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VERFEHLTE
ORTE

Christoph Geiser
Erzählungen

Die Vergrämung der Zauneidechsen ist – in unlektorierter Form – erstmals erschienen in der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter Nr. 223, September 2017, 55. Jahrgang, Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

Der Neandertaler von Darmstadt ist in gekürzter Form erstmals erschienen in Sinn und Form 70. Jahr/2018/2. Heft, Akademie der Künste Berlin

Erste Auflage
© 2019 by Secession Verlag für Literatur, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Alexander Weidel
Korrektorat: Kristina Wengorz
www.secession-verlag.com

ISBN 978-3-906910-51-2
eISBN 978-3-906910-52-9

1Die Vergrämung der Zauneidechsen

2Der Neandertaler von Darmstadt

3Carlchen – oder: Das Balkonzimmer

4Die falschen Toten von San Michele

5Step by Step

DIE VERGRÄMUNG DER ZAUNEIDECHSEN

Anlässlich der Exhumierung des Kopfes der 1991 in hundertelf Teile zerlegten und im Köpenicker Forst, dem sogenannten Müggelwald, entsorgten und später daselbst vergrabenen Statue Lenins, einem Denkmal, das seit 1970, zum hundertsten Geburtstag des russischen Revolutionsführers errichtet, den Leninplatz zierte und nach der sogenannten Wende, wie wir zu lesen Gelegenheit hatten, keinem öffentlichen Bedürfnis mehr entsprach, sind wir unter anderen auf den Begriff der Gigantothermie gestoßen, wie uns auch das von Robert Walser in seiner Erzählung Kleist in Thun verwendete Verb eidechseln plötzlich wieder einfiel; überhaupt haben wir uns aus genanntem Anlass ausführlich mit Eidechsen befasst, ja, mit Echsen überhaupt, den Sauriern, sowohl den echsenhüftigen als auch den vogelhüftigen, ausgehend in Sonderheit aber und vorab von den Zauneidechsen, diesen streng geschützten, und in Folge der Frage, ob diese nun eigentlich die geschrumpften Nachfahren der Saurier oder aber, nachdem ja die Vögel viel direkter mit den Sauriern verwandt zu sein scheinen als die heute lebenden Echsen und man sich den Tyrannosaurus Rex Tristan, dessen Skelett neuerdings im Naturhistorischen Museum zu Berlin ausgestellt ist, als monströses Truthuhn vorstellen muss, nicht vielmehr die Nachkommen der mythischen Drachen seien, Miniaturdrachen quasi. Und so wäre denn unsere Wiener Bronze, die wir vor Jahresfrist im Antikmarkt der Friedrichstraße für siebenhundert Euro gekauft haben und die seither unsere Bücherwand aus hellem Bergahorn bewacht, sollte sie denn, wie wir wähnen, einer Zauneidechse nachempfunden sein, ein kleiner Drache?

Der Unterschied zwischen Sauriern und Drachen ist nämlich quasi fundamental. Drachen kennt die Menschheit aus Erfahrung, Saurier hingegen nicht.

Was so ein Kopf nicht alles zueinanderfügt und somit bewirkt! Lenins Kopf erst. Und der entleibte erst recht. Nun aber mal schön der Reihe nach.

Als wir am 7. September 2015 bei Alfio oder im Samrat, dessen sind wir uns nicht mehr gewiss, wartend auf das Mittagessen wie immer den Tagesspiegel lesend, unter der Überschrift Jetzt nur nicht den Kopf verlieren, lasen, dass der Kopf des Lenindenkmals – als Exponat einer Dauerausstellung über Berlins Denkmäler unter dem Titel Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler – ausgegraben und in die Zitadelle Spandau, in welcher heute, wie man liest, die Fledermäuse überwintern, überführt werden soll (jene Zitadelle, die wir, wie so viele Ortsfremde, zunächst mit dem Kriegsverbrechergefängnis Spandau verwechselten, das inzwischen geschleift ist und in welchem Speer und die Seinen einsaßen, und bis zuletzt noch Rudolf Hess, bevor dieser sich mit über neunzig Jahren unter Zuhilfenahme eines Elektrokabels strangulierte), da fiel es uns plötzlich wie Schuppen von den Augen: Der Platz der Vereinten Nationen ist’s! Und die drei Hochhäuser stehen noch immer – ja, sind sogar unter Denkmalschutz gestellt! –, und der Leninplatz 1, wo wir damals – war’s 72, 73, oder doch erst 74? – unseren Hauptstadtkorrespondenten, den wir unter dem Decknamen Hans der Schlimme führten, besucht haben, ist somit heute mutmaßlich der Platz der Vereinten Nationen 1, was vergleichsweise plump klingt, banal, schlicht.

Ein Denkmal, übrigens, das zerlegt und vergraben wurde, gilt, laut Berliner Denkmalverordnung, nicht mehr als Denkmal, sondern als Bauschutt und somit nicht mehr als denkmalgeschützt.

Oder sollten wir nicht doch lieber mit den Zauneidechsen beginnen, diesen laut Bundesnaturschutzgesetz streng geschützten Wesen, statt mit unserem Besuch beim schlimmen Hans, diesem mutmaßlichen IM Erwin?

Der Name Zauneidechse, lesen wir auf www.reptilien-brauchen-freunde.de, verweist auf bevorzugte Aufenthaltsgebiete der Tiere, namentlich Grenzstrukturen und Übergangsbereiche. Sehr treffend sei auch das französische lézard des souches – »Eidechse der Baumstümpfe«. Das niederländische zandhagedis und das englische sand lizard verweisen auf häufig besiedelte Böden. Der lateinische Artname Lacerta agilis lautet übersetzt flinke Eidechse. Zauneidechse, Sandeidechse, flinke Eidechse – es eidechselt da so entlang an Säumen von Waldrändern, in Hecken und an Zäunen, allgegenwärtig einstmals, heißt es, anspruchslos im Grunde. Ein wenig Sand für die Eiablage; leicht lockerer und gut zu durchgrabender Boden; eine nicht ganz geschlossene Krautschicht, Sonnenplätze, ein Baumstumpf; oder etwas Gestrüpp und ein paar Sträucher oder Bäume als Deckung und Überhitzungsschutz. Das genügt zum Leben! Kräftig gebaut ist sie, diese Zauneidechse, mit recht massigem, vom Rumpf deutlich abgesetztem Kopf und oftmals mit sogenannten Augenflecken an den Flanken, die aus dunklem Grund und hellem Punkt bestehen. Vor allem diese Augenflecken und der massige, deutlich vom Rumpf abgesetzte Kopf sind es, die uns denken lassen, unsere Wiener Bronze sei als Denkmal einer Zauneidechse gedacht, auch die Größe könnte in etwa stimmen, circa fünfundzwanzig Zentimeter mit unversehrtem Schwanz, ein sehr großes, mutmaßlich männliches Exemplar. Insgesamt, so lesen wir, seien die bei Zauneidechsen auftretenden Zeichnungsmuster überaus vielfältig und dienten, da die hellen Linien und farbigen Punkte auf dem Rücken zeitlebens erhalten blieben, gleich einem Fingerabdruck der lebenslangen Wiedererkennbarkeit der einzelnen Tiere.

Anspruchslos, sagten wir? Und wenig genüge fürs Leben? Selbst so bescheidene Ansprüche ans Leben, wie oben beschrieben, lesen wir, seien jedoch heutzutage oftmals zu viel verlangt vom Leben. Mit dem Verschwinden von Säumen an Waldrändern nämlich und unbefestigten Wegen, von Heckenlandschaften, Ackerrainen und ähnlichen Lebensräumen verschwand auch die Zauneidechse aus vielen Gegenden. Schuld daran, wer will’s bezweifeln, sei der Mensch mit seiner raumgreifenden Zivilisation. Der Ausbau von Fließgewässern, der Verlust von Ödland, der Ausbau von Verkehrswegen, die Rekultivierung von Abgrabungen, die Bebauungen von südexponierten Hängen und Dünen und vieles mehr entziehen den Tieren ihren Lebensraum. Aufgrund der Unscheinbarkeit der Lebensräume und der guten Tarnung der Eidechsen erfolgt dies oft unbemerkt. Nährstoffeinträge tragen durch Düngung zum Verlust von vegetationslosem Boden und somit zum Verlust der Eiablageplätze bei; dies kann, so lesen wir, zu einem langsamen Erlöschen der Bestände führen, zum Ende allen Eidechselns schlussendlich womöglich, sodass dann ausgeeidechselt wäre, und so verwundert es nicht, dass die Zauneidechse mittlerweile auf den Roten Listen der meisten Bundesländer geführt wird.

Die besondere Biologie der Zauneidechse und ihr strenger Schutz erweisen sich bei Bau- und anderen Vorhaben gern als Problem. Leider, so müssen wir lesen, existieren sehr fragwürdige Empfehlungen, die vorgeblich dem Artenschutz dienen, tatsächlich aber nur Vorhabensträgern helfen. Dazu zählen zum Beispiel falsche Angaben zur Biologie, sehr fantasievolle Interpretationen der Rechtslage, pseudowissenschaftliche Berechnungen und Korrekturfaktoren zur Verringerung des Flächenbedarfs für Ausgleichsmaßnahmen und nicht zuletzt kaum verbrämte Vorschläge, die Tiere vorab doch einfach zu töten …

Wer nun aber vorhat, Lenins Kopf zu exhumieren, ist freilich nicht nur ein Vorhabens-, sondern auch ein Verantwortungsträger – trägt, meine ich, nicht nur ein Vorhaben mit sich herum oder führt es quasi im Schilde, sondern trägt auch Verantwortung nicht nur für den Fortschritt der Menschheit und den Fortbestand der Welt, sondern ebenso für den Fortbestand der Zauneidechsenpopulation! Wer will’s denn bezweifeln? So dürfen wir mutmaßen, dem siebzehnseitigen Bergungskonzept samt sechsseitigem Anhang sowie der zwölfseitigen Expertise eines ungenannten Diplombiologen zur Umsiedlung der Zauneidechsen und der siebenseitigen Ausnahmegenehmigung der Obersten Naturschutzbehörde hätte, neben vielen anderen Entscheidungsgrundlagen, auch die sogenannte Handreichung der Reptilienfreunde mit dem Titel Zauneidechsen im Vorhabensgebiet – was tun?, Schneeweiss et al. 2014, als PDF-Datei kostenlos herunterzuladen, zugrunde gelegen.

Zauneidechsen nämlich sind heutzutage insbesondere an Waldrändern und auf Lichtungen, auf Halbtrockenrasen und Heiden, in Dünen und auf Felskuppen zu finden. Und quasi unseligerweise liegen Lenins hundertelf Trümmer, sorgfältig nummeriert, ausgerechnet auf einer Waldlichtung, ursprünglich frei herumliegend, 1992 aber zugeschüttet, seither folglich unter einem Hügel aus märkischem Sand. Grabhügel in einer Waldlichtung, sonniger Sandhügel, ideales Habitat für unsere Echsen! Für Männchen wie Weibchen, Paarungsmarsch wie Paarung, Eiablage wie Schlüpfling, für Kommentkämpfe, Imponiergehabe, Demutsgesten, sogenanntes Treteln, dieses ganze stark ritualisierte Sozialverhalten der Zauneidechsen. Und ausgerechnet da soll man nun buddeln, vorfahren mit schwerem Raupengefährt und Tieflader, denn der Abtransport der Nummer 16 mit geeignetem Helikopter, der, weiß Gott warum, aus Bayern hätte angefordert werden müssen, hätte den Steuerzahler vierhundertsechzigtausend Euro gekostet, und das war Lenins Kopf, diese genau drei Komma neun Tonnen schwere Altlast aus ukrainischem Marmorgranit, der öffentlichen Hand nun doch nicht wert. Und hätte, überdies, die gezielte Vergrämung der Zauneidechsen gar nicht erübrigt. Gebuddelt werden musste ja so oder so, und drei Tage lang! Und dafür braucht’s einen kleinen Kettenbagger. Und selbst wenn die genaue Lage von Teil Nummer 16 bekannt war, wie man liest, obenauf nämlich und mittig, so wären bei diesem drei Tage langen Buddeln und Baggern unverantwortlich viele Individuen der streng geschützten Zauneidechse zu Schaden gekommen. Ihr Leben gelassen hätten die Individuen – zerquetscht von metallenen Panzerraupen, erdrückt von Arbeitsstiefeln, erschlagen von der Baggerschaufel und nicht von Lenins Trümmern, was zu sagen uns sehr gefiele, aber die Lage des Kopfes war ja, wie zu lesen ist, bekannt.

Wie jedoch, fragen wir nun zu Recht, werden Zauneidechsen eigentlich vergrämt? Als wären’s Bären oder Wölfe, mit Steinwürfen und Warnschüssen? Wo nur denken wir hin!

Nein, mittels eines circa fünfzig Zentimeter hohen Fangzaunes aus Folien und im Sand vergrabenen Puddingbechern – denn Lenins Grabhügel sei, so argumentiert der Diplombiologe, wie wir im Tagesspiegel zu lesen Gelegenheit hatten, zu attraktiv für Zauneidechsen, als dass sie ihn freiwillig räumen würden – vergrämte nun Oberförster Karl-Heinz Marx, zuständig für den Köpenicker Forst, zu welchem auch der Müggelwald gehört, und folglich die Lichtung mit Lenins Sandhügel, mitunter, so schreibt der Tagesspiegel, erlaubt sich der Weltgeist ein Späßchen, den Sommer über, vornehmlich in den Monaten Juli und August, die Zauneidechsen. Heißt, Oberförster Marx sammelte täglich vergrämte Echsen in den Puddingbechern ein und trug sie weg von Lenins Hügel, möglichst weit weg trug er sie, wohin ist nirgends zu lesen, an einen anderen, ebenso geeigneten Ort irgendwo im Müggelwald oder im weiteren Zuständigkeitsgebiet des Försters des Köpenicker Forsts, auf eine eigens dafür freigelegte Fläche. Dass sie nicht wiederkämen, bevor Trümmerteil Nummer 16 dem Hügel entnommen und die Wunde im Wald gemäß Bundesbodenschutzgesetz mit nährstoffarmem Z0-Boden wieder zugeschüttet wäre über den verbleibenden hundertzehn Teilen respektive Trümmern Lenins. Eine erfolgreiche Beendigung der Vergrämung, schreibe die Naturschutzbehörde, schreibt der Tagesspiegel, liegt vor, wenn zwei Wochen lang kein Individuum mehr in den Eimerfallen am Fangzaun vorgefunden wurde. Sollte freilich während des Vorganges der Exhumierung von Lenins Kopf urplötzlich eine Eidechse im Bereich des Hügels erscheinen – denn es gelte, so lesen wir, bei den wechselwarmen Reptilien gerade an kühleren Tagen die Devise Brüder, zur Sonne, zur Freiheit –, so müsse die Grabung nicht abgebrochen werden: Denn, so heiße es in der Ausnahmegenehmigung der Naturschutzbehörde, eine unvermeidliche, während des Baugeschehens erfolgende Tötung einzelner Individuen, welche sich der zuvor erfolgten Vergrämung entzogen haben, werde dank des insgesamt vergrößerten Lebensraumes ausgeglichen.

Wo, fragen wir uns jetzt plötzlich, und wie denn nur, wurde hier der Lebensraum der Zauneidechsen durch die Entnahme von Lenins Kopf, diesem Trümmerteil Nummer 16, vergrößert? Oder haben wir da etwas übersehen respektive überlesen? Es sei denn, die eigens freigelegte Fläche an einem geheim gehaltenen Ort im Wald, wo Oberförster Marx die Vergrämten hintrug, gelte als Vergrößerung des Lebensraumes der Zauneidechsen im Köpenicker Forst; und so wird’s wohl auch sein. Und damit wären sie fürs Erste weg, die Echsen, vergrämt zunächst und dann umgesiedelt, und also wäre nun auf der Lichtung, als wäre sie eine Bühne, ein kleiner Bio-Bagger vorgefahren, geschmiert mit biologisch abbaubaren Mitteln, so lesen wir, und versehen mit besonders langem Greifarm, der sich mit jeder Schaufel voll Aushub direkt zu dem bereitstehenden Container drehen konnte, ohne über den Boden fahren zu müssen und diesen dabei zu verdichten (vernichten, so lasen wir zunächst; nicht ganz zu Unrecht, denn eine Verdichtung des Bodens kommt einer Vernichtung seiner lockeren Struktur gleich und damit der für die Eiablage der Zauneidechsen, sollten sie denn wiederkommen, geeigneten Bodenbeschaffenheit). Und eine mobile Toilette wäre aufgestellt worden, so’n Metallhäuschen, von der Firma Olymp womöglich, vorschriftsgemäß, für die Ausbuddelnden, denn vier Mitarbeiter waren vorgesehen, für drei Tage, damit es nicht stinke und Fäkalbakterien und Harnsäure uns nicht den Boden vergifteten. Und so wäre nun gleich losgebaggert worden? Wo denken wir hin … und wie sollten wir uns das vorstellen? Erst mal den Bereich auf dem Hügel abstecken, wo Lenins Kopf mutmaßlich ruht. Ja, ruht. Seitlich auf der rechten Wange liegend, stellen wir uns vor, so wie wir ihn daliegen sahen auf der kleinen Fotografie, 1991 fotografiert, als Lenins Trümmer ebenda noch offen herumlagen, noch nicht mit Sand zugeschüttet waren. Als schliefe er. Ernst, aber friedlich. Dennoch ist die Bruchstelle sichtbar am Hals, nein, kein scharfer Schnitt – als wär’s geschehen mit der Guillotine, dem Henkersbeil oder dem Schwert der Justitia –, sondern wie ausgefranst, voller Zacken und Brüche, eher doch abgerissen als abgeschlagen mit einem gezielten Stoß, und also beinahe an einen Unfall mit dem Strang erinnernd. Sodass uns plötzlich jenes Bild Saddams vor Augen tritt, er im Mantel, genau in jenem Augenblick, da ihm schwarze Kapuzenmänner eine armdicke Schlinge um den Hals legen … nein, viel genauer eigentlich wäre jenes Bild, das wohl ein paar Minuten später zum Beweis des guten Gelingens hatte aufgenommen werden müssen – und das wir soeben jetzt im Netz gefunden haben bei der Verifizierung unsrer Erinnerung an das erstgenannte Bild: Saddams Haupt, seitlich auf der rechten Wange liegend, mit der großen, roten, blutigen Wunde am Hals … (auch wenn, nach unsrem Wissensstand, nicht Saddam, sondern seinem Chemie-Ali, einem Cousin, wenn mir recht ist, oder Schwager, geschwächt schon und ausgezehrt von einer tödlichen Krebserkrankung, beim Vorgang der Hinrichtung durch den Strang versehentlich der Kopf abgerissen wurde). Unser Wladimir Iljitsch guillotiniert, enthauptet, geköpft, aufgehängt, stranguliert, fehlerhaft womöglich, als wär’ er ein x-beliebiger Chemie-Ali, kleiner Cousin oder Schwager Saddams, dieses schlichten Tyrannen?! Wo denken wir nur wieder hin … Mumifiziert! Einbalsamiert! Nach dem letzten Schlaganfall, dem achten, von Neurolues und einer bleiernen Attentatskugel im Kopf schon geschwächt. Hilfloses Männchen, ausgezehrt, im Rollstuhl zuletzt!

Ruhend, sagten wir? Wie schlafend; ernst aber friedlich. Heroisch! Über die Köpfe der Massen hinweg, aufrecht, neunzehn Meter hoch – allein der Kopf fünf Zentimeter größer als das leibhafte Männchen, so lesen wir, nämlich ein Meter siebzig –, auf den Bildern von damals. Nicht in seinem Schatten damals, nein, über seinen Kopf hinweg haben wir konspiriert, konferiert oder korrespondiert … 72 oder 73, oder doch erst 74? … egal! Als Lenin noch dastand, neunzehn Meter hoch, aufrecht, heroisch. Als der antifaschistische Schutzwall noch stand und Republikflucht als Fahnenflucht galt vor dem Freund.

An den steinernen Freund allerdings erinnern wir uns nun seltsamerweise, wie mir eben auffällt, nicht mehr. Nur an einen kleinen Park am Rande des Leninplatzes mit Sandhügeln, einem Spielplatz, jungen Bäumen, beinahe einem Wäldchen, weil wir darin lustwandelten. Kein rötlicher Lenin aus ukrainischem Granit – Kapustino-Granit genauer, wie wir es eben, die Baugeschichte und Architektur des Leninplatzes eindringlicher recherchierend, bei Wikipedia lesen –, nein, in unserem optischen Gedächtnis weder Lenin noch Kapustino.

Kapustino, so weiß Wiki, ist ein roter Granit, der in der Zentralukraine in der Oblast Kirowohrad nördlich der Stadt Nowoukrajinka bei der Ortschaft Slynka, früher Kapustino, gebrochen wird und vor dreihundert Millionen Jahren im Oberkarbon entstand, am Ende des Paläozoikums, jenes Erdaltertums also, da kurz nach der großen ökologischen Katastrophe unbekannter Ursache, die fünfundsiebzig bis neunzig Prozent aller Tier- und Pflanzenarten vernichtete, dem größten bekannten Massenaussterben der Erdgeschichte, mit Macht die Saurier den Erdboden betraten und mit ihren widerhallenden Schritten ein neues Zeitalter quasi einläuteten. Kapustino-Granit, so lesen wir weiter, besteht aus hochroten, bis zu fünf Zentimeter großen Kalifeldspäten, die von richtungslosen Haarrissen durchzogen sind. Zwischen den Feldspäten befindet sich graudurchsichtiger Quarz, wenig heller Plagioklas und Biotit, sogenannter Dunkelglimmer, der auch in großen Feldspat- und Quarzkristallen eingelagert sein kann.

Während der Karbon-Formation – im Zeitalter der Farne, Schachtelhalme und Ammonshörner also, ergänzen wir im Geiste – entstand das Variszische Gebirge, das bis in den Osten Europas tektonische Auswirkungen zeitigte. Im Prozess dieser Gebirgsbildung, so heißt es weiter, seien in die Erdkruste Plutone eingedrungen, die im Laufe von Jahrhunderten oder Jahrtausenden, wissen wir das?, erkalteten. Ein Hinweis darauf, dass das Pluton des Kapustino über lange Zeiträume hinweg erkaltete, sei, dass sich große Mineralkörner hätten bilden können. Die darüberliegenden Gesteinsschichten seien im Verlauf der Zeit erodiert, womit das Vorkommen freigelegt wurde, das im Tagebau nun abgebaut wird.

Dieser Granit wird weltweit exportiert und, so erfahren wir weiter und kehren zu unserem steinernen Freund zurück, insbesondere in Deutschland, häufig für Fassaden und Grabmale verwendet, aber auch für Boden- und Treppenbeläge, Arbeitsplatten in Küchen und Waschtische. Glänzend poliert, so stellen wir die Abbildungen betrachtend fest, wirkt Kapustino-Granit beinahe wie Marmor – dank seiner Maserung –, und so erklärt sich uns jetzt endlich, warum in jenem Artikel des Tagesspiegels von Marmorgranit die Rede ist, ein Begriff, den nicht einmal Suchmaschinen zu finden in der Lage sind und der uns als Widerspruch in sich, als quasi klassische contradictio in adiecto erschien. So hätten wir auch dieses Rätsel gelöst – wobei sich sofort ein neues Rätsel stellt, weil wir beim Surfen im Netz zwischen Erdgeschichte, Geologie und Leninplatz durch Wiki auf hundertneunundzwanzig Trümmer Lenins stießen, statt auf hundertelf, wie der Tagesspiegel behauptet; als vervielfachten sich während des Surfens die Trümmer nicht nur von Lenin.

Seltsamerweise sagten wir eben, bevor wir in die Erdgeschichte quasi exkursierten oder abdrifteten? Kein Wunder, nein, dass uns Lenin in unsrer Wahrnehmung damals und in unsrem Gedächtnis heute zumindest optisch vernachlässigbar zu sein schien und scheint, wurden wir doch im obersten Geschoss des fünfundzwanzigstöckigen Hochhausturmes empfangen, einer in Großplattenbauweise errichteten Weiterentwicklung des Typs WHH GT, wie wir bei Wiki zu lesen Gelegenheit haben, und zwar im höchsten der drei in einer Länge von fünfundsiebzig Metern von Nord nach Süd abgestuften Hochhäuser, denn wir zweifeln mitnichten daran, dass die Residenz unseres Korrespondenten zuoberst im höchsten der Hochhäuser lag, mit Balkon ohne Zweifel und Aussicht hoch über Lenin hinweg und das Erdenrund der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik bis hin zum Horizont: hinter dem Niemandsland lag; Finsternis; der Orkus; Abgründe; als wär’ das Erdenrund noch immer n’ Teller. ’ne Scheibe. ’ne Untertasse, die nicht fliegt. Empfangen seien wir worden, sagen wir? Abgeholt, heißt in Empfang genommen am Flughafen der Hauptstadt, eingeflogen mutmaßlich mit einer mittlerweile längst kapitalistischen Strukturbereinigungen zum Opfer gefallenen, heißt abgewickelten Fluggesellschaft von damals noch nationaler Bedeutung – nachdem wir auf der VIP Lane mausallein an den murrenden Massen, die vor den Schaltern der Grenz- und Zollorgane Schlange zu stehen hatten und die tatsächlich, als sie uns da so mausallein auf der Überholspur sahen, zu murren begannen und uns ohne Zweifel bösgemeinte Blicke zuwarfen, vorbeigeschritten waren – ja schritten wir denn? Eidechselten wir nicht viel mehr vor Scham, so bloßgestellt in unsrer zweifelhaften Privilegierung, auf den Hauptstadtkorrespondenten unsres Zentralorgans zu, den wir schon von fern, ebenso mausallein, am Ende der VIP Lane winken und lächeln sahen – abgeholt sage ich, item!, empfangen am Ende der VIP Lane, als Genosse, von unsrem Genossen, diesem garstigen Hans, diesem zumindest unartigen Spitzbuben oder Bösewicht, oder wie auch immer man villain (oder vilain) übersetzen mag, der natürlich weder Hans hieß noch Jean; und erst recht nicht Villain, was wir natürlich wussten, und auch gar nicht erst Erwin, wie ihn die Genossen vor Ort heimlich nannten, was wir nicht wussten – ja tatsächlich wussten wir nichts von Erwin, nein, erst im Nachhinein, da wussten wir dann, warum ihn die heimlichen Genossen so nannten: Egon Erwin wäre mutmaßlich zu unheimlich gewesen; nicht heimlich genug, meine ich. Der rasende Reporter war doch sein großes Vorbild. Item! Umarmten wir uns, brüderlich, am Ende der Strecke? Genossen und Eidgenossen zugleich, beide. Chauffiert wurden wir sogleich an den Leninplatz 1 – aber womit chauffiert? Trabi oder Wartburg? Oder ein extraterrestrisches Gefährt, ein quasi extraterritoriales, meine ich – privilegierter Ausländer (oder schon Doppelbürger?), der man doch war. Und – auf welchem Weg? Keine Erinnerung mehr, nicht ans Gefährt, nicht an den Weg, nicht einmal mehr an den Flug – als wären wir aus unsrer Trance – oder war’s Stupor? Betäubung? Blendung, oder wollen wir sagen Verblendung? – nach einem kurzen wachen Augenblick am Flughafen Schönefeld – erst im fünfundzwanzigsten Stockwerk des Hochhausturmes am Leninplatz 1 so richtig erwacht und zu uns gekommen; und zwar in der Küche. Eine moderne Einbauküche, geräumig, Arbeitsfläche übers Eck, aus Naturstein in unsrer Erinnerung, womöglich aus Kapustino-Granit.

Die Küche? Wo lag die Küche, im fünfundzwanzigsten Stockwerk? Mit Aussicht worauf … rechts, in unsrer Erinnerung, rechts müsste das Fenster gelegen haben … das Fenster mit Ausblick auf diesen weiten Horizont über die Hauptstadt … Helligkeit im rechten Augenwinkel unsrer Erinnerung …

Ein Augenschein ist ja längst fällig geworden. Vom Alexanderplatz aus mit der Metrotram Linie 5 Richtung Hohenschönhausen bis Haltestelle Platz der Vereinten Nationen, doch wir stiegen schon eine Station vorher aus, an der Büschingstraße, um auf den einstigen Leninplatz gewissermaßen zuschreiten zu können, am späten Nachmittag, einem strahlend schönen Herbsttag, ein Vierteljahrhundert nach dem Untergang des Sozialismus, genauer gesagt fünfundzwanzig Jahre nach der Abwicklung der DDR, ziemlich genau am Wochenende des fünfundzwanzigjährigen Jubiläums der sogenannten deutschen Einheit. Am 1. Oktober 2015 genau, einem Donnerstag.

Nur den Hochhausturm finden wir in unserer Erinnerung wieder, beinahe unverändert; die drei Hochhäuser, abgestuft von links nach rechts, so wie wir jetzt darauf zuschreiten. Dichter Baumbestand links, dichtes Geäst, dichtbelaubt, dort, wo wir in unserer Erinnerung den kleinen Park mit jungen Bäumen sehen. Volkspark Friedrichshain genannt, eine große Parkanlage, die jetzt bis zu dem Hochhausturm reicht. Wo Lenin stand, da liegen jetzt in der Mitte einer kleinen Grasfläche Gesteinsbrocken, von Wasser überplätschert, von Wasser umspielt. Findlinge, wie’s scheint. Hier und da an den Brocken eine Messingtafel: Südafrika oder Brüssel steht auf ihnen angeschrieben, nebst Angabe einer Entfernung, hier und da ist der Fundort des Findlings angegeben, hier und da lesen wir Kilometerangaben, Australien 9.100 km. Die Welt steht offen! Und die Nationen sind vereint – mögen sie noch so weit auseinanderliegen, mögen die Entfernungen noch so groß sein: Kein Grenzwall trennt einen mehr, keine Mauer hindert einen zu gehen, wohin er will … Das Wasser freilich hindert uns, zwischen den Steinen einherzugehen; ein Brunnen, eigentlich, gedacht als Brunnen, doch ohne Becken; nur ein Steinboden, womöglich aus Kapustino-Granit, auf dem die Findlinge stehen, von Wasserrinnsalen umspielt … ein Brunnen? … als wäre von Lenin das Fundament geblieben und mit ihm die groben Trümmer eines steinernen Sockels.

Das weiße Vordach, das sich über den Eingangsbereich der drei Hochhäuser erstreckt, gab’s schon damals, man sieht es auf den alten Bildern; das Sofia gab es noch nicht. Zwei, drei alte Ehepaare, Rollatoren, auf dem Vorplatz. Doch bevor wir uns auf eines der Caféstühlchen in die Sonne setzen, wollen wir doch den Eingangsbereich der Nummer 1 rekognoszieren, Platz der Vereinten Nationen 1 jetzt. Die 1 steht groß an der Glasscheibe über der Doppelglastür, die nicht verschlossen ist. Unbemerkt einschleichen kann sich da niemand – unübersehbar auf seiner Kommandobrücke, heißt hinter der Theke des Empfangs, altmodisch eher: nicht hinter Glas, im Grunde am ehesten vergleichbar mit der Ticketkasse eines Museums oder schlicht mit einer Hotelrezeption (warum aber fiel uns Hotelrezeption nicht gleich ein? Weil die charakteristischen Schlüsselfächer an der Rückwand fehlen?), der Concierge in seiner Loge, den Eingangsbereich voll im Blick! Wir schauen uns um, etwas verlegen, hilflos, denn ja, was wollen wir hier denn?, das Schaltpult des Klingelpanels gleich links neben der Doppelglastür im Inneren allerdings ist sehr modern. Fremdländische Namen, großmehrheitlich … Kann ich Ihnen behilflich sein? Eigentlich war’s erwartbar; eigentlich war’s ja nur eine Frage der Zeit. Niemand kann sich hier unbemerkt ziellos nur umschauen … Einen Augenblick lang dachten wir, der Herr (weißes Hemd, roter Schlips, kein Sakko, denn es war doch sonnig warm), sei blind; konnte aber nicht sein, denn dann hätte er den falschen Job. Er blickte uns jedoch nicht an, als er uns ansprach, sondern sah die ganze Zeit über, während wir sprachen, nach oben zur Decke (als gelte es, dort etwas im Auge zu behalten), eher noch möchte man seines starren Blickes wegen sagen, zu einem imaginären Himmel – himmelwärts blickte er, starr und stur, während er uns direkt ansprach. Schielend? Sehbehindert? Oder ein Tick – eine Manie? Dunkler Rundbart. Höchstens fünfzig. Gedrungen, massig. Wir fragten, nur um irgendetwas zu fragen, und möglichst unverfänglich, ob wir denn richtig in der Annahme lägen, dass es sich hier um die ehemalige Adresse Leninplatz 1 handelte. Es wurde uns bestätigt. Dann, um noch irgendetwas weiteres Unverfängliches zu fragen, fragten wir nach dem Weg zum Strausberger Platz, und ob’s denn weit wäre zu Fuß. Nein, nein, nur da am Reichelt vorbei, dann kommen Sie direkt darauf zu, fünf Minuten Fußweg. Freundlich. Aber unzweifelhaft sehbehindert. Einen Augenblick lang die Versuchung, weitere Fragen zu stellen, weniger unverfängliche. Hätte er unseren Korrespondenten noch kennen können, war er womöglich in diesen Häusern aufgewachsen? Ein dramatisch effektvoller Dialog wäre vorstellbar, hätte er denn unsren garstigen Hans gekannt … Blockwart, damals? Nein, nicht möglich. Oder: Wer wohnt denn da? Wie käme man denn heute in den Genuss einer derartigen Wohnlage, denn die Lage schien uns doch ein Genuss … Doch wir beließen es dabei. Aus Scheu, aus Furcht, aus Verlegenheit oder vielleicht auch einfach aus Trägheit. In die Sonne wollten wir uns setzen, an ein bulgarisches Caféhaustischchen vor dem Hochhausturm am Leninplatz 1!

BgBulgarisch