image1
Logo

Psychoanalyse im 21. Jahrhundert

Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen

Herausgegeben von Cord Benecke, Lilli Gast, Marianne

Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

Berater der Herausgeber

Ulrich Moser

Henri Parens

Christa Rohde-Dachser

Anne-Marie Sandler

Daniel Widlöcher

Helmwart Hierdeis

Psychoanalytische Pädagogik

Psychoanalyse in der Pädagogik

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden.

Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezählt

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-024178-7

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024179-4

epub:    ISBN 978-3-17-024180-0

mobi:    ISBN 978-3-17-024181-7

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Geleitwort zur Reihe

 

 

 

 

Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nun mehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchaus auch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigen theoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendungen.

In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise auf Forschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen, Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persönlichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur, Gesellschaft u. a. m.? Anders als bei psychologischen Theorien und deren Überprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt der psychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regel zunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnen werden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliert werden: durch Konzeptforschung, Grundlagenforschung, experimentelle Überprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissenschaften sowie Psychotherapieforschung.

Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als eine psychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftliche Perspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihen bei den Metaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern entwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vor allem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinische Situation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalytischer Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein, ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischer Methodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus den Augen zu verlieren.

Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in der genuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden implizite Konstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschweigenden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zwei grundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unterschiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischen Zugang jedoch noch einmal verdeutlichen.

Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedene Weise erfolgen: Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Entwicklungs-psychopathologie, Neurobiologie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psychoanalytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit die psychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigen Fächern, aber auch z. B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Bereicherung bringen kann.

In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnisstand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtung bezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend und Gemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reihe auch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.

Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psychotherapeutischen Praktiker in gleichem Maße gewinnbringend sein können wie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, die sich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse verschaffen wollen.

 

Die Herausgeberinnen und Herausgeber
Cord Benecke, Lilli Gast,
Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

 

  1. Geleitwort zur Reihe
  2. 1 Einleitung: Gegensätzliche Einschätzungen
  3. 2 Zur Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik
  4. 2.1 Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Psychoanalytische Pädagogik: Zur Begriffsgeschichte
  5. 2.1.1 Pädagogik – Erziehungswissenschaft
  6. 2.1.2 Psychoanalytische Pädagogik
  7. 2.1.3 Zeitgeschichtliche Facetten
  8. 2.2 Psychoanalyse und Erziehung bei Sigmund Freud
  9. 2.2.1 Freuds Bruch mit der anthropologischen und pädagogischen Tradition
  10. 2.2.2 Psychoanalytisch »aufgeklärte« Erziehung
  11. 2.3 Psychoanalyse und Erziehung im Umfeld Sigmund Freuds
  12. 2.3.1 »Mittwoch-Gesellschaft« und Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik
  13. 2.3.2 Vertreter der Psychoanalytischen Pädagogik
  14. 2.4 Die Rezeption von Psychoanalyse und Psychoanalytischer Pädagogik vor 1945
  15. 2.4.1 Geisteswissenschaftlich orientierte Pädagogik in Beispielen
  16. 2.4.2 Reformpädagogik und Jugendbewegung
  17. 2.5 Psychoanalyse und Psychoanalytische Pädagogik nach 1945
  18. 2.5.1 Nachkriegszeit: Neubeginn durch Erinnerung
  19. 2.5.2 Politisierung der Psychoanalytischen Pädagogik
  20. 2.5.3 Universitäre und außeruniversitäre Institutionalisierung der Psychoanalytischen Pädagogik
  21. 3 Systematische Aspekte
  22. 3.1 Psychoanalytische Pädagogik als Wissenschaft
  23. 3.1.1 Theorieprobleme der Herkunftswissenschaften
  24. 3.1.2 Psychoanalytische Pädagogik als Wissenschaft: Vier Positionen
  25. 3.2 Rückblick
  26. 3.2.1 Entdogmatisierung versus Verständigung
  27. 3.2.2 Psychoanalytische Pädagogik auf der Suche nach sich selbst
  28. 3.2.3 Innerpsychische Besetzung des pädagogischen Terrains durch die Psychoanalyse?
  29. 3.2.4 Vom Risiko psychoanalytisch-pädagogischen Handelns
  30. 3.2.5 Psychoanalyse: Evidenz ihrer pädagogischen Relevanz
  31. 4 Psychoanalytische Pädagogik als Theorie und Praxis pädagogischer Beziehungen
  32. 4.1 Allgemeine Merkmale
  33. 4.2 Asymmetrische Beziehungsstruktur
  34. 4.2.1 Beispiel Familie
  35. 4.2.2 Beispiel Schule
  36. 4.2.3 Asymmetrie auf Zeit
  37. 4.3 Übertragung und Gegenübertragung
  38. 4.3.1 Übertragung
  39. 4.3.2 Gegenübertragung
  40. 4.4 Nähe und Distanz
  41. 4.5 Verstehen
  42. 4.5.1 Erkenntnisleitende Gefühle
  43. 4.5.2 Psychoanalytisches Verstehen als »szenisches Verstehen«
  44. 4.6 Bildung der Gefühle
  45. 5 Professionalisierung
  46. 5.1 Wissen und Handeln
  47. 5.2 Psychoanalytische Selbstreflexion
  48. 5.3 Wege zur psychoanalytisch-pädagogischen Professionalisierung
  49. Kommentierte Literatur
  50. Glossar
  51. Literatur
  52. Internetquellen
  53. Stichwortverzeichnis
  54. Personenverzeichnis

Für Sebastian, Johannes und Antonia

1          Einleitung: Gegensätzliche Einschätzungen

 

 

 

 

»Die Psychoanalytische Pädagogik ähnelt […] einem Kind, das von seinen potentiellen Eltern, der Psychoanalyse und der Pädagogik, wenn nicht gerade verleugnet, dann doch gleichermaßen misstrauisch beobachtet, ja manchmal sogar als illegitim betrachtet wird« (Trescher, 1992, S. 197).

»Jeder macht zuerst einmal seinen pädagogischen Job […]. Aber die Art und Weise, wie er das tut oder auch, wie er wissenschaftlich darüber reflektiert, verändert sich auf der Basis dessen, was ich […] den ›psychoanalytischen Ich-Zustand‹ nannte« (Bittner, 2015, S. 39).

Angenommen, jemand sucht zu Beginn seines Pädagogik- oder Lehramtsstudiums in der Präsenzbibliothek seiner künftigen Universität eine Übersicht über das Fach Pädagogik, greift sich das Taschenbuch Erziehungswissenschaft: Ein Grundkurs von Dieter Lenzen (2002) und stößt im ersten Kapitel, in dem es um die Begriffe »Erziehungswissenschaft« und »Pädagogik« geht, auf folgende Übersicht (image Abb. 1).

Vermutlich sagen ihm die meisten Namen und Begriffe aus seinem künftigen Fach zum gegenwärtigen Zeitpunkt wenig. Auch von den vier »Krisen« in der neueren Geschichte der Pädagogik kann er noch keine Vorstellung haben. Aber sicher ist er schon einmal, vielleicht in der Oberstufe des Gymnasiums, dem Philosophen Immanuel Kant, dem Gesellschaftstheoretiker Karl Marx und dem Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud begegnet und wundert sich nun, dass sie hier im Zusammenhang mit seinem gewählten Studienfach auftauchen. Möglicherweise bleibt er bei Freud hängen und entdeckt unter der Überschrift »Theorienpluralismus« neben sechs zusätzlichen, offenbar selbständigen pädagogischen Theorien tatsächlich eine Richtung mit Namen »Psychoanalytische Pädagogik«. Falls seine Neugier noch nicht erloschen ist, könnte er einen weiteren Erkundungsschritt machen und nach einer Auskunft suchen, was diese Bezeichnung besagt. Das Sachregister in Lenzens Buch führt ihn unter »Pädagogik, psychoanalytische« zu folgender

Aus urheberrechtlichen Gründen kann die Abbildung in der elektronischen Ausgabe nicht angezeigt werden.

Abb. 1: Lenzen (Hg.), Erziehungswissenschaft Copyright © 1994 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Textstelle (er registriert, dass es die einzige im Buch ist, die sich auf diese pädagogische Theorie bezieht):

»Einen Griff neben die Geisteswissenschaftliche Pädagogik leistete auch der Versuch einer Wiederbelebung Psychoanalytischer Pädagogik (Hvh. D. L.). Sie hat keineswegs den gleichen Rang wie die anderen Ansätze. Zwar leugnet sie nicht das Vorhandensein eines Sinns in den Handlungen der Menschen; im Gegensatz zur Geisteswissenschaftlichen Pädagogik wird dieser Sinn aber nicht als kollektiver Sinn, sondern als individueller Sinn verstanden. Die Geschichte, die hier rekonstruiert wird, ist nicht die Geschichte einer Kultur, sondern eines Individuums, seiner Leidens- und Lebensgeschichte. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf die Rolle des Unbewußten. Soweit dieses Unbewußte immer auch das Produkt einer individuellen und damit intentional gesteuerten Lebensgeschichte ist, muß der Mensch letztlich als Subjekt begriffen werden […]« (Lenzen, 2002, S. 33).

Wenn er die Textpassage in ihre Einzelaussagen zerlegt, kann er ihr folgende Feststellungen entnehmen:

•  Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik bildet einen Maßstab für die Zuordnung und Bewertung anderer theoretischer Richtungen.

•  Die Psychoanalytische Pädagogik muss schon einmal lebendig gewesen sein, war dann aus irgendwelchen Gründen »tot«, und der »Versuch einer Wiederbelebung« war ein »Griff neben die Geisteswissenschaftliche Pädagogik«.

•  Psychoanalytische Pädagogik und Geisteswissenschaftliche Pädagogik haben nichts miteinander zu tun.

•  Die Psychoanalytische Pädagogik hat nicht den »gleichen Rang« wie die Geisteswissenschaftliche Pädagogik und die »anderen Ansätze«.

•  Das wichtigste Kriterium für Gemeinsamkeit wäre ein den »menschlichen Handlungen« unterstellter »kollektiver Sinn«. Das ist offenbar bei der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik der Fall, nicht aber bei der Psychoanalytischen Pädagogik, weil sie ausschließlich einen »individuellen Sinn« erkennt.

•  Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik rekonstruiert die Sinnhaftigkeit der »Geschichte einer Kultur«.

•  Die Psychoanalytische Pädagogik rekonstruiert die Sinnhaftigkeit individueller »Leidens- und Lebensgeschichten«.

•  Die Psychoanalytische Pädagogik geht davon aus, dass das »Unbewusste« Ergebnis einer »individuellen und damit intentional gesteuerten Lebensgeschichte ist« und den Menschen dadurch zum »Subjekt« macht.

•  Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik kennt offenbar kein solches »Unbewusstes«. Zumindest spielt es in ihrer Theorie des Subjekts keine Rolle.

Der Studienanfänger fühlt sich überfordert. Er kann noch nicht beurteilen, ob die Sätze zutreffen oder nicht. Aber ihm fällt auf, dass eine Aussage unter den anderen heraussticht, weil sie eine Einschätzung enthält: Die Psychoanalytische Pädagogik habe nicht den gleichen Rang wie die Geisteswissenschaftliche Pädagogik und die anderen Richtungen. Worin der Unterschied liegt, erfährt er nicht. Dennoch läuft der Satz seiner Erwartung zuwider, dass Werturteile in der Wissenschaft nichts zu suchen haben, zumindest aber als solche zu kennzeichnen sind und einer Begründung bedürfen. Das hat er schon auf dem Gymnasium gelernt.

Es könnte aber auch sein, dass ihm beim weiteren Herumstöbern ein zweibändiges Werk mit dem Titel Klassiker der Pädagogik (Scheuerl, 1979) ins Auge fällt. Das tut schon auf den beiden Einbänden kund, um welche Personen es da gehen soll. Und siehe da: Auf dem Umschlag des zweiten Bandes entdeckt er neben Marx und Nietzsche auch Freud. Er stutzt: einmal Freud als Urheber einer randständigen pädagogischen Theorierichtung, die den anderen pädagogischen Theorien irgendwie nicht das Wasser reichen kann – und dann Freud als pädagogischer »Klassiker«, als »hervorragende(r) Begründer und Reformer pädagogischer Modelle und Traditionen«, wie der Klappentext verkündet. Wie soll das zusammengehen? Er schlägt das Buch auf und stößt im Beitrag Sigmund Freud (1856–1939) von Günther Bittner (1979, S. 46 ff.) zunächst auf einige befremdliche Begriffe wie »Verdrängung«, »Abwehr«, »Tarnung«, »Vater-/Muttermord« und »Todestrieb«. Aber dort, wo es um die Pädagogik geht, entdeckt er Aussagen zur sexuellen Entwicklung, zu den Eltern-Kind-Beziehungen und zur Autorität und damit Themen, die er auf seine eigenen Erfahrungen beziehen kann. Dass es die Psychoanalytische Pädagogik als Theorie und Praxis schon seit mehr als hundert Jahren geben soll und das nicht nur in Deutschland, erstaunt ihn als jemanden, der doch mindestens dreizehn Schuljahre hinter sich hat. Weshalb hat er noch nie davon gehört? Hatten auch seine Lehrerinnen und Lehrer keine Ahnung gehabt oder den psychoanalytischen Blick auf die Pädagogik für unnötig gehalten?

Sollte er, durch den Widerspruch animiert, der Sache weiter auf den Grund gehen wollen, so würde er feststellen, dass in den beiden gegensätzlichen Würdigungen von Psychoanalyse und Psychoanalytischer Pädagogik Einschätzungen zum Ausdruck kommen, wie sie ihre Theoriegeschichte seit mehr als hundert Jahren begleiten. Falls er inzwischen nicht völlig verwirrt ist (oder durch seine Studienordnung zu ganz anderen Themen hingelenkt wird), hat er ausreichend Möglichkeiten, zwischen der Marginalisierung der Psychoanalytischen Pädagogik und einer ihr angemessenen Würdigung zu einem eigenen Urteil zu kommen.

2          Zur Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik

 

 

 

 

Lernziele

Wenn Sie die nachfolgende komprimierte Darstellung zur Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik durchgearbeitet haben, sollten Sie in der Lage sein,

•  die Begriffe »Pädagogik« und »Psychoanalytische Pädagogik« zu umschreiben und in ihrem theorie- wie zeitgeschichtlichen Kontext zu skizzieren,

•  das Verständnis der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik vom Kind und von dessen Erziehung zu charakterisieren und die Auffassung der Psychoanalytischen Pädagogik dagegenzusetzen,

•  den Zusammenhang zwischen Freuds Anthropologie und seinen Vorstellungen von Erziehung zu beschreiben,

•  verständlich zu machen, was Freud unter einer psychoanalytisch aufgeklärten Erziehung verstanden hat,

•  Freuds Hauptargument für eine psychoanalytische Ausbildung von Berufserziehern zu benennen,

•  die wichtigsten Überlegungen zur Psychoanalytischen Pädagogik der genannten Protagonisten wiederzugeben und Unterschiede zwischen ihren Konzepten anzuführen,

•  die Einschätzung von Psychoanalyse und Psychoanalytischer Pädagogik durch einige Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik wiederzugeben und zu beurteilen,

•  Verbindungen zwischen der Deutschen Jugendbewegung, der Reformpädagogik und der Psychoanalytischen Pädagogik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts herzustellen,

•  die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die Entwicklung der Psychoanalytischen Pädagogik zu beschreiben,

•  die wichtigsten Schritte bei der Wiederkehr der Psychoanalytischen Pädagogik in der Nachkriegszeit nachzuzeichnen,

•  Beispiele für die Institutionalisierung der Psychoanalytischen Pädagogik von den 1980er Jahren bis zur Gegenwart zu nennen,

•  eine vorläufige Bewertung des Stellenwerts der Psychoanalytischen Pädagogik im Kontext der wissenschaftlichen Pädagogik abzugeben.

2.1       Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Psychoanalytische Pädagogik: Zur Begriffsgeschichte

2.1.1     Pädagogik – Erziehungswissenschaft

»Pädagogik« bezeichnet seit mehr als 200 Jahren die Theorie und Praxis der Erziehung und Bildung. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein war sie überwiegend philosophisch-geisteswissenschaftlich legitimiert und dementsprechend hermeneutisch ausgerichtet. Heute umfasst die pädagogische Theorie als Folge der Ausdifferenzierungen in den Human- und Gesellschaftswissenschaften eine ganze Reihe unterschiedlicher Aussagensysteme. Sie setzen entweder die methodologische Tradition der Geisteswissenschaften fort, indem sie Wissen über plausible Zusammenhänge im Rahmen der sog. »Erziehungswirklichkeit« zu gewinnen suchen und systematisieren, oder sie verstehen sich im Sinne eines behavioristisch-nomothetischen Wissenschaftsverständnisses. In diesem Fall versuchen sie herauszufinden, welche Regel- und Gesetzmäßigkeiten die menschliche Entwicklung im Rahmen ihrer sozialen, materialen und medialen Umwelt, des erzieherischen Verhaltens und Handelns, der Beziehungen zwischen den Generationen und des kognitiven, sozialen und emotionalen Lernens über den gesamten Lebenslauf hinweg mitbestimmen. Daneben hat sich, auch unter dem Einfluss anderer Wissenschaften vom Menschen, eine Reihe von Mischkonzepten entwickelt. Dafür bietet die aktuelle pädagogische Biographieforschung ein anschauliches Beispiel: Sie arbeitet empirisch-historiographisch an den geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen des Aufwachsens, hermeneutisch an literarischen Texten und Erzählungen über subjektive Entwicklungsverläufe und greift u. a. auf Forschungsergebnisse der Humanbiologie, Neurologie, Bindungsforschung, Soziologie, Entwicklungspsychologie und Psychoanalyse zurück. Eine solche interdisziplinäre Kooperation ist möglich, weil sich die Vertreter der unterschiedlichen Paradigmen nicht gegenseitig die Wissenschaftlichkeit absprechen.

Die Entstehung zahlreicher pädagogischer Institutionen infolge des sozialen Wandels seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (u. a. Kindergarten, Verdichtung und Ausdifferenzierung des Schulsystems, Jugendarbeit, Behindertenarbeit, Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung) erzwingt eine Professionalisierung der Pädagogen und damit die Suche nach gesichertem Wissen für die Berufsausübung.

•  So taucht bereits im 19. Jahrhundert die Forderung nach einer »exacten Erziehungswissenschaft« auf (Schreber, zit. n. Oelkers, 2005, S. 65).

•  Nach der Jahrhundertwende formuliert Otto Willmann aus einer christlichen Philosophie heraus Fundamentalbegriffe der Erziehungswissenschaft (Willmann, 1908).

•  Der Freud-Schüler Siegfried Bernfeld erhebt 1925 in seiner berühmt gewordenen Streitschrift Sisyphos die Forderung nach einer Erziehungswissenschaft, die das bisher übliche Glauben und Meinen in der Pädagogik durch gesichertes Wissen ersetzen soll (1925/1981, S. 13).

•  1929 findet in Kassel der erste Kongress über »Wesen und Wert der ›Erziehungswissenschaft‹« statt (Spieler, 1932, Sp. 534).

Der Terminus drückt in diesen Jahren aber nicht mehr aus als das unbestimmte Bedürfnis nach eindeutigen Methoden und einem eigenen Gegenstandsbereich, wie ihn auch die anderen Wissenschaften für sich reklamieren. Die Beweggründe dafür liegen teils in einem Gefühl des Ungenügens sowohl der Wissenschaft als auch der Praxis gegenüber, teils in dem Wunsch, endlich von den anderen Wissenschaften anerkannt zu werden. Der Begriff »Erziehungswissenschaft« etabliert sich aber erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ursprünglich sollte er ausschließlich den empirisch-rationalen Aussagensystemen über Erziehung und Bildung vorbehalten bleiben – das war jedenfalls das Anliegen einiger ihrer Vertreter (vgl. Brezinka, 1971; Rössner, 1975). Jedoch bürgerte sich in der Folgezeit bei zahlreichen Autoren eine synonyme Verwendung mit Pädagogik ein. Das ist auch heute noch der Fall.

2.1.2     Psychoanalytische Pädagogik

Ich habe mich im Rahmen dieser Darstellung für den Begriff »Pädagogik« entschieden, ohne schon hier auf die wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Problematik der Begriffswahl einzugehen, die in der Disziplin immer wieder einmal zu Diskussionen führt (vgl. Figdor, 2012, S. 63 ff.; 1989a, S. 136 ff.; Datler, 1992, S. 11 ff.). Zum einen ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, »Pädagogik« zur Zeit Freuds der Begriff schlechthin, wenn es um Erziehung und Bildung geht. Er wird auch von ihm gelegentlich verwendet. Zum andern prägen die Pädagogen unter den ersten Freud-Schülern, als sie die Bedeutung der Hinweise auf Erziehung in Freuds Schriften und das Gewicht ihrer persönlichen psychoanalytischen Erfahrungen und Erkenntnisse für die Erziehung erkennen, den Begriff »Psychoanalytische Pädagogik« und tragen ihn 1926 durch die Gründung der gleichnamigen Zeitschrift nach außen (ZfpP, 1926 ff.). Wenn Paul Federn und Heinrich Meng für das Periodikum dennoch mit dem Satz werben: »Die Psychoanalyse findet ihren letzten Sinn und ihren reinsten Erfolg als Erziehungswissenschaft« (Federn & Meng, 1926; Hvh. im Original), dann geht es ihnen offenbar darum, der Pädagogik den Geruch einer bloßen Praxislehre zu nehmen und sie als Wissenschaft zu propagieren. Ob die Protagonisten nun (meist) von Psychoanalytischer Pädagogik oder (selten) von Psychoanalytischer Erziehungswissenschaft sprechen: Sie verbinden mit den Begriffen noch keine genauen Vorstellungen hinsichtlich ihrer theoretischen und praktischen Reichweite und benennen damit auch keinen fest umrissenen Gegenstandsbereich. Aber eines ist ihnen klar: Es geht nicht nur um den im Sinne der Psychoanalyse angemessenen Umgang mit dem Kind, sondern auch um die Eignung der Menschen, die erziehen. Dass beide Seiten des erzieherischen Verhältnisses im Auge zu behalten sind, hatte schon Freud hervorgehoben. Ihm folgend betont Ernst Schneider, einer der Herausgeber der Zeitschrift, gleich zu Beginn der 1. Ausgabe: »Die Psychoanalyse verschafft dem Pädagogen Einsichten in eine bestimmte Gruppe von Störungen im Zögling und im Erzieher, […] die mit dem Unbewußtwerden und Unbewußtsein in Beziehung stehen« (ZfpP, 1926, Bd. 1, S. 5).

Der Begriff »Psychoanalytische Pädagogik« wird ein halbes Jahrhundert später noch einmal in Frage gestellt, als vor dem Hintergrund eines neuen wissenschaftstheoretischen Bewusstseins grundsätzliche Zweifel daran auftauchen, ob sich die beiden Wissenschaften – Psychoanalyse hier, Pädagogik dort – so integrieren lassen, dass eine neue Disziplin entsteht, die diesen Namen verdient. Dazu liegt eine reichhaltige und teilweise kontroverse Literatur vor, auf die ich noch eingehen werde.

Dass es unter dem Titel »Psychoanalytische Pädagogik« eine identifizierbare Theorie- und Praxisgeschichte gibt, wäre für sich allein noch kein ausreichender Grund gewesen, mit dem Begriff weiterzuarbeiten. So lassen sich manche Autorinnen und Autoren nicht gerne auf diese Marke festlegen und sprechen lieber von »Psychoanalyse und Pädagogik« oder »Psychoanalyse in der Pädagogik«, also eher von einem Zusammenhang, über den es sich nachzudenken lohnt, als über eine abgrenzbare Subtheorie oder eine Institution. Das ist legitim und kann für beide Seiten fruchtbar sein, wie die Untersuchungen belegen, die dem psychoanalytischen Blick auf andere Wissenschaften bzw. deren Psychoanalyse-Rezeption gewidmet sind (vgl. Cremerius, 1981; Kutter, 1997; Böker, 2010; Münch et al., 2010). Ich habe die Situation an den Universitäten im Auge und sehe, dass eine Disziplin, die unter einer überlieferten Fachbezeichnung ein Forschungsgebiet markiert und in einem Studienplan verankert ist, im Rahmen der Wissenschaftsorganisation leichter zu identifizieren, für Studierende anziehender und für außerfachliche Kritiker weniger leicht zu eliminieren ist als ein Studienangebot unter dem Titel »Psychoanalyse und …« oder »Psychoanalyse in …«. Meine Entscheidung hat also auch universitätspolitische Gründe.

2.1.3     Zeitgeschichtliche Facetten

Wissenschaft findet im geschichtlichen Raum statt, denn ihre Träger leben wie jedermann in konkreten historischen Situationen. Sie greifen Themen ihrer Zeit auf oder hoffen, dass ihre Gedanken, Theorien und Konzepte wahrgenommen werden. Sie genießen je nach politischen Umständen die Freiheit des Denkens und Forschens oder werden gegängelt, wenn nicht gar mundtot gemacht. Sie haben den Mut, gegen den Strom zu schwimmen, oder sie reden den Mächtigen nach dem Munde. Wegen dieser Abhängigkeit der Wissenschaft dürfen die politischen Begleitumstände in der Entstehungszeit der Psychoanalytischen Pädagogik nicht übersehen werden. Dazu gehören:

•  das Aufkommen einer internationalen Arbeiterbewegung, die sich in Deutschland in einen reformerischen (sozialistischen) und einen revolutionären (kommunistischen) Zweig spaltet;

•  die Autonomiebestrebungen in den durch das Habsburgerreich zusammengehaltenen kleineren Ländern und die zunehmenden Spannungen zwischen den europäischen Nationen wegen der Aufteilung der Weltmärkte, die sich im Ersten Weltkrieg entladen;

•  ein antisemitischer Nationalismus, der unterschwellig schon im 19. Jahrhundert spürbar ist, aber nach dem verlorenen Krieg im Zusammenhang mit der Schuldfrage virulent wird;

•  die Ernüchterung aller und die Verelendung vieler nach 1918;

•  der Zusammenbruch der ideologisch wie politisch dominanten Monarchien in Deutschland und Österreich;

•  die Auseinandersetzungen zwischen sozialistischen, nationalistischen, konservativen und klerikalen Gruppierungen um die Vorherrschaft in der Weimarer Demokratie bzw. in der österreichischen Ersten Republik.

Weil Erziehung und Bildung – insbesondere in ihrer institutionalisierten Form – stets als Instrumente zur Stabilisierung, Weiterentwicklung oder Erneuerung der Gesellschaft angesehen werden, steht die Pädagogik im Zentrum der Aufmerksamkeit beim Staat und bei allen gesellschaftlichen Gruppierungen, die sich von der Pädagogik eine Förderung ihrer eigenen Interessen erwarten. Die historische Situation zwischen 1900 und 1933 und erst recht die Lage nach 1933 bildeten alles in allem kein günstiges Klima für die vorbehaltlose Prüfung geschweige denn Durchsetzung einer neuen pädagogischen Idee, die sich ihrer selbst keineswegs sicher ist und noch nach einer angemessenen praktischen Umsetzung sucht. Wie sehr gerade nationalistisches und antisemitisches Denken die Einstellung gegenüber der Psychoanalyse und folglich auch der Psychoanalytischen Pädagogik beeinflusst hat, wird im Nachfolgenden sichtbar werden.

Zusammenfassung

 

1.  Der mit »Psychoanalytische Pädagogik« benannte Theorie-Praxis-Zusammenhang ist in der Psychoanalyse angelegt, weil sie psychische Fehlentwicklungen und besonders neurotische Erkrankungen als Folgen einer ungemessenen Erziehung versteht.

2.  Diese Erweiterung der psychoanalytischen Fragestellung erfolgt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, also zur gleichen Zeit, in der sich die akademische Pädagogik hinsichtlich ihres Gegenstands und ihrer Methoden um wissenschaftliche Anerkennung (Autonomie) bemüht.

3.  Öffentlich wird der Begriff »Psychoanalytische Pädagogik« spätestens 1926 mit der Gründung der gleichnamigen Zeitschrift. Sie setzt sich zum Ziel, ein neues Verständnis von der Entwicklung des Heranwachsenden, ein geändertes Selbstverständnis der erziehenden Person und ein neues Verhältnis zwischen den am Erziehungsprozess Beteiligten zu bewirken.

4.  Die Entwicklung und Institutionalisierung der Psychoanalytischen Pädagogik wird durch die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse vor und nach dem Ersten Weltkrieg erschwert (Nationalismus, Antisemitismus, Zusammenbruch der Monarchien, wirtschaftliche Not nach dem Ersten Weltkrieg).

2.2       Psychoanalyse und Erziehung bei Sigmund Freud

Lernziele

Wenn Sie den folgenden Abschnitt durchgearbeitet haben, sollten Sie in der Lage sein,

•  Freuds anthropologische und pädagogische Vorstellungen dem traditionellen Denken gegenüberzustellen,

•  Freuds Ansprüche an Erzieher zu begründen,

•  Freuds Auffassung von der Relevanz der Psychoanalyse für die Pädagogik nachzuzeichnen,

•  jemandem verständlich zu machen, was unter einer psychoanalytisch aufgeklärten Erziehung zu verstehen ist,

•  den Zusammenhang zwischen Freuds Beobachtungen an »Neurotikern« und seinen Vorstellungen von Erziehung zu erklären.

2.2.1     Freuds Bruch mit der anthropologischen und pädagogischen Tradition

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beginnt Sigmund Freud (1856–1939) mit seiner Ausarbeitung der Psychoanalyse als Theorie und Praxis der Behandlung von psychischen Erkrankungen und im Zusammenhang damit als Entwicklungs- und Kulturtheorie (Freud, 1923a, S. 211). Was die Psychoanalyse als Therapie angeht, so greift er zwar auf Erfahrungen und Anregungen des Pariser Arztes Jean Martin Charcot (1825–1893) zurück, bei dem er 1885/86 hospitiert hatte, und auf die Vorarbeiten seines etwas älteren Wiener Kollegen und Freundes Josef Breuer (1842–1922). Beide werden für ihn wichtig für das Verständnis und die Heilung von neurotischen Erkrankungen (v. a. der »Hysterie«), ersterer für die Hypnose als Methode, letzterer für die Idee der heilenden Katharsis (Freud, 1893f, S. 21 ff.; 1893a, S. 81 ff., vgl. Roudinesco & Plon, 2004, S. 138 ff.; S. 149 ff.). Aber Freud hat mit seiner Anthropologie, seinen Theorien zum Unbewussten, zur psychosexuellen Entwicklung und zur ambivalenten Rolle der Kultur in der Phylo- und Ontogenese über alle Vordenker hinaus nach seinen eigenen Worten »für einen wichtigen Fortschritt in unserer Erkenntnis den Weg eröffnet […]« (Freud, 1925d, S. 96).

Das gilt grundsätzlich auch für die Pädagogik. Nur hat sie diesen Fortschritt lange nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Die Verzögerung hat einerseits mit dem in anthropologischer Hinsicht revolutionären Charakter der Psychoanalyse zu tun, andererseits mit dem Beharrungsvermögen des Etablierten und Gewohnten im pädagogischen Denken und Tun. Solange nämlich das dem Umgang mit den Heranwachsenden zugrundeliegende Menschenbild im Großen und Ganzen mit den allgemein anerkannten Vorstellungen über das »Wesen« des Menschen und seine Rolle in Kultur und Gesellschaft übereinstimmte, konnte das Theorie-Praxis-Verhältnis in der Pädagogik unreflektiert bleiben. Jetzt aber stellt eine neue Theorie die bisherigen Vorstellungen vom Kind und eine zur Routine gewordene Erziehungspraxis in Frage (vgl. Cremerius, 1971, S. 10).

Freuds anthropologische Zumutungen für seine Zeitgenossen bestehen unter anderem

•  in der Annahme, dass der Mensch von Anfang an ein Triebwesen ist, das nach Befriedigung seiner aggressiven und sexuellen Bedürfnisse verlangt und dabei nach innen wie nach außen destruktiv wirken kann;

•  in einer Triebtheorie, die sowohl die Entwicklung der Objektbeziehungen als auch die Entwicklung der Ich-Organisation einschließt;

•  in einer an der sexuellen Entwicklung des Kindes orientierten zeitlichen Gliederung der frühen Kindheit (»orale«, »anale«, »phallische Phase«);

•  im Konzept eines in die »phallische Phase« fallenden »Ödipuskonflikts«, eines konfliktreichen Einschnitts in der kindlichen Entwicklung, der durch den Übergang von der symbiotischen Mutter-Kind-Dyade hin zu einer den Vater bzw. Vaterrepräsentanzen einschließenden Triade charakterisiert ist, in der durch die väterlichen Gebote und Verbote das Über-Ich errichtet wird;

•  in einem Modell der Psyche, in dem die unbewussten Triebe repräsentiert sind (»Es«), ebenso die verinnerlichten moralischen Forderungen mit den idealen Strebungen (»Über-Ich«) und schließlich die über die eigene Person und die »Welt« reflektierende Instanz, die sich über die Beziehung zu den anderen aufgebaut hat (»Ich«);

•  in einer Kulturtheorie, die den repressiven, Leid auslösenden und zugleich den Fortbestand der Kultur sichernden (ambivalenten) Charakter der kulturellen Normen beschreibt;

•  in dem Hinweis auf die Existenz unbewusster und daher ungelöster Konflikte, deren Ursache häufig in der frühen Kindheit liegt und die für die spätere Entstehung psychischer Fehlentwicklungen verantwortlich sind;

•  in dem Hinweis darauf, dass der Mensch unter dem Druck der Kultur insbesondere sexuelle und aggressive Impulse verdrängt, d. h. sie dem Bewusstsein zu entziehen versucht, weil sie seine Integrität bedrohen und er damit Gefahr läuft, dass sie nach einer Befreiung durch Ersatzlösungen suchen;

•  im Konzept der »Übertragung«, das besagt, dass zurückliegende Beziehungserfahrungen sich in gegenwärtigen Beziehungen (störend) bemerkbar machen;

•  im Verweis auf die insgesamt antinomische und damit nicht festgelegte Grundstruktur des Menschen (Hierdeis & Walter, 1994, S. 38 f.; Bittner, 1979, S. 51 ff.; Winkel, 1984, S. 9; Flitner, 2010, S. 124 ff.).

Ein solches Konzept anzunehmen verlangt von der Pädagogik nichts weniger, als einige anthropologische, kultur-, entwicklungs- und erziehungstheoretische Positionen aufzugeben, wie sie in den geisteswissenschaftlichen, kulturpädagogischen und normativen Erziehungsphilosophien zur Zeit Freuds für unverzichtbar gehalten werden, so zum Beispiel die Auffassung

•  von einer asexuellen, nicht-destruktiven und in dieser Hinsicht »unschuldigen« Kindheit;

•  von der Rolle des Erziehers als autoritativ-affirmativem Vermittler der Kultur;

•  von einem »Pädagogischen Bezug« (Nohl), der durch den freiwilligen Gehorsam des Kindes gegenüber dem Erzieher und durch dessen selbstlose Zuwendung zum Kind charakterisiert ist;

•  von einem aus der Menschheitsgeschichte ablesbaren Entwicklungsziel;

•  von der unbezweifelbaren Aufgabe des Erwachsenen, das Kind zum Mitträger der gegenwärtigen Kultur zu machen und ihm auf diesem Wege zur Entfaltung seiner Persönlichkeit zu verhelfen;

•  vom zielgerichteten (»teleologischen«) Charakter dieser Kultur als Ausdruck eines »objektiven Geistes« oder des Gestaltungswillens Gottes;

•  vom Vorrang des Willens im Rahmen der Seelenkräfte und von der Notwendigkeit, ihn einer besonderen Schulung zu unterwerfen, damit er über die »niederen« Kräfte herrschen kann.

Auch wenn Freud von sich selbst sagt, er habe zur »Anwendung der Analyse auf die Pädagogik persönlich nichts beigetragen« (Freud, 1925d, S. 95), so hat er doch über Jahrzehnte hinweg Hinweise auf die pädagogische Bedeutung und Umsetzung der Psychoanalyse in seine Arbeiten eingestreut, ohne allerdings das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Erziehung systematisch zu bestimmen. Dabei verfolgt er zwei Grundsätze: Erstens kann und darf die Erziehung nur die von der Natur vorgegebenen Eigenarten des Kindes modifizieren. Zweitens hat sie dafür zu sorgen, dass das Kind eine Entwicklung nimmt, die weder ihm noch der Gesellschaft schadet (Freud, 1913b, S. 449).

Das geschieht am besten, indem es lernt, seine Triebbedürfnisse einzuschränken (u. a. Freud, 1925e, S. 106) und sich auf diesem Wege dem »Realitätsprinzip« zu unterwerfen (Freud, 1916d, S. 365; 1911b, S. 236). Die »Liebe« ist die eigentliche Erzieherin (vgl. Freud, 1916d, S. 365). Sie weckt die »erotische Begabung« des Kindes (Brumlik, 2010, S. 44), die ihm hilft, seine Ich-Funktionen zu entwickeln. Zugleich unterstützt sie es dabei, wenn es darum geht, die unausweichlich von der Erziehung gleichfalls vertretenen »Ansprüche der kulturellen Umgebung« und die damit verbundenen Zwänge zu verarbeiten (Freud, 1915b, S. 333). Freud: »Erziehung und Umgebung haben nicht nur Liebesprämien anzubieten, sondern arbeiten auch […] mit Lohn und Strafe« (Freud, 1915b, S. 335; vgl. Brumlik, 2010, S. 45). Die Kunst der Erziehenden besteht demnach darin, »die Autonomie zu verstärken, ohne eine Richtung vorzugeben« (Freud, 1933a, S. 162). Die Verinnerlichung kultureller Normen und Standards, der Prozess also, in dem äußerer Zwang sich in innere Zustimmung verwandelt (Bildung des »Über-Ich«), ist demnach nicht alles. Er bildet nur den unerlässlichen Rahmen für das Wachstum und die Stärkung des Ich (vgl. Freud, 1933a, S. 86).

Freud betont stets die Ambivalenz der Kultur. Während sie dem Menschen das Leben ermöglicht, weil sie ihn sozial und lebensfähig macht, geht von ihr zugleich die Gefahr aus, die Triebunterdrückung so sehr zu übertreiben, dass sie wiederum zu einer Bedrohung für die Kultur werden kann. Das hat er in seiner späten Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930a) eindringlich beschrieben. An die Möglichkeit, dass die Menschen in der Lage sind, »allmählich solche Abänderungen der Kultur durchzusetzen, die unsere Bedürfnisse besser befriedigen« (Freud, 1930a, S. 475), hat er wohl selbst nicht recht geglaubt. Sonst hätte er diese Erwartung nicht unmittelbar danach wieder aufgehoben: »Aber vielleicht machen wir uns auch mit der Idee vertraut, dass es Schwierigkeiten gibt, die dem Wesen der Kultur anhaften und die keinem Reformversuch weichen werden« (Freud, 1930a, S. 475; vgl. Bittner, 1979, S. 66).

So zu erziehen, dass das Ergebnis der Bemühungen in einem gewissen Umfang offen bleibt, ist ein schwierigeres Geschäft als die Umsetzung fixer Vorstellungen, wie der Mensch in ideologischer und moralischer Hinsicht zu sein hat. Weil »die Liebestriebe […] schwer erziehbar (sind)« (Freud, 1912d, S. 90), wird die Erziehung Probleme haben, das rechte Maß zu finden. Freud drückt das in einem Bild so aus: »Die Erziehung hat […] ihren Weg zu suchen zwischen der Scylla des Gewährenlassens und der Charybdis des Versagens« (Freud, 1933a, S. 180).

Sein Hinweis auf das Problem hat eine lange Tradition. Auf die Schwierigkeit, das rechte Maß zu finden, hatte u. a. schon hundert Jahre vor Freud Johann Heinrich Pestalozzi hingewiesen, als er die Mütter ermahnte, »Liebe und Festigkeit« wohl zu dosieren (Lohner & Schohaus, 1924; vgl. Hierdeis, 1989, S. 316 ff.). Nur las Pestalozzi die positiven und negativen Folgen der Erziehung an der Tüchtigkeit oder Untauglichkeit im späteren Erwachsenenleben ab, nicht an der psychischen Stärke oder den psychischen Deformationen der Heranwachsenden. Zur Zeit Freuds charakterisiert der Pädagoge Theodor Litt die Dichotomie mit der Frage »Führen oder Wachsenlassen?« (1927).

Aber bei aller Offenheit hinsichtlich des Ergebnisses der Erziehung sind Freud einige »Anwendungen« der Psychoanalyse auf die Pädagogik offenbar so wichtig, dass er sie immer wieder hervorhebt. Im Jahr 1913 lässt er eine Reihe von Wissenschaften Revue passieren, die seiner Auffassung nach von der Psychoanalyse profitieren könnten. Dazu gehört neben der Psychologie, den Sprachwissenschaften, der Philosophie, der Biologie, der Entwicklungsgeschichte, der Kulturgeschichte, den Kunstwissenschaften und der Soziologie auch die Pädagogik (Freud, 1913j, S. 389 ff.). Seine Überlegung, inwieweit »die Erziehungslehre« ein »Interesse« an der Psychoanalyse haben könnte, ist seine einzige komprimierte Stellungnahme zu Erziehungsfragen. Sie umschreibt das, was Erzieher seiner Auffassung nach auf jeden Fall brauchen:

»Das gewichtige Interesse der Erziehungslehre an der Psychoanalyse stützt sich auf einen zur Evidenz gebrachten Satz. Ein Erzieher kann nur sein, wer sich in das kindliche Seelenleben einfühlen kann, und wir Erwachsenen verstehen die Kinder nicht, weil wir unsere eigene Kindheit nicht mehr verstehen. Unsere Kindheitsamnesie ist ein Beweis dafür, wie sehr wir ihr entfremdet sind. Die Psychoanalyse hat die Wünsche, Gedankenbildungen, Entwicklungsvorgänge der Kindheit aufgedeckt; alle früheren Bemühungen waren in ärgster Weise unvollständig und irreleitend, weil sie den unschätzbar wichtigen Faktor der Sexualität in ihren körperlichen und seelischen Äußerungen ganz beiseite gelassen haben. Das ungläubige Erstaunen, mit welchem die gesichertsten Ermittlungen der Psychoanalyse über die Kindheit aufgenommen wurden – über den Ödipuskomplex, die Selbstverliebtheit (Narzißmus), die perversen Anlagen, die Analerotik, die sexuelle Wißbegierde – mißt die Distanz, welche unser Seelenleben, unsere Wertungen, ja unsere Gedankenprozesse von denen auch des normalen Kindes trennt.

Wenn sich die Erzieher mit den Resultaten der Psychoanalyse vertraut gemacht haben, werden sie es leichter finden, sich mit gewissen Phasen der kindlichen Entwicklung zu versöhnen, und werden unter anderem nicht in Gefahr sein, beim Kind auftretende sozial unbrauchbare oder perverse Triebregungen zu überschätzen. Sie werden sich eher von dem Versuch einer gewaltsamen Unterdrückung dieser Regungen zurückhalten, wenn sie erfahren, daß solche Beeinflussungen oft nicht minder unerwünschte Erfolge liefern, als das von der Erziehung gefürchtete Gewährenlassen kindlicher Schlechtigkeit. Gewalttätige Unterdrückung starker Triebe von außen bringt bei Kindern niemals das Erlöschen oder die Beherrschung derselben zustande, sondern erzielt eine Verdrängung, welche die Neigung zu späterer neurotischer Erkrankung setzt. Die Psychoanalyse hat oft Gelegenheit zu erfahren, welchen Anteil die unzweckmäßige einsichtslose Strenge der Erziehung an der Erzeugung von nervöser Krankheit hat, oder mit welchen Verlusten an Leistungsfähigkeit und Genußfähigkeit die geforderte Normalität erkauft wird. Sie kann aber auch lehren, welch wertvolle Beiträge zur Charakterbildung diese asozialen und perversen Triebe des Kindes ergeben, wenn sie nicht der Verdrängung unterliegen, sondern durch den Prozeß der sogenannten Sublimierung (Hervorh. S. F.) von ihren ursprünglichen Zielen weg zu wertvolleren gelenkt werden. Unsere besten Tugenden sind als Reaktionsbildungen und Sublimierungen auf dem Boden der bösesten Anlagen erwachsen. Die Erziehung sollte sich vorsorglich hüten, diese kostbaren Kraftquellen zu verschütten und sich darauf beschränken, die Prozesse zu befördern, durch welche diese Energien auf gute Wege geleitet werden. In der Hand einer psychoanalytisch aufgeklärten Erziehung ruht, was wir von einer individuellen Prophylaxe der Neurosen erwarten können« (Freud, 1913j, S. 419 f.).

Freuds Aussage in Thesen:

1.  Erzieher verstehen Kinder nicht, weil sie sich nicht mehr an ihre eigene Kindheit erinnern können (»Kindheitsamnesie«).

2.  Die Psychoanalyse klärt über die verborgenen Seiten der kindlichen Entwicklung auf, insbesondere über die Rolle, die der Sexualität dabei zukommt.