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SERGE JONCOUR

Lehn dich an mich

Roman

Übersetzt aus dem

Französischen

von Paul Sourzac

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Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde durch den Elmar-Tophoven-Mobilitätsfonds der Robert Bosch Stiftung und des Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Der Übersetzer dankt Thomas Herth, Teilnehmer des Georges-Arthur-Goldschmidt-Programms 2017.

Erste Auflage

© 2019 by Secession Verlag für Literatur, Zürich Alle

Rechte vorbehalten

Übersetzung: Paul Sourzac

Lektorat: Christian Ruzicska

Korrektorat: Kristina Wengorz

www.secession-verlag.com

ISBN 978-3-906910-64-2

eISBN 978-3-906910-73-4

INHALT

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

I

BEVOR ER AM EINGANG KLINGELT, holt Ludovic jedes Mal tief Luft, um seinen Herzschlag zu beschleunigen, sich auf den Wutanfall einzustellen oder den eisigen Empfang. Dann steht er aufrecht, mit rausgestreckter Brust bringt er seine Statur zur Geltung und wartet, bis die Tür aufgeht. Doch jetzt, da er die alte Frau entdeckt, auf der Außentreppe dieses welken Hauses, begreift er, diesmal geht es um etwas ganz anderes: bloß kein Mitleid kriegen.

Im Wohnzimmer wählt Ludovic den großen Sessel hinter dem Beistelltisch, die alte Dame braucht ewig, bis sie sich hingesetzt hat, bestimmt übertreibt sie, denkt er, oder sie hat wirklich Schmerzen, im Rücken, in den Beinen, fast überall anscheinend. Unterdessen holt er die Papiere aus der mitgebrachten Mappe, doch schon erhebt sich die Alte wieder, schleppt sich Richtung Flur, sagt, sie hole nur ihre Brille, kann sie aber nicht finden.

Nach drei Minuten ist sie noch immer nicht zurück. Sitzen auf glühenden Kohlen. Wie so oft bei dieser Art Leerlauf fühlt Ludovic sich unwohl, schrecklich verlegen, er hasst diese Stille, will lieber, dass eins aufs andere folgt, alles schnell geht, selbst wenn der Ton dann schärfer wird, die Emotionen hochkochen. Manche Besuche eskalieren, enden in Geschrei, und ein Kerl kann, wie letzte Woche, glatt ein Messer zücken, aber heute ist genau das Gegenteil der Fall. Ludovic lässt sich nichts anmerken, doch stolz ist er nicht, zumal die alte Frau ihn an seine Mutter erinnert, sie ist ungefähr gleich alt, hat die gleichen Schwierigkeiten beim Gehen. Als sie vorhin auf der Außentreppe erschienen ist, um ihm zu öffnen, ist er unsicher geworden. In solchen Fällen besinnt er sich auf die imponierenden Breite seiner Schultern, ein Meter fünfundneunzig auf hundertzwei Kilo, solange er finster dreinblickt, weiß er, Eindruck zu schinden, dabei will er niemanden verängstigen, nur demonstrieren, dass er nicht der Typ ist, der sich rühren, erweichen lässt, was ihm meistens recht gut gelingt. Und doch, manchmal ist es hart, hart, wenn man alles begreift bei den anderen, alles gleich spürt, ja, schon beim Betreten dieses Grundstücks in Sevran, als er sich den kleinen zementierten Pfad entlangführen lässt und ihr durch den Flur des Hauses folgt, ist er völlig im Bilde über die alte Frau, die sich nur schleppend vorwärtsbewegt, er ahnt, dass sie die meiste Zeit ihres Lebens hier gelebt haben muss, er hat sämtliche Anzeichen alter Gewohnheiten ausgemacht, die schon ewig leer stehende Hundehütte, den verwilderten Garten, an der Küchenanrichte die Schuhe des Ehemanns, der nicht da zu sein scheint oder schläft oder im Krankenhaus ist, aber noch weiß Ludovic nicht, wie es aussieht, das Leben dieser zarten Dame, dieser ehrbaren Schuldnerin, und selbst wenn das Häuschen nicht hässlich ist, so haftet doch allem der Geruch von Pech an, von verblühtem Schicksal.

Am Küchendunst, der in allen Räumen hängt, hat er sofort das ständige Braten in Butter erkannt, in zu fettiger Pfanne aufgetaute Steaks, Rosenkohl, der nicht im Kühlschrank aufbewahrt wurde, ein Duft aus alten Zeiten, und das Batterieradio auf diesem Möbelstück, die aufgereihten Hausschuhe … Doch am markantesten ist der leicht ranzige Geruch des Essens vom Vortag, er findet ihn oft vor, wenn er unangemeldet zu den Leuten ins Haus kommt, zu denen, die sich schlecht ernähren, fett essen, vielleicht trinken. Wie jedes Mal ist es der Gesamteindruck, der ihn überrascht, was an dieser absoluten Taktlosigkeit liegt, unangekündigt bei Fremden aufzukreuzen. Als er ihr über das Eingangstor hinweg den Briefbogen hingehalten hat, mit dem blau-weiß-roten Logo, das ins Auge springt, hat sie ihn sofort hereingebeten, umstandslos und höflich. Diese Frau wird ganz offensichtlich nicht versuchen, sich zu drücken, was auch erbärmlich wäre. Besonders für ihn. Es ist immer traurig, mit einer Situation umgehen zu müssen, in der die anderen von vornherein die Böswilligen sind, in der Unredlichkeit und Skrupellosigkeit alles vergiften. Doch er ahnt solche Situationen voraus. Die wenigen Male, da Gesten Worte verdrängt haben und Personen handgreiflich geworden sind, handelte es sich um junge, nicht gerade ausgeglichene Leute, Paare zumeist, mit Kindern an der Backe, die mittendrin anfangen zu heulen und alles unter Strom setzen.

Die alte Frau kommt mit ihrer Brille zurück, fragt ihn, ob er etwas trinken wolle, ein Bier oder vielleicht einen Portwein, doch er lehnt strikt ab, bevor noch ein Höflichkeitsbesuch daraus wird, Mitleid sich breitmacht. Wenn man auf diese Art als Schuldeneintreiber arbeitet, liegt die eigentliche Gefahr darin, sich verunsichern zu lassen, einzuknicken, und von da an gar nicht mehr genug vergeben zu können. Beim Blick in die Akte stellt er fest, dass die Dame gar nicht so alt ist, sechsundsiebzig, wie er es dem Geburtsdatum auf den Bestellscheinen entnimmt, aber vielleicht ist sie geistig nicht mehr ganz fit oder täuscht es gut vor, denn schon schenkt sie ihm ein Glas Portwein ein, und auch eins für sich, randvoll, zwei kleine Gläser, die sie vorsichtig auf den Beistelltisch schiebt. Ludovic schiebt seins demonstrativ zur Seite und nimmt mit ausladender Geste so viel Platz wie möglich ein, breitet alle mitgebrachten Dokumente aus. Beim Anblick all dieser Schreiben erhebt sich die Frau wieder, Ludovic spürt, dass etwas in ihr in Panik gerät. Sie sieht die Kopien der vielen bereits erhaltenen Mahnungen und muss schlucken, doch hier ist die Wirklichkeit, diese verdammte Schuld liegt direkt vor ihr, holt sie gerade wieder ein.

– Wissen Sie, Madame Salama, je länger sich diese Geschichten hinziehen, umso unschöner wird es. Ich sage das Ihnen zuliebe, Madame Salama. Noch einmal, ich bin gekommen, um alles zu regeln, ich bin da, um die Dinge zurechtzurücken, verstehen Sie? Mein Job besteht genau darin, zu verhindern, dass alles noch schlimmer wird. Verstehen Sie …?

Für jeden Termin nimmt er einen Pappordner mit, auf dem deutlich der Name der betreffenden Person geschrieben steht, eine schlichte Mappe, aber keine Aktentasche, womit er den exklusiven Charakter seines Besuchs unterstreicht, zu verstehen gibt, dass er sich extra für diese Person auf den Weg gemacht hat, um allein sie zu treffen, sie, deren Familienname mit schwarzem Filzstift auf der roten Mappe vermerkt ist, ein bisschen wie bei einer Krankenakte, einer dicken Mappe, die er zu neunzig Prozent mit Blättern aufbläht, die nichts mit der Sache zu tun haben, aber Wirkung erzielen. In den zwei Jahren, die Ludovic diesen Job schon macht, ist ihm zumindest klar geworden, dass die fette Mappe wesentlich mehr hermacht als seine hundertzwei Kilo.

– Ach, wissen Sie, ich habe noch nie was von dem ganzen Papierkram verstanden, von Einschreiben und so …

– Eben, Madame Salama, Sie sollten sich setzen, damit ich Ihnen alles genau erkläre.

Die Dame scheint ihm ziemlich besorgt zu sein, also fährt er die menschliche Schiene.

– Machen Sie sich nichts draus, jeder hat mal einen kleinen Zahlungsrückstand. Ehrlich gesagt ist das heutzutage sogar die Regel, wir verschulden uns, um etwas zu kaufen, eines Tages haben wir es, aber dann vergessen wir, den Rest zu bezahlen, das System will es so …

– Es war für meine Enkeltochter, verstehen Sie, nicht für uns.

– Der Ring war für Ihre Enkelin?

– Ja, für ihre Hochzeit.

– Okay, aber wenn ich das richtig lese, hat sie vor zwei Jahren geheiratet, und der Ring ist noch immer nicht bezahlt, zwei Jahre sind viel, finden Sie nicht? Zumal nach der Anzahlung nur einmal Geld eingegangen ist, und auch nur ein Teil davon, oder irre ich mich?

– Sie ist mittlerweile geschieden. Arme Kleine, sie ist ein Engel, niemand hilft ihr im Leben, aber bitte glauben Sie mir, sie ist ein Engel von einem Kind.

– Da bin ich mir sicher, Madame Salama, aber dass Sie mich richtig verstehen, ich bin nicht hierhergekommen, um über Ihre Enkelin zu sprechen, uns interessiert der Ring …

– Er hat sie mit zwei Kindern sitzen lassen, von heut auf morgen …

– Okay, aber den Unterlagen zufolge hat der Ex-Mann Ihrer Enkelin nichts damit zu tun, nicht mal sein Name ist erwähnt. Madame Salama, diesen Ring haben Sie gekauft, hab’ ich recht? Sie wollten ihr das Geld vorstrecken, stimmt’s?

– Ach, ich weiß auch nicht mehr, mein Mann hat damals alle Formulare ausgefüllt, um so was kümmert er sich immer.

– Okay, und wo ist Monsieur Salama jetzt?

– Im Krankenhaus.

Die leicht schmerzhafte Befürchtung, die ihn vor dieser ganz simplen Frage beschlichen hat, war also berechtigt, jetzt muss er unbedingt sein Ding durchziehen, darf sich nicht vom Mitleid überwältigen lassen.

– Okay, aber auf dem ersten Scheck stand doch Ihre Unterschrift, oder?

– Wir haben ein gemeinsames Scheckbuch, und ich weiß es doch auch nicht mehr, Sie kommen mir mit etwas, das drei Jahre her ist, und ich sage Ihnen doch, sie sind mittlerweile geschieden.

– Nein, zwei Jahre. Und wo ist dieser Ring jetzt überhaupt?

Während er vorgibt, in seinen Unterlagen zu suchen, sieht Ludovic schon kommen, dass er den Ring von der Enkelin zurückholen muss, die ihn wahrscheinlich längst weiterverkauft hat, und dann auch noch diese zwei schreienden Bälger, die junge Frau, die die Fassung verliert oder Panik schiebt oder austickt, und falls sie einen neuen Typen im Leben hat und der mittendrin sein sollte, dann gilt es auch, mit dem Typen fertigzuwerden, ungerührt zu bleiben, ein Pulverfass … Also versucht er es mit einem kleinen Trick:

– Madame Salama, Sie haben Ihrer Enkelin geholfen, und wissen Sie was, Sie werden ihr bis zum Schluss helfen, sonst ist sie die Leidtragende in der ganzen Geschichte; wenn Sie nichts unternehmen, wird nämlich sie die siebenhundert Euro begleichen müssen!

– Aber ich will doch nicht, dass sie Probleme bekommt … Ach Gott, dass das ausgerechnet mir passiert, ich habe wirklich kein Glück, wissen Sie, Sie werden ihr doch jetzt keine Probleme machen …

– Ich bin ja gerade da, damit es keine Probleme gibt. Hören Sie mir mal gut zu, in dieser Geschichte bin ich ein Vermittler, mehr nicht, ich vertrete den Juwelier von Livry-Gargan, bei dem sie den Ring gekauft haben, er ist ein ehrlicher Handwerker, nur hat er im Moment viel Ärger mit Leuten, die ihn nicht bezahlen, er liefert im Voraus, damit die Leute rechtzeitig ihren Ring haben, und dann hat er den Salat, weil man ihn nicht bezahlt, verstehen Sie? Irgendwie muss er an sein Geld kommen, oder er kann seinen Laden dichtmachen, verstehen Sie?

– Alles Betrüger, diese Juweliere …

– Dieser nicht, Madame Salama, dieser nicht, glauben Sie mir. Und deshalb machen wir jetzt etwas ganz Einfaches, wir machen einen Tilgungsplan, meinetwegen für zwanzig Monate, und damit Sie Ihre Ruhe haben, stellen Sie mir jetzt zwanzig Schecks à fünfunddreißig Euro aus, die der Juwelier Monat für Monat einlösen wird, dadurch sparen wir uns die Rechtsverfahren, den Gerichtsvollzieher und das ganze Theater, ich verspreche Ihnen, es wird keine juristischen Schritte geben, kein Gericht, keine Probleme, kein gar nichts …

– Na, das fehlt noch, dass der mich vor Gericht zerrt, in meinem Alter, soll er mal machen, wird schon sehen, was er davon hat!

– Keine Sorge, ich bin ja da, damit man Sie in Frieden lässt, damit wir uns von Mensch zu Mensch unterhalten, nicht wahr … Also, wir gehen es langsam an, Monat für Monat, hören Sie, Madame Salama, ganz langsam, wissen Sie was, vertrauen Sie mir einfach, Madame Salama, Sie werden sehen, wir bekommen alles geregelt, und dank Ihnen werden alle glücklich sein, und Ihre Enkeltochter bleibt unbehelligt. Okay … Na los, stoßen wir an?

– Nein, das will ich auf keinen Fall!

– Was?

– Dass die Kleine behelligt wird.

Als sie ein altes, völlig zerfleddertes Scheckbuch aus der Kommodenschublade holt, überkommen ihn plötzlich Zweifel, er betet, dass sie ihm keine ungedeckten Schecks unterjubeln will, sieht es schon kommen, dass er in einer Woche zurück sein wird, zurück, aber ganz anders aufgelegt, er wird dann die Stimme heben, einen ganz anderen Ton anschlagen müssen vor dieser Sechsundsiebzigjährigen, also hofft er inständig, dass sie ihm nicht das Leben schwer macht, sondern auf Ehrlichkeit setzt. Da leert sie ihr Portweinglas in einem Zug und schenkt sich ein zweites ein, das sie genauso auf ex trinkt, und wieder hat er Zweifel. Gleich beim ersten Scheck beschwert sie sich, sie schaffe es nicht, der Kuli schreibe nicht richtig und es sei zu dunkel, woraufhin sie aufsteht und ihn bittet, die Schecks selbst auszufüllen. Sie beschließt, ihm zu vertrauen. Und er ihr gewissermaßen. Sie vertrauen sich gegenseitig. Nur hat er mit der Zeit einen Riecher entwickelt, Scherereien wittert er, und als er auf dem Kontrollabschnitt im Buch sieht, dass der letzte Scheck vor drei Jahren ausgestellt wurde, und ihm auffällt, dass sie zwei Paar Socken über ihren Strümpfen trägt, weil hier durchaus nicht geheizt wird, ahnt er, dass diese Geschichte noch nicht zu Ende ist.

Viele Leute um Aurore, zu viele vielleicht. Ein Computerausfall hat alle Kassen lahmgelegt. Jeder wartet in seiner Schlange mit vollem Korb oder Einkaufswagen, umkehren geht nicht, es sei denn, man ließe alles stehen und liegen, nur was würde man dann zu Abend essen? Aurore wirft einen Blick auf ihr Telefon, es hat Empfang, kann ihr aber auch nicht helfen. Die Kassiererinnen verharren in dieser ungewohnten Schwebe, verstört von der Stille. Seit die Kassen schweigen, gibt es kein allgegenwärtiges Piepen mehr, kein Förderband, das sich rührt, nicht das geringste Geräusch. Die Leute blicken sich reglos an. Der Manager sagt, in drei, vier Minuten werde alles wieder starten, in einer Hand hält er ein Funkgerät, in der anderen eine Schachtel Pralinen, die er den Kunden anbietet, damit sie sich noch etwas gedulden. Aurore fragt sich, ob diese drei, vier verlorenen Minuten unwiderruflich sind, inwiefern sie ihr Leben in eine andere Richtung lenken könnten. Sie bekommt einen Schweißausbruch, regt sich aber nicht auf, und doch kann sie es nicht länger ertragen, dass man ihr so die Zeit stiehlt, und dann noch die Zeit, die sie brauchen wird, um ihre Einkäufe einzupacken, dann heim durch die Kälte und ihren Hof überqueren, schon wieder diesen Hof.

Dieser Zwischenfall gleicht ihrem Leben in jüngster Zeit. Seit September bestehen ihre Tage genau daraus, aus Zeit, die man ihr stiehlt, aus Zeit, die nicht ihr gehört. Jene Zeit, die ihr alle im Büro rauben, und diese in den Gängen der Metro verschlungenen Minuten, sogar ihre Kinder sieht sie wie zwei kleine egoistische Diebe, einschließlich ihres Stiefsohns, Victor, der nur zehn Tage im Monat da ist, der sich nach Möglichkeit abkapselt und eine Grimasse zieht, was fast noch schlimmer ist, er stiehlt ihr Zeit, die er nicht einmal einfordert, allein durch seine Anwesenheit, indem er nichts macht, weder sein Bett noch seine Hausaufgaben, indem er sich mit seiner Spielkonsole auf dieses weiße Sofa lümmelt, auf dem sie liebend gern mal abends ausruhen würde – nur einen Abend mal ihre Sachen im Flur abwerfen, sich ins tiefe weiße Leder schmiegen und alles ohne sie weiterlaufen lassen …

Das Piepen ertönt wieder, das Leben hebt wieder an. Als sie den Monoprix verlässt, ist es stockdunkel. Um neunzehn Uhr dreißig an einem zwanzigsten Oktober hat der Tag die Partie schon verloren. Die Einkaufstüten schneiden ihr in die Handflächen. Bei dieser Kälte laufen die Leute schnell, als ob sie Angst hätten. Je tiefer Aurore in die kleinen Straßen vordringt, desto weniger Leute, Autos, Geschäfte gibt es, bald hört sie nur noch ihre Absätze auf den Bürgersteig schlagen. Manchmal hat sie das Gefühl, nur das zu sein, das Hämmern der fliehenden Zeit, das mechanische Echo eines Gangs, der im Abend verhallt. Und doch hat sie alles, was sie wollte, Verantwortung, eine schöne Wohnung, Familie, nur: Seit September gerät alles aus den Fugen.

Sie gibt den Gebäudecode ein und drückt die Tür mit der Fußspitze auf, ihr Hof ist in Dunkelheit getaucht. Im Grunde gibt es keinen anderen Moment als diesen, in dem sie allein sein kann, und deshalb braucht sie ihn. Bevor sich die Raben niedergelassen haben, war dieser Hof eine wirkliche Auszeit, eine frische Brise, ein Segen, den sie jedes Mal verspürte, und tatsächlich, sobald man in den Hausflur gelangt und Richtung Hof geht, ist die Stadt rundherum verschwunden. Diese tiefe Stille, dieses Gefühl des Friedens kommt von den zwei riesigen Bäumen, die eine Art Dach über den Dächern bilden, sodass eine Welt für sich entsteht, eine Wildnis, Gras wächst zwischen den losen Pflastersteinen, in der Mitte wachsen Büsche, überwuchern die Beete am Fuß der Bäume, die Natur erobert sich hier, etwas zu augenfällig, ihr Terrain zurück.

Von diesem ehemaligen Stadtpalais ist nur die Fassade zur Straße hin neu verputzt worden, die des Hauses, in dem sie wohnt. Auf der anderen Seite des Hofs sind die Gebäude älter, Stromkabel laufen drei Jahrhunderte alte Balken entlang, vor Jahrzehnten wurde dort das letzte Mal renoviert, es ist wie eine andere Welt, eine Welt, die sie nie betritt. Sie läuft durch diesen Geruch von Unterholz, ein kleines Stück Land, das sie im Halbdunkel nur erahnt, denn seit September macht sie das Licht nicht mehr an; seit die zwei Raben da sind, weiß sie, dass sie ihr eisiges Gekrächze ausstoßen werden, sobald sie den Zeitschalter in Gang setzt, ein Gekrächze, das schlimmer ist als ein Alarmsignal, mächtige Schreie von den Baumkronen herab, allein beim Gedanken daran läuft ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Vögel waren ihr noch nie geheuer, sie hat schon Angst vor Tauben, wenn sie ihr zu nah kommen, Raben gehen da gar nicht.

An dem Tag, da sie diese Tür erstmals aufgedrückt hat, vor acht Jahren war das, wollte sie die Wohnung mit Richard besichtigen, und sobald sie auf das vor der Julihitze geschützte Grün gestoßen war, hatte sie an ein Stück Land mitten in Paris gedacht. Unter den großen Bäumen fühlte die Luft sich frisch an, wie klimatisiert, sofort wusste sie, dass sie hier leben würden; noch bevor sie die Wohnung gesehen hatten, war ihr klar, es würde hier sein, wegen dieses Hofs, einer Art Schleusenkammer zum Rest der Welt.

Sie schaltet die flackernde Lampe des Briefkastenraums ein, der sich im Erdgeschoss befindet und in dem auch die Mülleimer stehen. Die alte Glühbirne verbreitet ihr bernsteinfarbenes Licht. Sie schmeißt die Werbung weg, behält die Rechnungen. Sie tritt nach draußen und hebt den Kopf, die Blätter wiegen sich im Wind, heute Abend kann sie sie nicht entdecken, was ihr aber nicht die Angst nimmt.

Auch im Treppenhaus bleibt das Licht aus. Manchmal fürchtet Aurore, sie auf einem Treppenabsatz anzutreffen, glaubt, sie in jeder Etage zu erblicken. Eines Abends, denkt sie, wird sie es nicht mehr schaffen, eines Abends wird sie von der Angst so gelähmt sein, dass sie nicht mehr nach Hause kann. Richard sagt ihr jedes Mal: »Aurore, es sind bloß Vögel, wahrscheinlich haben die viel mehr Angst vor dir«, aber sie weiß, dass das nicht wahr ist; selbst wenn sie weniger als einen Meter entfernt sind, rühren sich diese Raben nicht vom Fleck, im Gegenteil, man fühlt sich von ihnen beobachtet, herausgefordert. Diese zwei Raben versinnbildlichen die vielen Ängste, die sie derzeit umkreisen, die Dinge, die kaputtgehen, die wachsenden Schulden, und dann auch noch ihren Geschäftspartner, der nicht mehr mit ihr redet; seit September lässt alles sie in Panik geraten.

In der Stadt erzeugt man sein Leben lang einen ersten Eindruck, tagein, tagaus begegnet man Tausenden Blicken, alles Menschen, an denen man zu nah vorbeigeht, manche bemerkt man kaum, andere sieht man erst gar nicht. Was an Ludovic sofort auffällt, ist seine Statur. Hünenhaftigkeit prägt den Charakter, die Beziehung zu den anderen, aber sie zwingt auch zu einer gewissen Vorsicht, wie an diesem Abend im überfüllten Bus: Ludovic spürt, dass er bei der geringsten Störung jemandem wehtun könnte, also klammert er sich an die Stange, zumal der Fahrer ein Hektiker ist, der seine Gäste durchschüttelt. Direkt unterhalb von Ludovic sitzen drei alte Damen, die ihm winzig erscheinen, nicht anders als manche Männer. Er ist sich nicht sicher, ob die Frauen ihn beobachten, die Männer werfen ihm jedenfalls Blicke zu, breite Schultern will jeder, diesen ungerechten Vorteil in der anonymen Masse.

Eine junge Frau steigt mit einem Kinderwagen zu, die Leute rücken noch enger zusammen, aber es passt nicht. Eine vom Band kommende Stimme bittet »alle Fahrgäste, nach hinten aufzurücken«, der Fahrer steht auf und fügt diesen Worten die entsprechende Geste hinzu, alle pressen sich aneinander, man erstickt hier drin, also steigt Ludovic aus, springt aus diesem mit Ungeduld infizierten Bus. Er hat ein Problem mit den Massen, dieser städtischen Art, sich zusammenzuballen. Auf dem Boulevard ist es nicht anders, die Leute stürmen nur so drauflos. Die zurückgezogene Schulter, der Schritt zur Seite, um nicht zusammenzustoßen, alle tun es blind, er aber konzentriert sich darauf. Wahrscheinlich muss man seit Langem in Paris leben, um sich instinktiv durch eine dichte, gehetzte Menge zu schlängeln, um in ihr aufzugehen, ohne weiter darauf zu achten.

Früher kannte er sie nicht, die Wirkung seiner zwischen die anderen geworfenen Körperfülle. Im Célé-Tal ging er auf hohen Felspfaden oder durch offene Felder, seine Anwesenheit hatte nicht dasselbe Gewicht, der Umgebung war seine Statur egal, während er hier ständig damit beschäftigt ist auszuweichen.

Am Pont National angelangt, geht er nach links, um am Seine-Ufer entlangzulaufen. Hier hat man völlig freie, ungetrübte Sicht. In der Stadt kann nur ein Fluss den Himmel derart freigeben, hier sieht man ihn wenigstens, selbst bei Nacht. Die Seine ist das einzig friedliche, das einzig weibliche Element, jenseits dessen er nichts anderes als eine nervöse, von Männern erdachte, harte Stadt sieht, von Männern errichtete Gebäude und Denkmäler, von Männern entworfene Grünanlagen, Autos und Alleen, von Männern gereinigte Straßen, und auch im Skatepark wiederum nur Männer, die in der Kälte herumlungern, wie vorhin unter der Hochbahn … Während er am Flussufer entlangläuft, entgeht ihm nicht, dass die anderen Typen ihn angucken. Sie gucken ihn an, weil er sie anguckt. Dieses Imponiergehabe nimmt kein Ende. Wo er doch gerade erst von einem Besuch in Ivry zurückkommt, einem Besuch voller Anspannung, bei dem er sich eine Stunde lang mit einem Paar herumschlagen musste, das die krumme Tour gefahren ist, so trotzig, dass er drauf und dran war durchzudrehen … Ist er aber nicht. Zweimal hat er in einer solchen Situation die Nerven verloren, zweimal haben ihn seine Gegenüber so zur Weißglut gebracht, dass bei ihm die Sicherung durchgebrannt ist, aber noch mal wird ihm das nicht passieren, ganz bestimmt nicht. Früher oder später holt uns alle die Weisheit ein. Dennoch bleiben die Hausbesuche eine heikle Angelegenheit. Einfach so ohne Vorwarnung bei den Leuten aufzukreuzen und ihnen genauso schroff ihre Schuldenlast unter die Nase zu halten, erhitzt die Gemüter. Ein drittes Mal wird er nicht wütend werden. Zwei Wutanfälle in zwei Jahren, natürlich ist das wenig, »aber ein einziger kann schon zu viel sein«. Das hat ihm Coubressac gesagt, sein Chef, der anfangs nicht gerade scharf darauf war, dass Ludovic Hausbesuche machte. Coubressac kennt ihn schon lange, hat ihn dritte Reihe in der Amateurliga spielen sehen, weiß, dass Ludovic außerhalb des Felds ein Lamm war, doch nicht im Spiel, sogar recht rabiat war er für eine Nummer 8, eher darauf aus, mit dem Gegner zusammenzustoßen, als die Lücke zu finden.

Wenn man stark wirkt, muss man sich auch noch durchringen, es zu sein. Seit sechsundvierzig Jahren wird er als robuster Kerl betrachtet, dem nichts etwas anhaben kann. Obwohl er sich in Wirklichkeit völlig erdrückt fühlt von dieser Stadt. Wenn er in Paris lebt, dann nur aus Opferbereitschaft, sonst wäre er immer noch im Célé-Tal, trotz des ertragsarmen Landes und dieser Gerüchte über ihn, die nicht mehr verstummen werden, trotz dieser Produkte, die den Tod seiner Frau verursacht haben sollen, und des Gerichtsverfahrens, das nicht stattfindet, er würde noch heute von der Landwirtschaft leben, vermutlich aus Rückschrittlichkeit, vor allem jedoch aus Berufung. Aber da ist nicht bloß die quälende Erinnerung an Mathilde, nein, hinzu kommt, dass man heute nicht mehr zu fünft auf vierzig Hektar klar begrenzter, hauptsächlich aus Grünland bestehender Fläche leben kann. Immerhin können es seine Eltern und seine Schwester – ohne allzu große Abstriche. Letztlich rührt sein einziger Stolz daher, dass er sich für seine Schwester und seine Neffen geopfert hat, selbst wenn sein Schwager an seine Stelle getreten ist, doch wenigstens kann er sich gewiss sein, dass seine Eltern den Rest ihres Lebens in Ruhe verbringen werden, ohne sich den Kopf über Erbteile zerbrechen zu müssen.

Es ist nie einfach, sein Land zu verlassen, vor allem wenn man wirklich welches besitzt, doch nach Mathildes Tod und allem, was man darüber erzählte, konnte er einfach nicht mehr bleiben. Kaum dass sich ihm die Stelle in Paris geboten hat, hat er die Herausforderung angenommen und Ja gesagt. Der Älteste der Familie Coubressac war auf der Suche nach Eintreibern für die Region Paris, wofür er verlässliche Typen wollte, ohne besondere Erfahrung, aber verlässlich. Coubressac, die Firma für landwirtschaftliche Geräte, schon immer Sponsor für eine Handvoll Rugbyklubs in der Region, darunter die von Saint-Sauveur und Gourdon. Als Ludovic erst bei den Junioren, dann in der Amateurliga spielte, stand »Coubressac« in goldenen Lettern auf der Sponsorentafel am Eingang des Stadions geschrieben. Vor dreißig Jahren hat sich der Älteste der Familie Coubressac in Paris niedergelassen, um ins Immobiliengeschäft einzusteigen, rasch sah er sich mit Zahlungsrückständen konfrontiert, sodass er schließlich ein lukratives Geschäft für Krisenzeiten witterte. Die Fakten haben ihm recht gegeben, ausstehende Zahlungen belaufen sich heute in Frankreich auf sechs Milliarden Euro jährlich, in einem Land, in dem die Schuldentilgung den größten Ausgabenposten im Staatshaushalt ausmacht, ist das ein klares Zeichen dafür, dass Schulden die Welt im Griff haben und dass es vor allem darum geht, entweder bezahlt zu werden oder zu zahlen, was man anderen schuldet. Dann hat sich Coubressac mit einem Juristen zusammengetan, und bereits in den Neunzigern haben sie sich an die Eintreibung im großen Stil gewagt. Anfangs waren sie die beiden einzigen Eintreiber, heute beschäftigen sie über vierzig. Nur drei machen Besuche, die anderen arbeiten am Telefon. Schuldeneintreibung ist eine Tätigkeit, bei der es Takt und Überredungskunst braucht. Nach zweimonatiger juristischer Ausbildung wagte Ludovic den entscheidenden Schritt. Im Vergleich zu Limoges oder Toulouse war Paris, was die Entfernung betrifft, viel radikaler, und tatsächlich war es ein Schock. Selbst wenn dieser Job wie auf ihn zugeschnitten scheint, weiß er, dass er nicht lange durchhalten wird, nach nur zwei Jahren kann er schon nicht mehr, das Pech der anderen deprimiert ihn, diese ehrbaren Schuldner, die in die Kreditfalle tappen, oder diese Chaoten, die partout nicht zahlen wollen, zwei entgegengesetzte Abläufe für dasselbe Ergebnis, früher oder später wird man zur Kasse gebeten.

Aber er will sie zumindest persönlich treffen, findet das menschlicher; telefonisch Schulden eintreiben, acht Stunden am Tag im Büro hocken, die Schuldner mahnen, sie wochenlang in schroffem Tonfall mit den immer gleichen Formulierungen bedrängen, das ist nichts für ihn. Weswegen er sich für Hausbesuche entschieden hat, und meist beschränkt es sich darauf: ein kleines Haus in einem mehr oder weniger nahen Vorort von Paris, eher ein Haus als eine Wohnung, ein Name unter einer Klingel, die er ungerührt drückt. Dagegen artet die telefonische Eintreibung oft zur Hetzjagd aus, zu einer endlosen Nachstellung, die den Schuldner durch dauernde Anrufe in Panik versetzen soll, von frühmorgens bis spätabends, und auch bei sämtlichen Freunden und Bekannten wird angerufen, bei seiner Familie und sogar am Arbeitsplatz, damit jeder weiß, dass er Geld schuldet, man klebt ihm das Etikett »Schuldner« auf die Stirn, lässt nicht locker, bis er mit den Nerven am Ende ist. Eine schmutzige Angelegenheit.

Nimmt man, das weiß Ludovic, alle verwalteten Akten zusammen, erzielen die Hausbesuche bessere Ergebnisse, die Akten werden wesentlich effizienter abgearbeitet. Er hätte ohnehin nie seine Tage am Telefon verbringen können, schon, weil er nur ungern telefoniert – selbst seine Angehörigen ruft er nie an –, aber vor allem, weil er ständig in Bewegung, immer draußen sein muss, nicht zu sitzen, ist für ihn eine Art Lebensgefühl.

Als er mit diesem Job anfing, machte er sich auf einiges gefasst, auf angespannte Situationen in Gegenwart von Halbkriminellen, doch am häufigsten hat er es mit armen Schluckern zu tun, mit Geringverdienern oder kürzlich erst arbeitslos Gewordenen, die der Lust am Konsumieren erlegen sind. Bisweilen trifft er auch Alte an, die nicht mehr auf dem allerneusten Stand sind, manche wurden reingelegt oder haben schlichtweg kurzsichtig gehandelt. Natürlich gibt es daneben auch die Böswilligen, die, die absichtlich den Händler im Stich lassen, den Mieter oder den Handwerker nicht bezahlen, doch nicht so viele, leider, denn vielleicht wäre es einfacher, nur mit Chaoten, mit fiesen Typen konfrontiert zu sein, da wäre er motivierter und ließe sich wenigstens nicht von seinen Bedenken einholen.

Es ist kein Job, auf den er stolz ist, aber er hat auch nicht das Gefühl, im Dienst des Großkapitals zu stehen, und ebenso wenig will er sich auf die Seite der Schuldner schlagen, die Wirklichkeit ist komplexer, vertritt er doch keine mächtigen Gläubiger, eher Handwerker, Kleinunternehmer, Freiberufler, vom Juwelier bis zum Zahnarzt, vom Klempner bis zum Möbelhändler, vom Maurer bis zum Architekten, alle möglichen Dienstleister, bei denen sich offene Rechnungen anhäufen und die mit dem Verschicken von Mahnungen überfordert sind, weil es ein eigenständiger Beruf geworden ist, sich bezahlen zu lassen. Diese Leute laufen Gefahr, in den Konkurs zu schlittern. So sind Zahlungsausfälle die Hauptursache für Firmenpleiten in Frankreich, Zehntausende Arbeitsplätze gehen dadurch jedes Jahr verloren, und ein Drittel der offen gebliebenen Rechnungen hängen mit mehr oder weniger absichtlich durchgeführten Adressänderungen zusammen. In diesen Fällen sind die Gläubiger völlig machtlos, es sei denn, sie stürzen sich in teure, endlose Gerichtsverfahren mit ungewissem Ausgang. Die großen Marken hingegen haben ihre eigenen Inkassodienste, sie berufen sich auf Gerichtsvollzieher, ohne das Recht dazu zu haben, aber ein Einschreibebrief mit halbwegs offiziellem Kopf, der die Prüfung durch einen Gerichtsvollzieher anzeigt, macht generell Eindruck, womit das Problem jedoch nicht unbedingt gelöst ist, bei Weitem nicht. Aus diesem Grund auch sieht Ludovic sich weniger als Schuldenjäger denn als Ritter der Gerechtigkeit, zumindest redet er sich das ein, weil er stets das Gefühl hat, sich rechtfertigen zu müssen. Am besten, man spricht erst gar nicht über seine Arbeit. Ohnehin ist er es nicht gewohnt, sich anderen mitzuteilen.

In den zwei Jahren, die er nun schon in Paris lebt, ist er weder Freundschaften noch Beziehungen eingegangen, Leute trifft er so gut wie nie. Bei den Arbeitszeiten ist er unabhängig, dreimal im Monat geht er ins Büro zu den Teambesprechungen, ansonsten ist er sein eigener Chef. Alles in allem spricht er nur mit den Leuten, die er »besucht«, mit seinen Klienten, was gar nicht so wenig ist. Angst hat er nur davor, die ganze Sippschaft anzutreffen, Eltern mit Kindern, eine Mutter mit ihrem Baby auf dem Arm und den kleinen Geschwistern, die sich an ihre Beine klammern, der Vater, der sich im Hintergrund hält. Wenn man ihm in solchen Fällen mit den Kindern kommt, sie bewusst vorschiebt, um ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, von wegen: »Das werden Sie mir doch nicht antun … Okay, ich hab’ Schulden, aber auch vier Mäuler zu stopfen, tun Sie uns das nicht an …«, dann verletzt ihn das meist, weil er an die Kinder denken muss, die er nie haben wird mit Mathilde; statt dass es ihm zu Herzen geht, lässt es ihn vor Wut rasend werden. Er befürchtet, eines Tages wirklich durchzudrehen, nicht etwa, weil es lauter werden würde oder wegen einer falschen Geste, sondern wegen einer Gemeinheit, eines ekelhaften Versuchs, Mitleid zu erwecken, ihn zu erweichen, indem man ihm mit der ganzen Familie kommt, mit alldem, worauf er nie ein Anrecht haben wird. So oder so, er rechnet stets mit Schwierigkeiten, wenn er sich vor einer Tür postiert und die Klingel drückt, doch die Erfahrung lehrt ihn, im höchsten Grade wachsam zu sein, und was auch passieren, was man ihm auch sagen oder an Argumenten entgegenbringen mag, auf eines achtet er nun ganz besonders: den dritten Ausraster zu vermeiden.

Früher lebte ein Turteltaubenpaar im hohen Geäst, an schönen Tagen lag über allem ihr wohltuendes Gurren, mischte sich zwischen vereinzeltes Zwitschern, das Singen der Amseln. Nur hatte Aurore, bei ihrer Rückkehr aus dem letzten Urlaub, unter den Bäumen ganze Büschel beigefarbener Federn vorgefunden und den Blick hoch zu jenen tiefschwarzen Vögeln gehoben, zwei riesigen Raben, glänzend wie Metall. Seitdem gibt es kein Gurren mehr, sie haben sie vertrieben, »wenn nicht sogar gefressen …«.

– Jetzt mach mal halblang, Aurore, sind doch nur Vögel!

Wenn man sich einer Freundin anvertraut, erwartet man von ihr Zustimmung, Verständnis, auch ohne viele Worte, nicht so bei Andréa. Andréa lebt seit drei Jahren in Indien. Ihre gefloppte Modelinie nahm sie zum Vorwand, ein neues Leben in der Gegend von Madras zu beginnen, ein angeblich authentisches Leben, näher am wahren. Sie kommt nur zweimal im Jahr nach Paris, und jedes Mal, wenn sie sich wiedersehen, hat Aurore den Eindruck, dass sie immer verrückter, immer verschwärmter wird, überhaupt nicht mehr für sie da ist.

– Leben heißt, sich dem eigenen Selbst zu nähern, und du, Aurore, bist alles, nur keine Geschäftsfrau, das ist viel zu hart, und ich weiß, wovon ich spreche, in der Geschäftswelt heißt es, fressen oder gefressen werden …

Auf dem Rückweg ins Büro denkt Aurore, dass sie ihre Vogelgeschichten besser für sich behalten sollte, damit man sie nicht noch für übergeschnappt hält. Doch auch heute Abend muss der Hof überquert, müssen die Fenster geöffnet werden, in der Angst, sie direkt vor sich zu haben; selbst wenn sie in die Hände klatscht, rühren sie sich nicht, es ist nicht zum Aushalten. Bei ihren Internetrecherchen hat sie gelesen, dass manche Tiere in Paris von anderen verdrängt werden, durch den Klimawandel werden die Vögel immer größer, an verschiedene Möwenarten hat man sich schon gewöhnt, und nun sind es diese Raben, zusammen haben sie die Spatzen und Schwalben vertrieben, die Natur scheint permanent das Gesetz des Stärkeren zu demonstrieren.

Auf einer wissenschaftlichen Seite hat sie außerdem gelesen, dass Raben zu den intelligentesten Tieren zählen, dass sie an Fähigkeiten auch Primaten übertreffen sollen, ja sogar von Listen und Täuschungsmanövern Gebrauch machen. In Japan wurde beobachtet, dass sie die härtesten Nüsse auf eine Straße legen, warten, bis ein Auto drüberfährt, und dann die Kerne zwischen den geplatzten Schalen aufpicken. So viel Tücke machte ihr Angst, vielleicht aufgrund des Bildes der zermalmten Nüsse. Mehrmals hat sie auf Foren nach Tricks gesucht, um die Raben zu vertreiben, aber immer nur seltsame oder hirnrissige Erfahrungsberichte gefunden, Ausdruck irgendeines Aberglaubens, demzufolge Raben Unglück brächten und es nie gut sei, welche in seiner Nähe zu haben, Auffassungen, die sich auf zahlreiche Mythen stützen, laut derer diese Vögel nur auf Erden weilten, um die Menschen zu hintergehen, übrigens war auch das erste von Noah nach der Sintflut freigelassene Tier ein Rabe, ein auf Erkundungsflug geschickter Rabe, der aber nie zurückkehrte, um zu verkünden, dass die Welt wieder frei liege, er war zu beschäftigt damit, sämtliche an Land gespülte Kadaver zu verschlingen.

Im Augenblick klingt das alles vertraut, kommt es ihr seltsam bekannt vor, denn seit September macht sie sich nur noch Sorgen. Allein schon die zwei stornierten Großbestellungen der Galeries Lafayette, und dann diese Lieferung nach Asien, von der sie nichts mehr gehört haben, tausendzweihundert Kleider, Kostüme und Bustiers, die spurlos verschwunden sind. Drei böse Überraschungen, die für hohe Verluste sorgen. Schon nächsten Monat wird kein Geld mehr da sein, um die Gehälter auszuzahlen, und ihre Bank droht, nicht mehr mitzuziehen, so, wie es auch jede andere täte, die Banken sind nicht mehr daran interessiert, Geld zu verleihen, vielmehr suchen sie heute welches, sie brauchen Eigenkapital, um auf den Märkten zu spekulieren, sodass Aurore jetzt, wenn sie ihren Banker um eine Aufstockung bittet, das Gefühl hat, um Almosen zu betteln. Aber das Schlimmste daran ist Fabians Verhalten, Fabian, der so erstaunlich ruhig bleibt, manchmal fragt sie sich, ob er nicht irgendeinen Nutzen aus diesen Zerfallserscheinungen zieht. Er ist nicht nur ihr Geschäftspartner, sondern auch ein langjähriger Freund, sie haben sich an der ESMOD, der renommierten Mode-Hochschule, kennengelernt und standen sich damals so nahe, dass sie gemeinsam das Abenteuer wagten, ein Unternehmen aufzubauen. Acht Jahre lang hat auch alles gut geklappt, mit ihm als kaufmännischem Leiter und ihr als Designerin, acht Jahre Zusammenarbeit, um zwei Kollektionen jährlich rauszubringen, die Verkaufsstellen zu vervielfachen, das perfekte Team. Doch in letzter Zeit hat sie die Verbindung verloren, sie erkennt Fabian nicht wieder, er hat sich in den Kopf gesetzt, einen Gang höher zu schalten, er spricht von großen Mengen und Kostensenkungen, überzeugt davon, dass man sich nur auf dem Markt halten kann, »wenn man wächst, und zwar schnell …« Seit er seine zwei Reisen nach Hongkong unternommen und Leute kennengelernt hat – wen genau, weiß sie nicht –, hat er sich zum Ziel gesetzt, im Verbund mit Großkonzernen neue Märkte zu erschließen, er will Wachstum woanders suchen, das Imagekapital zur Erweiterung des Produktsortiments nutzen. Er hat sogar davon gesprochen, Taschen zu kreieren, es wenigstens zu versuchen, oder wie wär’s mit einem Duft? Ähnlich wie Andréa ist auch Fabian ganz anders geworden, auch er hat sich mit den Jahren extrem verändert.

Aurore kennt die Modebranche, sie weiß, was es an Opportunismus braucht, um erfolgreich zu sein, dass die guten Anfangsabsichten letztlich der Rentabilität geopfert werden müssen. Im Modegeschäft reicht es nicht, schöne Modelle zu konfektionieren, man muss sie auch verkaufen können, muss sich positionieren, taktieren, um in gewisse Kreise zu gelangen, paktieren, um Verkaufsfläche und Presse zu bekommen. Talent allein macht noch keinen guten Designer, ebenso wichtig sind das Beziehungsportfolio und die Gewandtheit der Pressereferentin, da hat sie sich nie etwas vorgemacht: »Je mehr du den Leuten sagst, dass du sie liebst, desto mehr werden sie vorgeben, auch dich zu lieben …« Nur dass Fabian jetzt keine Mode mehr machen will, sondern Umsatz. Und so muss sie auch die Ängste ihrer sechs Angestellten in den Griff bekommen, denn die sehen ja, dass etwas nicht mehr rundläuft zwischen ihnen und dass sie selbst zunehmend beunruhigt ist.

Weshalb es guttut heimzukommen, den Wochenenden fiebert sie jetzt fast schon entgegen. Doch letzten Sonntag saß einer der Raben abends auf dem Balkonkasten, ganz nah am Badezimmerfenster, nur wenige Zentimeter entfernt, und ist auch dann nicht weggeflogen, als sie es geöffnet hat. Von panischer Angst ergriffen hat sie die Nerven verloren, geschrien und gegen die Scheibe geschlagen, um so viel Lärm wie möglich zu machen, der Rabe jedoch hat sich, keinen Meter weiter, auf einen Ast gesetzt und sie nur völlig reglos angestarrt. Richard hat an die Tür geklopft, gefragt, ob alles in Ordnung sei. Ja, alles in Ordnung, nur dass sie sich an jenem Abend geschworen hat, diese Raben zu verjagen, und sollte sie dazu Vogelscheuchen oder sonst was einsetzen müssen, verschwinden sollen die; sie klammert sich an dieses Vorhaben, die Raben verjagen, die Raben verjagen, als wäre dadurch alles geregelt und wieder zurechtgerückt. Und doch hat sie Zweifel: Selbst wenn sie sie vertreibt, was sagt ihr, dass sie nicht zurückkommen, dass sie ein für alle Mal fort sein werden, was sagt ihr, dass in ihrem Leben dann nichts mehr kaputtgehen wird, wie soll sie sich ihrer für immer entledigen, wenn sie sie nicht tötet?

Zu Madame Salama musste er doch noch einmal zurück.

Als sie letzte Woche ihr altes, ungepflegtes Scheckbuch hervorgekramt hatte, hatte er es ja kommen sehen, diese aufeinanderfolgenden Schecks, die sie ihm nacheinander unterschrieben und die er eigenhändig ausgefüllt hatte, waren in der Tat ungedeckt. Und sie hat sich wirklich nicht lumpen lassen, das Konto bei der Crédit Mutuel ist seit zwei Jahren geschlossen. So ist er heute Abend nach seinem Besuch bei ihr wie erschlagen, angewidert, dass er es auf die Spitze treiben musste und die alte, begriffsstutzig tuende Frau richtig ausgeschimpft hat, es widert ihn an, sie so lange bearbeitet zu haben, bis er in die Schublade ihrer Kommode sehen durfte, um dem Spuk ein Ende zu machen, weil er sicher war, dass dieses Möbel Bargeld enthielt, seine Großmutter hat ihre Scheine immer dort versteckt, unter der Schutzfolie im hintersten Teil der Schublade. Und die alte Salama benutzte denselben Trick. Unter der Folie lagen sogar vier Fünfzigeuroscheine, nur wollte sie diese Scheine behalten, sie brauche Bares, um ins Krankenhaus zu fahren, die Busfahrten erschöpften sie, dreimal pro Woche gönne sie sich ein Taxi, weshalb Ludovic ihre Scheine nicht mehr anrühren mochte, die Scheine sind die Fahrkarten, um ihren Alten zu besuchen, diesen Ehemann, der nicht mehr hier wohnen, nie wieder sein trautes Heim betreten wird, nie wieder; solange diese Taxifahrten also andauern, noch Jahre womöglich, braucht die alte Salama ihre orangefarbenen Scheine.

Ludovic konnte sich nur noch in den tiefen Sessel vor dem kleinen Tisch fallen lassen, mit ganzem Gewicht, seufzend ist er sich mit den Händen übers Gesicht gefahren; um die Verbindung herzustellen, hat er sie sogar um einen Portwein gebeten und aus Verzweiflung dann die Rollen getauscht, indem er nun sie um Hilfe angefleht hat.

– Henriette, Sie müssen mir jetzt helfen, ich flehe Sie an, helfen Sie mir, weil es sonst schwer wird. Henriette, sagen Sie mir, dass Sie irgendwo noch ein anderes Konto haben, ich bin sicher, Sie haben ein kleines Sparbuch oder ein Konto bei der Post, anders geht es gar nicht, hab’ ich recht, Henriette?

Darum verspürt er, als er an diesem Abend ihr Haus verlässt, mehr denn je das Bedürfnis zu Fuß zu gehen. Er verlässt das Wohngebiet, hastet eine lange Vorstadtstraße entlang, eine dieser großen Straßen, die irgendwann alle in Paris einmünden. Der Bus, den er eigentlich nehmen müsste, überholt ihn, aber er läuft weiter, durchmisst diese trostlosen Gebiete, die keine Lebensfreude ausstrahlen, Gebäude ohne Geschäfte, stillgelegte Fabriken, irgendwie zusammengewürfelte Siedlungen, plötzlich fühlt er sich weit weg vom Célé-Tal, weit weg von seinem damaligen Leben. Spielt sich denn alles in derselben Welt ab? Er denkt an die Stille dort, an die Stunden da draußen, ohne dass er irgendwem begegnete. Letzten Endes hat sie ihr Scheckbuch von der Post herausgerückt, und er hat von vorn angefangen, zehn Schecks à siebzig Euro diesmal, die bittere Pille wird noch schwerer zu schlucken sein. Er hat die Schecks nacheinander ausgefüllt und Madame Salama unterschreiben lassen, die nichts mehr gesagt hat, als habe sie plötzlich verstanden, dass es auf diese Art einfacher sein und die Sache wenigstens vom Tisch sein wird, dass ihr noch ganz andere Tragödien im Leben zu schaffen machen, aber dass diese beendet werden muss. Als er sich diesmal zum Gehen erhoben hat, wollte sie ihn nicht mehr zur Tür begleiten und ist stumm, ohne ihn auch nur anzublicken, in ihrem Wohnzimmer hocken geblieben. Sie hätte ihn nicht stärker an seine Mutter erinnern können. Er hat sich schäbig gefühlt, die alte Dame so ausbluten zu lassen, Tropfen für Tropfen, siebenhundert Euro, er läuft schnell und beschimpft sich selbst, spricht mit sich, wie nie jemand mit ihm sprechen wird – der einzige Vorteil, wenn man einen Kopf größer ist als die anderen und sie mit einem Doppelzentner in die Schranken weist, er bekommt nie irgendwelche Bemerkungen zu hören, selbst wenn er sie verdient hätte. Nur darf er diesen Vorteil nicht missbrauchen und sich plötzlich alles herausnehmen.

Während er die großen Durchfahrtsstraßen entlanghastet, klammert er sich an dieses Gefühl, das er vor Spielen stets heraufbeschwor. Wenn man mit Stollen die Gänge der Umkleiden entlangläuft, erzeugt man ein metallisches Geräusch, fühlt sich gepanzert, unantastbar, ist ganz auf sich konzentriert. Doch nichts zu machen, stets holt ein Blick ihn ein, das Gefühl exotischen Elends bei einer Frau in traditionellem Boubou, ein Lebensmittelhändler, der ihm ein Angebot zuruft, eine Menschheit, die in diesen konturlosen Städten so verloren ist, dass ein einfaches Lächeln ihn betrübt oder erschüttert. Paris gehört zu den kleinsten Hauptstädten der Welt, rund und klar umrissen, fast perfekt, doch sobald man es mit sämtlichen Vororten vereinigt, die es umgeben, wird es uferlos, ein unendliches Meer an Gemeinden … So steigt er nach einer Wegstunde in einen der Busse, die ihn von Anfang an überholt haben, drinnen herrscht lautes Treiben, man beschimpft sich, diese Halbstarken machen auf eine Art Radau, die von Aggression zeugt, aber nicht einmal vorsätzlich ist, es ist die Lust, sich abzureagieren, die er selbst verspürte in ihrem Alter, nur dass er Raum dafür hatte, Mountainbike-Strecken, leere Straßen, Täler, so weit das Auge reichte, die Umgebung litt nicht unter seinen Pubertätskrisen. Während man sich hier ständig auf die Nerven fällt, ständig zusammenstößt. Er steht im Bus und tut sich schwer mit dieser Stress schiebenden, eingeengten Schülerbande, keiner sagt was, nur mit Späßen, nur im Gespräch könnte man sie besänftigen, aber heute hat er keine Lust dazu, will sie nicht einmal anschnauzen, damit sie sich provoziert fühlen, der Ton schärfer wird, doch er weiß, er muss sich nur einen von ihnen schnappen und von der Gruppe trennen, zum Beispiel dieses kleine Arschloch vor ihm, das dabei ist, Klimmzüge zu machen, und den anderen Tritte verpasst, ohne dass jemand reagiert, sie gehen ihm alle tierisch auf den Wecker …

– Hör sofort auf damit!

Sie sehen ihn an wie einen Verrückten, einen alten Sack, der Cowboy spielt, er spürt die Unschlüssigkeit, sie halten seinem Blick stand, mehr passiert nicht.

Von jetzt an klammert er sich an sein Ziel, zum Fluss zurückzukehren, weil er sich völlig verloren fühlt in dieser Metropole, die ihm ein großes Rätsel ist, nur die Seine – der einzige Streifen freier Natur – bietet ihm Orientierung, die Seine, die ja selbst ohne Unterlass Paris verlässt.

Klappert man den ganzen Tag die Vorstädte ab und steigt von der Metro in die RER