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Marie Darrieussecq

Hiersein ist herrlich
Das Leben der Paula Modersohn-Becker

Aus dem Französischen
von Frank Heibert
und Patricia Klobusiczky

Ein herzlicher Dank des Verlags und der Übersetzer für die Hilfe bei der umfangreichen Recherche der deutschen Originalzitate geht an Anne Schneider und Julian Korb und ganz besonders an die Rilke-Expertin Jeanne Wagner.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Être ici est une splendeur. Vie de Paula M. Becker.

© 2016 P.O.L éditeur, Paris

Erste Auflage

© 2019 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Frank Heibert und Patricia Klobusiczky

Lektorat: Alexander Weidel

Korrektorat: Kristina Wengorz

www.secession-verlag.com

ISBN 978-3-906910-65-9

eISBN 978-3-906910-74-1

HIERSEIN IST HERRLICH.

Rainer Maria Rilke

Duineser Elegien

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Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

DANKSAGUNG

LITERATURNACHWEISE

I

Sie ist hier gewesen. Auf der Welt und in ihrem Haus.

In ihrem Haus kann man drei Zimmer besichtigen. Der Zugang ist durch rote Samtkordeln eingeschränkt. Auf einer Staffelei eine Reproduktion ihres letzten Bildes, Tonkrug mit Bauernblumen, ein Strauß mit Sonnenblumen und Stockrosen.

Sie malte nicht nur Blumen.

Eine grau gestrichene, abgeschlossene Tür führte in den ersten Stock, wo ich mir Gespenster vorstellte. Und wenn man aus dem Haus trat, sah man sie, Paula und Otto, die Modersohn-Beckers. Keine Gespenster, sondern Monster, in zeitgenössischer Kleidung, sehr kitschig im Fenster ihres Sterbehauses, auf der anderen Straßenseite, über den Köpfen von uns Lebenden. Ein Wachspuppenpaar von doppelköpfiger Hässlichkeit im Fenster dieses hübschen gelben Holzhauses.

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Das Grauen ist da, bei der Herrlichkeit, wenn wir den Dingen ins Auge sehen, das Grauen dieser Geschichte, falls ein Leben eine Geschichte ist: mit einunddreißig sterben, ein ganzes Werk vor und ein Baby von achtzehn Tagen neben sich.

Und ihr Grab: grauenhaft. In Worpswede. Dies Dorf in der Sülze des Tourismus ist das norddeutsche Barbizon. Der Bildhauerfreund Bernhard Hoetger setzt ihr ein Denkmal. Eine große Stele aus Granit und Backstein: eine halb nackte Frau, ausgestreckt, überlebensgroß, mit einem nackten Baby auf dem Bauch. Als wäre das Baby auch gestorben, war es aber gar nicht: Mathilde Modersohn ist einundneunzig Jahre alt geworden. Über die Jahre hat das Denkmal etwas gelitten, unter dem Wind und Schnee von Worpswede.

Paula Modersohn-Becker schrieb am 24. Februar 1902 in ihr Tagebuch: »Ich habe manchmal an mein Grab gedacht … Es muß gar keinen Hügel haben. Es sei ein viereckig längliches Beet mit weißen Nelken umpflanzt. Darum läuft ein kleiner sanfter Kiesweg, der wieder mit Nelken eingefaßt ist, und dann kommt ein Holzgestell, still und anspruchslos, und da, um die Wucht der Rosen zu tragen, die mein Grab umgeben. Und vorne im Gitter, da sei ein kleines Tor gelassen, durch das die Menschen zu mir kommen, und hinten sei eine kleine anspruchslose stille Bank, auf der sich die Menschen zu mir hinsetzen. Es liegt auf unserem Worpsweder Kirchhof, an der Hecke, die an die Felder stößt, im alten Stück, nicht im Zipfel. Auf dem Grab stehen vielleicht zu meinen Häupten zwei kleine Wacholder, in der Mitte eine kleine schwarze Holztafel mit meinem Namen ohne Datum und Worte. So soll es sein. Daß da eine Schale stünde, in die man mir frische Blumen setzte, das wollte ich auch wohl.«

Leute, die sie besuchen, legen Blumen zwischen die Knie des Babys. Es gibt Rosen, ja, und Sträucher. In der Mitte des in den Granit gemeißelten Epitaphs sticht das Wort GOTT in Großbuchstaben hervor. Ein Deutsch sprechender Freund erkennt einen Bibelvers, Römer 8:28: »Denen, die GOTT lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.« Und das ihr, die den Namen Gottes niemals in den Mund nimmt, außer wenn sie Nietzsche liest.

Dieses Vorwegnehmen des Grabes: Ist das so seltsam, mit sechsundzwanzig Jahren? Otto hat seine erste und junge Ehefrau verloren: Versetzt es seiner zweiten und jungen Ehefrau da keinen kleinen Stich, als sie diesen Witwer heiratet? »Ich habe einen Kranz gelegt auf das Grab derer, welcher einst seine Liebe galt.«

Paulas »Vorahnungen« haben sie zu einer Figur der Romantik gemacht: das junge Mädchen und der Tod. In ganz jungen Jahren, wenn sie die Bilder in ihrem Kopf beschreibt, zögert sie, Tänze oder Beerdigungen zu malen, strahlendes Weiß und gedämpftes Rot … »Und wenn die Liebe mir noch blüht, vordem ich scheide, und wenn ich drei gute Bilder gemalt habe, dann will ich gern scheiden mit Blumen in den Händen und im Haar.«

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Paula ist ewig jung. Ein Dutzend Fotos sind von ihr geblieben.

Klein, zierlich. Runde Wangen. Sommersprossen. Mittelscheitel, schlaffer Dutt. »Von florentinischem Golde«, wird Rilke sagen.

Ihre beste Freundin, Clara Westhoff, schreibt im September 1898 auf, wie sie sich an ihre erste Begegnung erinnert: »Sie hatte sich für ihren kleinen Haushalt einen kupfernen Kessel reparieren lassen, den sie gerade abgeholt hatte und, während sie mir bei der Arbeit zusah, auf dem Schoß hielt. Er hatte die Farbe ihres schönen, reichen Haares, das in der Mitte gescheitelt locker zurückgelegt und in drei großen Rollen tief im Nacken aufgesteckt war, so daß es in seiner Schwere als ein Gegensatz wirkte gegen das leichte, helle Gesicht mit der schöngeschwungenen, feingezeichneten Nase, das sie mit einem genießerischen Ausdruck wie über eine Oberfläche hinaufhob und aus dem einen die sehr dunklen, blanken braunen Augen klug und belustigt anfunkelten.«

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An einem Sonntag im August 1900 sind die beiden Freundinnen zusammen, es ist Abend, Paula versucht zu lesen, hebt aber oft den Blick, es ist zu mild, das Leben ist zu schön, sie müssen tanzen gehen. Aber wohin? Die beiden jungen Frauen, in weißen kurzärmligen Kleidern mit abgenähter Taille und verhüllten Fesseln, irren durch das ausgestorbene Dorf. Der Himmel steht rot über Worpswede. Der Kirchhügel beherrscht das äußerst flache Land. Dann eine Eingebung – sie klettern auf den Kirchturm … schnappen sich die Seile, läuten die große und die kleine Glocke.

Skandal. Der Volksschullehrer kommt angerannt und nimmt gleich wieder Reißaus, als er die beiden erkennt: die beiden Bürgerstöchter, die beiden Künstlerinnen! Der Pastor zischt, außer Atem: »Sacrosanctum!« Eine kleine Menschenmenge sammelt sich in der Kirche. Die Brünjes, denen Paulas Atelier gehört, erfinden ein Alibi: »Fräulein Westhoff und Fräulein Becker? Unmöglich, die waren nach Bremen gegangen!« Martin Finke, der Bauer, »wollte fief Groschen geben, wenn er darbi wesen wäre«. Und die kleine Bucklige, die in der Hinterküche Kartoffeln schält, jubelt, als sie den Bericht von der Heldentat vernimmt.

Bitte sehr, so steht es in einem Brief von Paula an ihre Mutter, vom 13. August 1900. Wer seiner Mutter so schöne und so fröhliche Briefe schreibt, muss sie sehr lieben. Paula fügt eine Kohlezeichnung bei: sie selbst, die kleine Blondine, mit angespannten Armmuskeln und rausgestrecktem Hinterteil, an die riesige Glocke geklammert; und Clara, die große Brünette, Hände in die Hüften gestemmt, die sich vor Lachen ausschüttet. Die eine wird Otto Modersohn heiraten, die andere Rainer Maria Rilke. Die Malerin, jung gestorben, und die Bildhauerin, betagt und noch vergessener gestorben.

Clara und Paula sind sich im Zeichenkurs des gestrengen Fritz Mackensen in Worpswede begegnet. Sie werden beste Freundinnen, vor dem Hintergrund von Studium, Liebe und Missverständnissen. Nichts ist haltbarer als ein Missverständnis. Stellen wir sie uns vor, auf dem Heimweg von ihrem Kurs, in halsbrecherischer Schlittenfahrt. Stellen wir sie uns in Paris vor, später, sie bereiten fünf Flaschen Punsch und zwei Kuchen zu, Mandel und Erdbeer, für eine Studentenfeier. Und beim Kanufahren auf der Marne, Nachtigallen und Pappeln. Stellen wir sie uns in Montmartre vor, sie setzen sich lachend gegen eine Nonne zur Wehr, die sie bekehren will. Und dann, wie sie über die Pfade von Meudon sausen, unterwegs zu Rodin. Und stellen wir sie uns schließlich wieder in Worpswede vor, im Blick der beiden Männer, die sie wollen: der Maler Modersohn und der Dichter Rilke.

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In der Familie Becker schreibt man sich viel. Und so gibt es Briefe von Paula zu Hunderten, dazu ihr Tagebuch und ihr Poesiealbum. Paula ist das dritte der Becker-Kinder. Insgesamt sind sie zu sechst, ein siebter Bruder ist klein gestorben. Vater, Mutter, Onkel, Tanten, Brüder, Schwestern, alle schreiben sich, sobald sie nicht mehr beisammen sind, das ist eine Familienpflicht, ein Ritual, ein Liebesbeweis.

Mit sechzehn, als sie bei ihrer Tante Marie in England lernen soll, einen Haushalt zu führen, kommt Paula Becker früher zurück als geplant. Sie hat angefangen zu zeichnen, intensiver als geplant. Ihre Mutter ermutigt sie dazu und nimmt sogar einen Untermieter auf, um ihr den Unterricht zu finanzieren. Und ihr Vater betrachtet das nicht missbilligend, sondern als Weg zu einem Beruf, im Schuldienst. Im September 1895 besteht Paula ihre Prüfung zur Volksschullehrerin.

Aber sie fängt nicht gleich mit dieser Arbeit an, das nicht. Ein Onkel hat ihr ein Sümmchen hinterlassen, und sie geht nach Worpswede und investiert in Mackensen, dessen Kurse berühmt sind. Sie malt Körper, lernt Gesichter und Hände. Bemerkt die Missbildungen durch das Elend. Und macht kein sentimentales Motiv daraus. Sie malt, was sie sieht, sie wird auch Pariser Körper malen, und noch später ihren eigenen. Sie liebt starke Kontraste, manchmal umrandet sie in Schwarz. Sie wird sich zu einer Expressionistin entwickeln, und das wird den zarten Landschaftsmalern von Worpswede nicht besonders gefallen.

Und der Lokalkritik wird es erst recht nicht gefallen, als sie 1899 im Museum von Bremen ihre erste Ausstellung hat, zusammen mit Clara Westhoff (deren Skulpturen besser ankommen) und einer anderen Mackensen-Schülerin, Marie Bock. Ein gewisser Arthur Fitger empfindet vor ihren Bildern Ekel. Er würde gern mit dem »Wörterschatz einer reinlichen Sprache« darüber schreiben, aber ihm fallen nur »unreinliche« Wörter ein, dort will er keine Anleihen machen, voller »Entrüstung« und »mit dem Ausdrucke tiefen Bedauerns« über diese »unqualificirbaren Leistungen«, vor allem im Vergleich mit dem »wahren Kunstschatz des deutschen Volkes«. Carl Vinnen, ein bekannter Künstler des Ortes, versucht, die Entscheidung des Museums zu verteidigen, es hätte den »armen Worpsweder Damen« doch nur »die Verwaltung der Kunsthalle chevaleresk eins der Seitengelasse zur Verfügung gestellt«.

Im selben Jahr liest die arme Dame die Theaterstücke von Ibsen und das Tagebuch von Marie Bashkirtseff. Träumt davon, wie sie in Paris zu leben. Malt Modelle aus dem Dorf. Wird zu Künstlerabenden eingeladen, bei Otto Modersohn oder Heinrich Vogeler. Vogeler singt »nigger songs« zur Gitarre, es wird getanzt, und Paula weiß, dass ihr das neue grüne Samtkleid umwerfend gut steht und dass gewisse Menschen nicht den Blick von ihr lassen, das hält sie vor dem Einschlafen in ihrem Tagebuch fest.

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Ich weiß nicht, wie ich das nennen soll. Ich weiß nicht, ob man Verlieben dazu sagen sollte.

Paula Becker rutscht auf Otto Modersohn zu.

Zuerst hat sie seine Bilder gesehen, bei einer Ausstellung 1895 in Bremen. Sie schätzt deren »Wahrheit der Darstellung«, das war’s auch schon. Und als sie zum ersten Mal ihn selbst sieht, kommt dabei heraus: »Ich habe nur in Erinnerung etwas Langes im braunen Anzuge mit rötlichem Bart. Er hatte so etwas Weiches, Sympathisches in den Augen. Seine Landschaften, die ich auf den Ausstellungen sah, hatten tiefe, tiefe Stimmung in sich. Heiße, brütende Herbstsonne, oder geheimnisvoll süßer Abend. Ich möchte ihn kennenlernen, diesen Modersohn.« Es fällt ihr nicht leicht, in Worpswede Anschluss zu finden. Sicher, da ist Vogeler, ein reizender Maler, kaum älter als sie, aber Fritz Overbeck, ein weiterer Maler, zeigt ihr die kalte Schulter. »Modersohn aber hat mir riesig gefallen; durch und durch fein und gemütlich und mit einer Klangfarbe, zu der ich mein Geiglein spielen kann. Er ist mir schon so lieb aus seinen Bildern, ein feiner Träumer.« An seiner Meinung liegt ihr. Und von diesem Mann erzählt sie häufig ihrem Vater. Elf Jahre älter, »hat einen roten Spitzbart und ist siebzehn Zentimeter größer als ich. Er hat eine große tiefe Intensität des Gefühls … eine ernste, fast schwermütige Natur bei einer großen Freude an Sonnenschein und Frohsinn«. Das Abbild ihres Vaters. Auch auf Fotos: Die Ähnlichkeit – Stirn, Nase und Bart – wirkt wie abgepaust.

Nur in einem Brief an ihre Mutter erwähnt Paula die Gattin, Frau Modersohn, »eine kleine Frau … von gutem ursprünglichem Gefühl und Empfinden«. Paulas Briefe an Otto sind, das verlangt der Anstand, an Herrn und Frau adressiert, doch als sie nach Paris aufbricht, schreibt sie ihm, unter dem Vorwand, ihm ein Buch zurückgeben zu wollen, ihm allein, dass sie auf ein frohes Wiedersehen hofft.

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Paula beschließt, ein Geldgeschenk ihres Onkels Arthur für ihre weitere Ausbildung in Paris zu verwenden. Ihr Vater macht sich Sorgen. Tagebuch vom 5. Juli 1900: »Heute hat mir mein Vater geschrieben, mich nach einer Gouvernantenstelle umzusehen. Ich hatte den ganzen Nachmittag an der trockenen Sandkuhle in der Haide gelegen und Knut Hamsun ›Pan‹ gelesen.«

1900. Die Welt ist jung. Knut Hamsun schreibt von Vögeln und Sommerliebe, Grashalmen und großen Wäldern. Der geniale Verfasser von Hunger ist noch nicht der Nazi, der Goebbels seine Nobelpreis-Medaille offerieren wird. Und Nietzsche ist noch nicht von den Fürchterlichen eingemeindet worden. Man kann an die Herrschaft des Gottes Pan glauben, an die Natur und das Hier und Jetzt.

1900. Alles passiert 1900. Paula schreibt ihrem Bruder Kurt, dass sie nach einem jahrelangen Traum- und Schlafleben jetzt »eine plötzliche Entwicklung« erlebe, die sie, die Familie, womöglich erschreckt habe. Aber dass bestimmt etwas Feines daraus werde. An dem sie eines Tages ihre Freude haben würden. Sie sollen ihr einfach vertrauen.

Bremen–Paris, siebzehn Stunden im Zug. Paula teilt sich ihr Damenabteil mit einer Mademoiselle Claire, einer Cabaret-Tänzerin. Ihr Kollege, der draußen im Gang steht, »ein junger Mann von niggerhaftem Aussehen«, wagt nicht hereinzukommen, Paulas wegen. Aber auch unter ihrem »strengen deutschen Blick« hören sie nicht auf, zu plaudern und zu singen.

Klischees helfen bei der Wahrnehmung einer komplizierten Welt. Die Franzosen sind frivol und blasiert, schmutzig und geistreich. Dagegen die Deutschen: ehrlich und ernsthaft, sauber und langsam. Paula hat sich an der Académie Colarossi eingeschrieben, wo ihre Pariser Mitstudentinnen es wagen, das Werk Rodins, dieses lebenden Gottes, als hübsch zu bezeichnen, »c’est joli«. Wo es doch schön ist: »C’est beau, pas joli«! »Sie haben eben nichts Tieferes.«

Camille Claudel war an der Colarossi, und Jeanne Hébuterne, Modiglianis Geliebte, wird sich auch dort einschreiben. Hier dürfen die Studentinnen auch Aktmodelle malen.1 Die weiblichen Modelle posieren völlig nackt, die Männer in Unterhose. »Leider«, schreibt Paula an ihre Eltern, »posieren die Modelle hier alle. Ein jeder hat ein halb Dutzend Stellungen, die er allmählich an den Mann bringt.« Paula malt einen triumphalen Schnauzbartträger, in einen weißen Slip gezwängt, verschränkte Arme, gerecktes Kinn: Selbst nackt sieht er pariserisch aus.

An der École des Beaux-Arts belegt sie auch Anatomiekurse, die Kunsthochschule hat 1900 gerade eben ihre Türen auch für Frauen geöffnet.2 Viele Ausländerinnen haben sich eingeschrieben, Amerikanerinnen, Spanierinnen, Engländerinnen, Deutsche, Russinnen: In ihren Ländern finden sie nichts Gleichwertiges. Auch wenn die Leichen (gestellt von der École de Médecine) ihr Kopfweh verursachen, Paula schätzt diese Kurse sehr. Endlich begreift sie, was ein Knie ist, schreibt sie ihren Eltern. Diese legen eine große Offenheit im Denken an den Tag, sie haben akzeptiert, dass sie nach Paris gegangen ist. 1900 schreibt Kathleen Kennet, eine englische Studentin, mit einer gewissen Ironie: »Wer sagte, dass ein zwanzigjähriges Mädchen nach Paris gegangen war, um Kunst zu studieren, meinte damit im Grunde, dass sie unrettbar verloren war.« Paula jedenfalls findet: »Wir haben es glaube ich doch schwerer.« Denn von Frauen werden hübsche, ansprechende Bilder erwartet, während die Männer gern den Schuft spielen dürfen. Und dieses Paris ist, bei aller Schönheit, so verkommen! Abscheulicher Absinth-Dunst, Dreck überall, und Gesichter wie Zwiebeln. Ihr Vater beschwört sie, bloß nicht zu viel abends auf den Boulevards zu wandeln: »Was Du da siehst ist nicht schön.«

Ihr Zimmer liegt am Boulevard Raspail. Ausmaße: ein Bett lang, anderthalb Betten breit. Blumentapete. Ein Kamin, eine Paraffinlampe. Clara Westhoff ist ihre Nachbarin, sie studiert bei Rodin. Erste Anschaffung: ein Bett. Zweite Anschaffung: ein Besen. Alles schrubben, alles sauber machen. Jeden Sonntag kommt, für dreißig Centimes, eine Putzfrau. Paula bastelt sich Möbel aus Holzresten, die sie mit Kretonne bedeckt. Blumen kosten hier unglaublich wenig, Narzissen- und Mimosensträuße, acht Rosen nur fünfzig Centimes! Sie entdeckt eine Crémerie, wo man für einen Franc etwas zu essen bekommt, aber üppig ist das nicht. Sie nimmt ab. Eine Flasche Roten für sechzig Centimes, das hilft gegen Eisenmangel. Ihre Eltern schicken ihr deswegen auch extra Tabletten.

Der Louvre. Holbein. Tizian. Botticelli, sein großes Fresko, die fünf jungen Frauen in fließenden Gewändern, »da sank es wie Zentnerlast von meinem Herzen«. Und Fra Angelico. Mit ihm in der Gesellschaft der Heiligen sein. Und draußen die Seine sehen, in blauem oder goldenem Dunst. Die Akrobaten auf den Quais. Die Bouquinisten mit ihren ausgebreiteten Ständen. Corot und Millet in den Galerien. Auf der Rive Droite hat sie Clara etwas zu zeigen, beim Händler Vollard: An der Wand lehnen zahlreiche Bilder, sie dreht sie selbstbewusst um. Hier, sagt sie, gibt es eine neue Einfachheit zu entdecken: Cézanne.