Herausforderer der USA infrage, zwei Regierungen mit der Fähigkeit, für neuerliche Balance, Ordnung und politisches Ebenmaß zu sorgen: unsere eigene und irgendwann in Zukunft China. Mir persönlich wäre es wesentlich lieber, wenn unser bescheidenes Mutterland das Heft in diesem Kampf übernehmen würde.«

Mit Gelächter und Beifall fanden die Zehn wieder Gelassenheit in ihrer Körpersprache. Obwohl es noch nach den abgefeuerten Schüssen roch und der kupfrige Hauch von frischem Blut in der Luft lag, verdrängten die Männer die beiden toten Genossen bereits aus ihrem kollektiven Gedächtnis.

»Gut, gut. Gestatten Sie mir, eine Lösung für diese Krise in Aussicht zu stellen, ja? Heute Morgen teile ich Ihnen mit, dass unser nächstes Ziel darin besteht, Amerika fortan daran zu hindern, in postsowjetischen Gebieten einzufallen. Zu diesem Zweck lege ich nahe, die Republiken unserer ehemaligen Union zurückzufordern – nicht alle auf einmal, denn dies wäre zu provokativ, sondern eine nach der anderen. Vielleicht sollten wir mit Estland anfangen, einem kleinen Stachel, der dennoch tief in unserem Fleisch steckt. Ein Großteil der nötigen Vorarbeit wurde bereits dort geleistet. Bei einem späteren Treffen werde ich Sie über den konkreten Zeitpunkt und unsere Strategie informieren. Sobald der Westen dies verdaut hat und denkt, wir wären fertig, holen wir alles zurück! Entweder mit Gewalt oder durch List, aber daran führt kein Weg vorbei.