Philippe Lançon

Der Fetzen

Roman

Aus dem Französischen
von Nicola Denis

Impressum

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Tropen

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Le Lambeau«

© Editions Gallimard, Paris, 2018

Für die deutsche Ausgabe

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München, unter Verwendung
einer Abbildung von © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 / 
Hermann Nitsch, Schüttbild, 1990 (oil and blood on burlap),
Nitsch, Hermann (b. 1938) / Private Collection / 
Foto © Christie’s Images / Bridgeman Images

Datenkonvertierung: Tropen Studios, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50423-1

E-Book: ISBN 978-3-608-11536-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Manche Vornamen wurden geändert, so wenig wie möglich.

Kapitel 1

Was ihr wollt

Am Vorabend des Attentats war ich mit Nina im Theater. Wir sahen uns in einem Pariser Vorort im Théâtre des Quartiers d’Ivry Was ihr wollt an, ein Stück von Shakespeare, das ich nicht kannte beziehungsweise nicht mehr in Erinnerung hatte. Der Regisseur war mit Nina befreundet. Ich war ihm noch nie begegnet und wusste nichts von seiner Arbeit. Nina hatte darauf bestanden, dass ich mitkam. Sie freute sich, dass sie zwischen zwei Menschen, die ihr wichtig waren, einem Regisseur und einem Journalisten, vermitteln konnte. Ich begleitete sie ganz zwanglos. Es war kein Artikel geplant – immer die beste Voraussetzung, um schließlich doch einen zu schreiben, aus purer Begeisterung und Überraschung. In solchen Fällen trifft der frühere junge Theaterbesucher den späteren Journalisten. Nach einem mehr oder minder langen Moment der Verunsicherung, der Schüchternheit und gegenseitigen Annäherung steckt ersterer den anderen mit seiner Spontaneität, Unsicherheit und Unvoreingenommenheit an, bevor er den Saal verlässt, damit der andere mit dem Stift in der Hand wieder arbeiten und – leider – auch ernsthaft werden kann.

Ich bin kein Spezialist, obwohl ich immer gerne ins Theater gegangen bin. Ich habe nie fünf oder sechs Abende pro Woche dort verbracht und halte mich nicht für einen echten Kritiker. Ursprünglich war ich Reporter. Ich bin aus Zufall Kritiker geworden und bin es aus Gewohnheit, vielleicht auch aus Gedankenlosigkeit geblieben. Mithilfe der Kritik konnte ich das, was ich sah, denken – oder zu denken versuchen – und ihm mit dem Schreiben eine ephemere Form verleihen. Sie ist das Ergebnis einer zugleich oberflächlichen (mir fehlen die nötigen Referenzen für ein fundiertes Urteil) und inneren Erfahrung (ich kann nichts lesen oder sehen, ohne es an sehr persönlichen Bildern, Träumereien und Assoziationen zu messen). Ich glaube, ich habe mich freier gefühlt, als mir das klargeworden ist.

Hilft mir die Kritik beim Kampf gegen das Vergessen? Natürlich nicht. Ich habe viele Aufführungen gesehen und viele Bücher gelesen, an die ich mich nach dem Verfassen eines Artikels nicht mehr erinnere, vermutlich weil sie kein Bild, keine wirkliche Emotion in mir heraufbeschwören konnten. Schlimmer noch: Oft vergesse ich sogar, was ich geschrieben habe. Wenn einer dieser Phantomartikel zufällig wieder an die Oberfläche steigt, erschrecke ich immer ein bisschen, als wäre er unrechtmäßig von einem anderen unter meinem Namen verfasst worden. Dann frage ich mich, ob ich nicht geschrieben habe, um das Gesehene oder Gelesene schnellstmöglich wieder zu vergessen, wie Leute, die Tagebuch führen, um ihr Gedächtnis täglich von dem Erlebten zu entlasten. Zumindest fragte ich mich das bis zum 7. Januar 2015.

Während der Vorstellung holte ich mein Notizbuch hervor. Das Letzte, was ich an diesem Abend im Dunkeln und in ungelenker Schrift notierte, stammt von Shakespeare: (1)»Nichts ist so, wie es ist.« Die nächste Aufzeichnung ist auf Spanisch, mit ungleich größeren und ebenso wackligen Buchstaben. Sie war drei Tage später in einer anderen Art von Dunkelheit im Krankenhaus entstanden. Adressiert an meine chilenische Freundin Gabriela, die Frau, in die ich verliebt war: »Hablé con el médico. Un año para recuperar. ¡Paciencia!« Ein Jahr um zu genesen? Nichts von dem, was man Ihnen sagt, ist so, wie es ist, wenn Sie eine Welt betreten, in der das, was ist, eigentlich nicht mehr sagbar ist.

Nina kannte ich seit knapp zwei Jahren. Wir waren uns bei einem Sommerfest in einem Schlosspark im Lubéron begegnet. Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, woher die Sympathie rührte, die sie mir sofort einflößte. Sie war eine geborene Vermittlerin, taktvoll und ungekünstelt. Sie hatte etwas Direktes, Zugewandtes, Herzliches, das zu einer bunten Mischung von Freunden führte, als könnten deren Vorzüge im gegenseitigen Miteinander noch gewinnen. Sie wärmte sich an den überspringenden Funken, war aber zu bescheiden, um es sich zugutezuhalten. Sie nahm sich fast ganz zurück, wie eine distanzierte, spöttische und wohlwollende Mutter. Immer wenn ich sie sah, hatte ich das Gefühl, ein Vogel aus ihrer Brut zu sein und in das Nest zurückzukehren, aus dem ich aus Unvorsichtigkeit oder Nachlässigkeit gefallen war. Die Traurigkeit oder auch Beunruhigung, die in ihrem düsteren und aufgeweckten Blick lag, verflog gleich bei der ersten Unterhaltung. Ich war nicht immer nett zu ihr gewesen. Irgendwann hatte sie es mir nicht mehr übelgenommen. Ihre Großzügigkeit siegte über ihren Groll.

Von Zeit zu Zeit verbrachten wir einen Abend miteinander, so auch diesen. Da sie der letzte Mensch ist, mit dem ich einen fröhlichen, sorglosen Augenblick geteilt habe, ist sie mir so ans Herz gewachsen, als hätte ich ein ganzes Leben mit ihr verbracht – ein ununterbrochenes, künftig fast erträumtes Leben, das an jenem Abend in einem Theater mit dem alten Shakespeare endete. Seitdem sehe ich Nina nur selten, muss es aber auch nicht, um zu wissen, woran sie mich erinnert, oder zu spüren, dass sie mich auch weiterhin beschützt. Sie hat dieses seltsame Privileg, zugleich Freundin und Erinnerung zu sein – eine ferne Freundin und eine lebendige Erinnerung. Ich laufe nicht Gefahr, sie zu vergessen, doch sie wird im weiteren Verlauf des Buchs kaum vorkommen, weil ich sie nur schwer außerhalb dieses Abends und dessen, was er in mir wachruft, einordnen kann. Wenn ich an sie denke, lebt alles wieder auf und erlischt, nacheinander oder gleichzeitig. Alles ist Traum und Übergang, womöglich eine Illusion wie in Was ihr wollt. Nina bleibt der letzte Punkt am anderen Ufer, direkt an der Brücke, die das Attentat gesprengt hat. Ihr Porträt hilft mir, ein bisschen auf den Trümmern der Brücke zu balancieren.

Nina ist klein, dunkelhaarig und rundlich, hat weiche Haut, eine Adlernase und schwarz funkelnde, belustigte Augen, eine Frau, die ihre starken, den Launen der anderen gutmütig ausgelieferten Emotionen in Humor verpackt. Sie ist Juristin. Sie kocht gut. Sie vergisst nichts. Sie ist Sozialistin, aber links – die gibt es noch. Eine sanfte, strenge und wohlgenährte Amsel. Sie lebt alleine mit ihrer Tochter Marianne, der ich meine Querflöte geschenkt habe, ein Instrument, das ich nicht mehr spiele und vermutlich nie mehr werde spielen können. Mir scheint, ihre Erfahrungen mit Männern haben sie enttäuscht, ohne sie zu verbittern. Vielleicht glaubt sie, nicht mehr Lust und Liebe zu verdienen als das, was sie von ihnen bekommen hat; doch ihren Freunden und ihrer Tochter gibt sie genug, damit der Zustand des Verliebtseins, diese Fiktion, die man mit den Mitteln des Körpers zu schreiben versucht, kein Bedürfnis mehr ist. Vielleicht spürt sie auch, wie in der Politik, eine latente Enttäuschung, die ihre Gutherzigkeit zu überwinden trachtet. Sie verzichtet ebenso wenig auf ihre Gefühle wie auf ihre Überzeugungen. Nur weil die Linke permanent das Volk verrät, wird Nina noch lange nicht, wie so viele andere, politisch rechts enden. Nur weil so viele Männer egoistische und eitle Versager sind, wird Nina nicht aufhören zu lieben. Die Empfindsamkeit triumphiert über die Prinzipien. Ich bewundere an ihr, dass sie nie mit leeren Händen kommt und dass ihre Mitbringsel immer den Erwartungen oder Bedürfnissen ihres Gegenübers entsprechen: Sie ist den anderen zugewandt, so wie sie sind, unabhängig von ihrer Situation. Das ist eher selten.

Außerdem ist sie Jüdin, was ihr stets bewusst ist und sie vorsichtig daran erinnert, dass man nie vor der Katastrophe gefeit ist. Ich spüre dies in ihrem Lächeln und ihrem Blick, wenn ich sie sehe und wir miteinander sprechen; etwas, was das Leben leichter macht und mit einer solchen Selbstverständlichkeit nur bei wenigen Menschen zu finden ist, ich bin ihr dafür dankbar. Immer liegt ein jüdischer Witz in der Luft, zwischen Wein und Pasta, wie ein nicht weiter erwähnenswerter Duft. Ich glaube nicht, dass ich mein früheres Leben mit jemandem Geeigneteren hätte beschließen können.

Ihr Vater, ein Professor für amerikanische Literatur, war ein ausgezeichneter Übersetzer Philip Roths gewesen, ein Schriftsteller, den ich mochte, ohne je eines seiner Bücher zu Ende gelesen zu haben – mit Ausnahme von Mein Leben als Sohn über die Krankheit und den Tod seines Vaters, sowie derjenigen Werke, die ich hatte besprechen müssen: eine Aufgabe, die mir nie gelungen war, vermutlich weil ich nicht recht wusste, was ich von ihnen halten sollte. Ich konnte Nina nicht ansehen, ohne mir diesen unbekannten Vater dabei vorzustellen, wie er in den Vereinigten Staaten die Bücher von Roth übersetzte, im Winterschnee oder bei strahlender Sommersonne, vor einer vollen Kaffeekanne und einem ebensolchen Aschenbecher. Dieses vermutlich falsche Bild beruhigte mich. Es überlagerte sich mit dem von Nina, und ich versuchte immer, mir die Ähnlichkeiten zwischen Vater und Tochter auszumalen. Später zeigte sie mir ein Foto von ihm, das Ende der 1970er-Jahre entstanden sein musste. Er trug einen schwarzen Vollbart, langes Haar und eine Brille mit getönten Gläsern. Er strahlte die kämpferische Energie und libertäre Entspanntheit jener Jahre aus. Ich war damals ein Kind gewesen, und diese Welt, die noch etwas anderes, ein anderes Leben zu verheißen schien, war so schnell verschwunden, dass ich sie nicht erfahren, aber auch nicht auf sie verzichten konnte. Eine Epoche, die ich weder erlebt noch vergessen habe.

An unserem gemeinsamen Theaterabend war Nina nicht mehr allein. Seit einiger Zeit hatte sie einen neuen Lebensgefährten, einen Landwirt in den Ardennen. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Ich weiß nicht mehr, ob sie ihn an diesem Abend erwähnte. Sie fuhr immer am Wochenende zu ihm. Sie erzählte mir von der Ernte und vom Erdbeerpflücken. Ich nannte ihn »das Wildschwein«, fragte Nina: »Und wie geht es dem Wildschwein?« Sie antwortete mit einem stummen und verlegenen Lächeln, zu taktvoll, um mir zu sagen, dass es sie trotz allem verletzte. »Ein Wildschwein ist schwer und brutal. Aber er ist nicht so.« »Ach, das ist doch nur so dahingesagt wegen der Ardennen«, sagte ich eines Tages zu ihr, »ich hätte ihn genauso gut Verlaine oder Rimbaud nennen können.« »Das hast du aber nicht.« Nein, das hatte ich nicht.

Am Abend des 6. Januar 2015 war es kalt und feucht. Ich ließ mein Fahrrad an der Metrostation Jussieu stehen und nahm die Linie 7 bis Mairie-d’Ivry. Um 18 Uhr 53 schickte mir Nina eine SMS, um mir zu sagen, dass sie im Bistro direkt am Ausgang der Metro auf mich wartete. Sie hat ihre Textnachrichten noch, daher die genaue Uhrzeit, meine sind zusammen mit meinem Telefon verschwunden. Da ich mich verspätet hatte, war sie schon im Theater, und ich traf sie und einen Freund in der Bar, wo sie an einem kleinen runden Tisch ein Glas Rotwein tranken und ein bisschen Aufschnitt und Käse aßen. Ich bestellte einen Weißwein und aß ebenfalls etwas Aufschnitt. »Du warst überglücklich«, schrieb sie mir Monate später. »Du hattest gerade erfahren, dass du ein Semester lang in Princeton Literatur unterrichten würdest. Es waren nur noch die Details zu regeln.« Ich erinnere mich weder an meine Freude noch daran, den anderen davon berichtet zu haben.

Doch die E-Mails dieser Tage bestätigen es: Ich hatte gerade erfahren, dass ich in ein paar Monaten in Princeton sein und sich mein Leben zumindest für eine Weile ändern würde. Irrtümlicherweise nahm ich an, dass Ninas Vater in Princeton gelehrt hatte. Die Universität liegt eine Stunde von New York entfernt, wo Gabriela wohnte und sich mit nicht enden wollenden familiären, bürokratischen und beruflichen Problemen herumschlug. So würde ich ihr nachreisen können, und mein von einem Projekt inspiriertes Leben würde in der Aktion wieder eine gewisse Einheit gewinnen. Wollte ich diese Geschichte, die durch das Attentat zerstört worden ist? Oder habe ich sie geträumt, bis es mich wachgerüttelt hat? Ich weiß es nicht.

Für mich war Princeton die Universität von Einstein und Oppenheimer – auch die des ersten bedeutenden Faulkner-Übersetzers, Maurice-Edgar Coindreau. Mit dem Gefühl völliger Unrechtmäßigkeit schickte ich mich an, dort über ein paar Romane zu lateinamerikanischen Diktatoren zu dozieren. Das Verhältnis zwischen Literatur und Gewalt ist ein Geheimnis, das in Lateinamerika einen besonders fruchtbaren Boden gefunden hatte, und was dort geschichtlich wie literarisch entstanden war, begeisterte mich wie ein Kind. Nur ein eingehendes Studium bot mir die Möglichkeit zu prüfen, ob ich es mir wie ein Erwachsener denkend erschließen konnte. Auch wenn die Ideen eines Erwachsenen selten an die Visionen – und den Schrecken – eines Kindes heranreichen.

Vor meinem Eintreffen im Theater hatte der Regisseur Fragen von jungen Gymnasiasten zu dem von der Truppe aufgeführten Shakespeare-Stück und seinem Beruf beantwortet. Er hatte ihnen erklärt, dass er Regisseur geworden sei, ohne über irgendeine spezifische Gabe zu verfügen.

Nina erinnert sich an meine Ankunft: »Du warst warm angezogen, mit Mütze, Pullover und einer dicken Jacke.« Zum ersten Mal hatte ich mein Fahrrad an der Station Jussieu stehen gelassen. Nina rief meine Kindheit in mir wach, die Jahre, als meine Mutter an der gleichnamigen Universität Biochemie unterrichtete – die Jahre des Fotos von Ninas Vater. In der Rue Cuvier roch es manchmal nach Raubtier. Im Labor meiner Mutter roch es nach Chemikalien. Ich liebte sie alle. Ich liebte die Gerüche meiner Kindheit, sogar und vor allem die penetrantesten, weil sie die eindringlichsten, ja manchmal die einzigen Spuren waren, die mir blieben.

Ein Jahr später, im Winter 2016, kam ich jeden Freitagmorgen an dem gelblichen Gebäude der Rue Cuvier vorbei und roch erneut die Raubtierausdünstungen, während ich auf dem Weg in die Pitié-Salpêtrière am Seine-Ufer an den Mauern des Jardin des Plantes entlangging. Der langsame Weg der Wiederherstellung lief auf den der Kindheit zu, ohne ganz in ihn zu münden. Mal suchte ich einen meiner Chirurgen auf, mal meine Psychologin, oft beide hintereinander, nach einem dieser Krankenhausrituale, die fortan den Rhythmus meines Lebens vorgaben. Sie waren inzwischen meine unbekannten Freunde. Die Psychologin klapperte harsch mit den Absätzen, trug eine klassische Bobfrisur und ähnelte in ihrer nüchternen und eleganten Erscheinung meiner Mutter, als diese damals etwa im gleichen Alter im Labor arbeitete. Wenn sie erschien, wusste ich ein paar Sekunden lang nicht mehr, in welcher Epoche ich lebte und wie alt ich war. Vielleicht verkörpern die Psychologen, die uns zuzuhören verstehen, ein ideales Alter, weil sie uns in jene Zeit versetzen, da wir von Helden umgebene Helden waren, und weil sie uns mit dem Versuch, uns in dieses Alter zurückzuversetzen und es zu verstehen, bei seiner Überwindung helfen.

Ich erreichte ihre Praxis in der Mund-, Kiefer – und Gesichtschirurgie über fahle Gänge im Untergeschoss, wo ich mich regelmäßig zwischen Büsten und Fotos verstorbener Chirurgen verirrte und meinte, hinter jeder Tür ein Labor zu finden, in dem meine Mutter und ihre Freunde an einer Zauberformel arbeiteten, um wahlweise den Frieden oder das Vergessen wiederherzustellen. Ich kam immer zehn Minuten zu früh, weil ich wusste, dass ich sie in diesem Labyrinth, in dem ich nie auf Anhieb die richtige Richtung fand, wieder verlieren würde. Irgendwann wartete ich alleine neben ein paar erschlafften Grünpflanzen im Wartezimmer, wo ab und zu eine afrikanische Putzfrau vorbeikam und ich die schief gewachsene Kiefer sehen konnte, die ich monatelang von den Zimmern im ersten Stock aus im Blick gehabt hatte. Ich nahm ein Buch aus meinem blutbefleckten alten schwarzen Rucksack und hatte kaum ein paar Zeilen gelesen, als sie bereits vor mir stand. Sie war nie verspätet, ich auch nicht. Als Erstes weckte das Geräusch ihrer Schritte die Erinnerung an meine Mutter. Kurzum, meine Psychologin war »Vintage«, und mehr brauchte es kaum für eine leichte Lockerung der Kiefergelenke, eine erste Beichte und ein kleines Gefühl von Ewigkeit.

Das Fahrrad, das ich an einem Gitter der Station Jussieu angeschlossen hatte, war ursprünglich das meiner Mutter gewesen: ein wassergrünes Luis Ocaña aus den späten 1970er-Jahren, das sie erstanden hatte, als der spanische Champion auf dem Gipfel seines Ruhms soeben die Tour de France gewonnen hatte. Sie hatte es nicht oft benutzt, sie hasste Sport, und es mir gegeben, als ich beschloss, in Paris zu radeln, wie ich es schon seit einiger Zeit in Havanna und diversen asiatischen Ländern machte, wo mich mein Beruf als Reporter hinführte. Das war nun zwanzig Jahre her.

Ich hatte dieses Fahrrad ungefähr in der Zeit zu benutzen begonnen, als sich Luis Ocaña in seinen Weinbergen in Südfrankreich eine Kugel in den Kopf jagte. Er hatte den Front National unterstützt, was meines Wissens jedoch nicht der Grund für seine Tat war, selbst wenn die Unterstützung dieser Partei bereits das Anzeichen einer blödsinnigen Form von Verzweiflung sein mochte. Seinen Todestag kann ich nicht vergessen: Ich war just an diesem Tag nach Madrid gefahren, um Marilyn in Empfang zu nehmen, die aus Kuba eintraf und bald meine Frau werden sollte. Zum Zeitpunkt des Attentats waren wir seit fast acht Jahren geschieden. Sie lebte mit ihrem neuen Mann und dem gemeinsamen Sohn im Osten Frankreichs in einem Dorf in der Nähe von Vesoul. Sie kannte Nina nicht, aber sie ähnelten sich in vielen Punkten, körperlich und seelisch, und wie sich im Folgenden herausstellen sollte, freundeten sie sich – gewissermaßen durch die Gnade des Attentats – rasch miteinander an. Als Marilyn zum ersten Mal bei Nina übernachtete, hatte sie das Gefühl, bei sich zu sein: der gleiche Kleiderstil, die gleiche Einrichtung und die gleiche Atmosphäre, die auf gleiche Gewohnheiten schließen ließ. Diese innere Verwandtschaft wurde mir erst an dem Tag bewusst, als ich sie bei mir zuhause nebeneinander erlebte. Ich begriff, weshalb mich Nina bei dem nächtlichen Schlossfest im Lubéron unmittelbar angezogen hatte. Sie war das beruhigende, Geborgenheit spendende Echo eines vergangenen Lebens. Dabei dachte ich, dass mir jedes Gefühl von Geborgenheit nach einer Scheidung und einer Depression, diesen fast alltäglichen Erscheinungen des westlichen zeitgenössischen Lebens, abhandengekommen war. Ich täuschte mich.

Während ich mit Ausnahme einiger nicht ganz unbedeutender Details von der Aufführung fast alles vergessen habe, lese ich seither Was ihr wollt wieder und wieder. Wahrscheinlich auf die schlechtmöglichste Art, wie ein Rätsel, um nach Zeichen oder Erklärungen für das Kommende zu suchen. Das Bewusstsein, wie unsinnig oder zumindest vergeblich das war, hinderte mich jedoch nicht daran, es zu tun, und zu denken oder vielmehr zu spüren, dass in diesem Zusammentreffen der Umstände mehr Wahrheit lag als in seiner vermeintlichen Widersprüchlichkeit. Shakespeare ist immer ein hervorragender Wegweiser durch einen zweideutigen, blutigen Nebel. Er verleiht dem, was keinen Sinn hat, Gestalt, und damit dem Erlittenen und Erlebten Sinn.

Nachdem das Schiff der Zwillinge Viola und Sebastian gesunken ist, stranden sie unabhängig voneinander an einer unbekannten Küste. Jeder der beiden hält den anderen für tot. Sie sind einsame Waise, Überlebende. Viola verkleidet sich unter dem Namen Cesario. Sie wird Page und Liebesbote des Herzogs Orsino, an dem sie rasch Gefallen findet. Allerdings soll sie Olivia, die Viola für einen Mann hält und sich in sie verliebt, für Orsino gewinnen. Unterdessen trifft Sebastian nach einigen Abenteuern am Hof ein. Olivia verwechselt ihn mit seiner Schwester Viola: Sie verliebt sich auch in ihn. Die Liebe ist der Spielball von Schein und Gender, wie es heute heißt, vor einem machiavellistischen und puritanischen Hintergrund, den Olivias Hofmeister Malvolio verkörpert. Machiavellistisch und puritanisch, beides geht Hand in Hand: Derjenige, der die Menschen im Namen des vermeintlich von ihm verkörperten Guten, im Namen eines Gottes, für ihre Freuden und Gefühle bestrafen will, glaubt, alles Böse sei als Mittel zum Zweck erlaubt. Malvolio will alles, nimmt sich alles und fällt letzten Endes auf alles herein. Shakespeares Happy End ist nur ein Traum, alles Vorangegangene entkräftet ihn. Alles ist Zauber, alles ist absurd, nichts als Gefühle und Umschwünge. Die Moral wird einem Narren in den Mund gelegt.

Eine solche Zusammenfassung des Stücks hätte ich in einem Artikel nie geschrieben, aus Angst, meine Leser zu verlieren. Ja, welchen Artikel hätte ich überhaupt geschrieben? Worauf hätte ich mich konzentriert? Vielleicht hätte ich geschrieben, dass auch ich wie Olivia während der Aufführung Viola und Sebastian verwechselt hatte, nicht mehr wusste, wer eigentlich wer war und folglich nicht mehr begriff, was ich mir gerade ansah. War das der Inszenierung zuzuschreiben? Dem Text? Seiner Übersetzung? Mir selbst? Dem Wein, dem Aufschnitt, dem Winter? Wie so oft wusste ich es nicht, und ich schrieb auch, um es herauszufinden. Die Umstände haben mich in diesem Fall an diesem gewöhnlichen Prozess gehindert, und auch wenn es im Hinblick auf das Kommende hinfällig scheinen mag, tut es mir noch immer leid, dass mir die Zeit fehlte, Was ihr wollt zu verstehen. Dieses Verständnis scheint mir künftig untersagt. Die Personen und Situationen sind in eine Märchenwelt eingegangen, die durch die Ereignisse zu vage geworden ist, als dass ich sie umreißen könnte.

Wenn ich mich recht erinnere, war auf der kleinen Bühne in Ivry gelegentlich ein altmodisches Krankenhaus zu sehen: Die weißen Betten waren nur durch helle Vorhänge voneinander getrennt. Nina setzte sich zwischen ihren Freund und mich. An dieser Stelle spielt mir meine Erinnerung einen ersten Streich. Weiter oben habe ich geschrieben, ich hätte mein Notizbuch während der Vorstellung, sozusagen unter ihrem Eindruck, hervorgeholt, weil ich mir allmählich bewusstgeworden sei, dass ich einen Artikel schreiben würde. In ihrer rückblickenden E-Mail berichtigt Nina das:

Du hast sofort deinen 4-Farb-Kugelschreiber und dein Notizbuch in die Hand genommen, um dir Aufzeichnungen zu machen.

Der Journalist war also von Anfang an neben dem sorglosen Freund präsent.

Dann beschreibt Nina das Bühnenbild, tatsächlich weiße Krankenhausbetten, und zählt die Schauspieler auf, darunter eine junge Frau, die mir angeblich aufgefallen sei und die ich vergessen habe. Sie schreibt weiter:

Das Stück hat dir gefallen, glaube ich, und du hast gesagt, in der Zeitung sei Platz für eine Kritik. Ich habe mich riesig für Clément und seine Truppe gefreut. Auch darüber, dass ich die Vermittlerin spielen konnte. Endlich bekäme Clément einen Artikel zu seinem Stück, nachdem das vorherige nur wenig besprochen worden war. Nach der Vorführung sind wir noch etwas trinken gegangen. Du hast uns ein Glas Wein spendiert, vielleicht, um deinen Aufbruch nach Princeton zu feiern. Dann hast du selbst etwas gegessen. Clément und ein paar der Schauspieler sind noch dazugekommen. Clément hat dir gesagt, dass die Übersetzung von ihm selbst stamme, beziehungsweise von Jude Lucas, seinem offiziellen Pseudonym. Er hat sie dir übrigens geschickt, als er abends nach Hause gekommen ist. Du hast ihn nach einer bestimmten Replik gefragt. Er hat nachgeschaut, das Zitat stammte von Orsino, du hast es dir notiert. Du hast dich mit Clément über das Stück unterhalten, insbesondere über die Verwechslung der Geschlechter. Zusammen mit Loïc, Clément und ein paar Schauspielern, u. a. dem Darsteller von Malvolio, sind wir mit der Linie 7 zurückgefahren. Du bist in Jussieu ausgestiegen, um dein Fahrrad abzuholen.

Welcher Satz von Orsino hatte sich mir eingeprägt? Ich fand mein Notizbuch nicht mehr. Dabei war es zum Zeitpunkt des Attentats in meinem Rucksack gewesen und hatte mich ins Krankenhaus begleitet, wo ich es in den ersten Tagen, als ich nicht sprechen konnte, zum Schreiben genutzt hatte.

Anderthalb Jahre später fragte ich den Regisseur in einer E-Mail, ob er sich erinnere. Er antwortete mir Folgendes:

Lieber Philippe,

Ich erinnere mich sehr gut an unser Gespräch und daran, dass du mich nach einer Replik von Orsino gefragt haben. Ich erinnere mich an meine Verunsicherung, denn obwohl ich das Stück übersetzt, geprobt und unzählige Male gesehen habe, war ich nicht in der Lage, den betreffenden Satz wiederzugeben, sodass ich im Text nachschauen musste. Leider erinnere ich mich nicht an das Zitat. Ich weiß, dass ich etwas überrascht war. Ich glaube, die Szene gefunden zu haben, hier zumindest ein Vorschlag:

Komm hieher, Junge: wenn du jemals erfahren wirst was Liebe ist, so denk’ in ihren süssen Beklemmungen an mich; so wie ich bin, sind alle Liebhaber: unstät und launisch in allen andern Vorstellungen, als allein in dem Bilde des Geliebten, das immer vor ihren Augen schwebt

Oder, vielleicht eher:

Versuch es noch zum leztenmal, Cesario; geh noch einmal zu dieser schönen Unerbittlichen; sag ihr, meine Liebe lege einer Menge von ausgebreiteten Erdschollen die man Ländereyen heißt, keinen Werth bey; sag ihr, die Güter die das Glük ihr zugelegt habe, seyen in meinen Augen so eitel als das Glük selbst; ihr Gemüth allein, dieses Wunder, dieses unvergleichliche Kleinod, das die Natur so schön gefaßt hat, ziehe meine Seele an.

Natürlich kannst du jederzeit unsere vollständige Übersetzung einsehen, wenn dir damit geholfen ist.

Keines der Zitate, die er mir geschickt hat, stimmte mit dem überein, das mir vorschwebte. Eine Weile später fand ich beim Aufräumen endlich mein Notizbuch wieder. Es dauerte nicht lange, bis ich auf die Seite mit den notierten Shakespeare-Sätzen stieß. Es dauerte etwas länger, sie zu entziffern. Keines brachte mir die erhoffte Offenbarung. In jedem Fall war es nicht das Zitat, um das ich Clément gebeten hatte und das ich ohnehin nicht mehr wiedererkannte. Es war auch nicht der Satz des Narren Feste, den ich eingangs zitiert habe: Nichts ist so, wie es ist. Ich habe Was ihr wollt immer wieder gelesen, um meine Aufzeichnungen mit dem Text zu vergleichen. Möglicherweise hatte ich im Dunkeln und in der Eile etwas falsch notiert? Nein. Ich habe den gesuchten Satz nicht gefunden. Wie einer jener kristallklar im Traum erscheinenden Sätze, den das Erwachen auslöscht, ja banal, idiotisch oder unverständlich wirken lässt. Orsinos Replik, die mir monatelang durch den Kopf gegangen ist, die meine Krankenhaustage und -nächte begleitet hat, dieser Satz, der mir auf der Zunge lag und dessen Wahrheit mich wie ein Blitz getroffen hatte, existierte nicht.

Ninas E-Mail endete mit folgenden Worten:

Am nächsten Tag mussten die Schauspieler das Stück erneut spielen, und Clément hat dir die Vorstellung gewidmet.

Das letzte Lied wurde geändert, die Schauspieler haben gesungen und dabei Bleistifte geschwenkt: »Ich mache mich auf den Weg und werde dich um jeden Preis wiederfinden wie eine Marionette mit einem Holzschwert (Bleistift)«.

Dieser Abend bleibt für mich in der Schwebe zwischen zwei Welten. Der Sturz am nächsten Tag war schwindelerregend. Dir am Abend zuvor so nahe gewesen zu sein und dich am nächsten Tag der Menschheit so fern zu wissen, ist unerträglich.

Ich bin auf der guten Seite des Lebens geblieben, und du bist in das Grauen gestürzt, nachdem wir ein paar Stunden zuvor noch nebeneinandergesessen haben. Beide Welten scheinen künftig parallel zu sein, und ich weiß nicht, ob sie eines Tages wieder zueinander finden können.

Sie werden es nicht können, weder im Leben noch in diesem Buch. Die Wörter auf der einen, unsere Begegnungen auf der anderen Seite versuchen, die zerstörte Brücke zwischen uns wiederaufzubauen. Doch in der Mitte klafft ein Loch. Schmal genug, damit wir uns auf beiden Seiten sehen, sprechen und beinahe berühren können. Breit genug, damit keiner von beiden in dieser Zone der Gewohnheiten, Improvisationen und Freundschaften, vor allem aber der Kontinuität, den anderen erreicht.

Nina hat sich das Stück bei seiner Wiederaufnahme 2016 noch einmal angesehen. Sie hat mir vorgeschlagen mitzukommen. Mir fehlte die Kraft dazu. Ich hätte das Gefühl gehabt, das Vorzimmer einer Gruft, ja meinen eigenen offenen Sarg zu besichtigen, so wie Tim, der in Die Zigarren des Pharaos seinen und Struppis Sarkophag entdeckt. Ich werde mir Was ihr wollt wieder ansehen, wenn ich es vergessen habe.

Kapitel 2

Fliegender Teppich

Ich ärgere mich immer über Schriftsteller, die angeblich jeden Satz so schreiben, als wäre es der letzte. Damit wird dem Werk zu viel Bedeutung zugemessen, oder dem Leben zu wenig. Ich wusste nicht, dass ich durch das Attentat jede Minute so erleben würde, als wäre es die letzte Zeile: Möglichst wenig zu vergessen, wird wesentlich, wenn man dem Erlebten plötzlich fremd gegenübersteht, wenn man sich überall selbst abhandenzukommen scheint. Irgendwann habe ich also ungefähr das Gleiche gedacht wie die, über die ich mich ärgerte, wenn auch aus ganz anderen Gründen und unter anderen Umständen: Man sollte selbst die unbedeutendsten Details des Erlebten notieren, die winzigste Winzigkeit, als müsste man schon in der folgenden Minute sterben oder auf einen anderen Planeten wechseln – denn die nächste Minute wäre nicht unbedingt gastfreundlicher als die vorherige. Das wäre für das Reisen nützlich, und eine Art Erinnerung für die Überlebenden; noch nützlicher aber wäre es für die Wiedergänger, die nicht toter als die anderen waren und im Anderswo weit genug gegangen sind, um noch nicht wieder ganz zurückgekehrt zu sein in diese Welt, wo alle ihren Beschäftigungen nachgehen, als ob die Wiederholung der Tage und Gesten einen linearen, festen Sinn hätte, als ob dieses Theater eine Mission wäre. Die Wiedergänger würden ihre Aufzeichnungen lesen, den anderen beim Leben zusehen, ihre Erinnerungen und ihre Leben aneinanderreiben. Dann würden sie alles in dem erzeugten Funken betrachten, sich an ihm wärmen und daran denken, dass sie einmal gelebt haben.

In diesem Fall hätte ein kleiner Einfall beim Gang auf die Toilette für das spätere Opfer mehr Bedeutung als eine Kriegserklärung, eine Arbeitsbesprechung oder der Rücktritt eines Ministers. Das Schreiben würde die Zeit aussetzen, deren Verlauf es nachzeichnet und, sobald die Seite geschrieben ist, würde die Komödie genau an der Stelle wiederaufgenommen, wo sie abrupt abgebrochen ist. Doch nicht so wie in Die Dinge des Lebens, dem Film von Claude Sautet, wo der Protagonist die bedeutsamen Momente seines Lebens an sich vorbeiziehen sieht, bevor er bei einem Unfall stirbt. Nein, es geht nicht darum, die wichtigen Dinge oder großen Etappen zu notieren, das ist die Perspektive eines lebendigen und gesunden Menschen. Es ginge nur um die verschwindend kleinen Dinge, die der letzten Minuten, die feine Asche der letzten Zigarette des Verurteilten, der noch nicht weiß, dass das Urteil gesprochen und der Henker schon auf dem Weg ist, mit Waffen und Gepäck im Kofferraum eines geklauten Autos.

Natürlich habe ich es nicht gemacht. Ich habe die Stunden vor dem Auftauchen der Mörder nicht dokumentiert, weil es ein Vormittag wie jeder andere war, aber ich habe den Eindruck, dass es jemand anders für mich übernommen hat, ein Spaßvogel, der sich anschließend aus dem Staub gemacht hat und den ich nun schreibend in die Enge zu treiben versuche.

Ich habe allein zuhause geschlafen, in Laken, die eigentlich gewechselt gehört hätten. Ich schwöre auf frische Laken, sie sind mein ganzes Glück beim Schlafen und Aufwachen, und nicht zuletzt fehlen mir meine Krankenhäuser deshalb, weil die Laken dort jeden Morgen gewechselt wurden. Dementsprechend schlecht gelaunt wachte ich auf, von einer unbestimmten Unzufriedenheit erschöpft. Sie wurde durch das graue, kalte und dunkle Wetter vermutlich noch gesteigert. Die Tatsache, dass ich mir nach dem Theater ein Interview von Michel Houellebecq auf France 2 zu seinem neuen Roman Unterwerfung angesehen hatte, machte es auch nicht besser. Man sollte vor dem Schlafengehen nie fernsehen, dachte ich, das belastet das Bewusstsein und den Magen genauso wie schmutzige Bettlaken. Daran erinnere ich mich noch. An das Gefühl meiner spätabendlichen trägen Neugier, die den Tag mit einer Nachrichtensendung beschließt, statt still und würdig.

Am vergangenen Wochenende hatte ich eine Kritik von Houellebecqs Buch in Libération veröffentlicht, und die Zeitung hatte aus diesem Anlass ein Dossier als »Aufmacher« gebracht. Ich werde, lieber Leser, noch darauf zurückkommen; wie ich fürchte, sogar sehr ausführlich, denn Houellebecqs Figur ist künftig mit der Erinnerung an das Attentat verquickt: für die anderen ein kurioses oder tragisches Zusammentreffen der Umstände; für die Überlebenden der Mörder eine innere Erfahrung. Unterwerfung erschien bekanntlich am 7. Januar 2015.

In der Welt der Geschwätzigen, wo jeder sofort eine Ansicht vertritt, äußerten so gut wie alle ihre Meinung, weil es um Houellebecq ging. In der Sendung, die ich vor dem Schlafengehen gesehen hatte, ähnelte er einem alten, nicht übermäßig netten Hund, der an einer Autobahnraststelle neben einem Flunch ausgesetzt worden war, was ihn mir sympathisch machte; außerdem sah er aus wie Droopy und Gai-Luron, dem von Gotlib erfundenen Hund, was ihn amüsant wirken ließ. Ich stellte ihn mir gern in der Manier von Gai-Luron vor, wie er, in einen Sessel gefläzt, mit über dem Bauch verschränkten Händen sagt: »Ich merke, wie mich eine schwere Trägheit überkommt.« Die Trägheit eines vorhersehbaren Interviews und des Shitstorms, der dadurch ausgelöst werden sollte.

Es würde umso mehr Aufsehen geben, als sich Houellebecq diesmal eine besonders brisante Obsession vornahm, die gewissermaßen in Poitiers ihre Wurzeln hatte: die Angst vor den Muslimen und der Machtergreifung der Islamisten in Frankreich. Ich hatte ausgiebig gelacht bei der Lektüre von Unterwerfung, den Szenen, Porträts und gespielt genervten Provokationen, seiner Zivilisations- und Fin-de-siècle-Melancholie. Dass er einen wichtigen islamistischen Minister in die Wohnung des früheren Chefs der NRF und unerbittlichen Grammatiker-Jesuiten Jean Paulhan verpflanzt hatte, bereitete mir ein Vergnügen, das zugegebenermaßen nur einigen happy few vorbehalten war. Der Roman findet seine Daseinsberechtigung darin, dass er absolut alles und jeden in einer bestimmten Situation denkbar werden lässt, als ginge es um diese Welt und unser eigenes Leben.

Ich hatte Houellebecq zu einer Zeit entdeckt, als er für eine damals angesagte kulturelle Wochenzeitschrift boshafte Kolumnen schrieb, die ich mir praktisch nie entgehen ließ. Gute Kolumnisten sind selten: die einen unterwerfen sich den wichtigen Tagesthemen und der vorherrschenden Moral; die anderen einem Dandyismus, der sie dazu verleitet, eitel gegen den Strom zu schwimmen. Die einen sind der Gesellschaft unterworfen, die anderen der eigenen Kunstfigur. Beide suchen nach Stileffekten und verblühen rasch. Houellebecqs Pessimismus und lakonischer Sarkasmus waren von einer alterslosen Selbstverständlichkeit. Ich denke, dass er damals politisch links eingeordnet wurde. Noch wusste man ja nicht, dass die Linke wie eine kopflose Ente weiterlaufen würde. Später hatte ich mit Gewinn seine Bücher gelesen. Nach der letzten Seite hingen stets ein Hauch von Bedrohung und ein Gipsgeschmack in der Luft wie eine Staubwolke über einem Ruinenfeld, doch mit einem Lächeln im Inneren der Wolke. Ich störte mich weder an seiner Frauenfeindlichkeit noch an seiner reaktionären Ironie: Ein Roman ist schließlich kein Tugendhort. Allmählich fand ich Houellebecq manchmal inhaltlich, nicht aber formal etwas lustlos, bis ich – etwas spät – begriff, dass das (touristische, sexuelle, künstlerische) Klischee zu seinen Rohmaterialien zählte und er es um keinen Preis meiden durfte. Ich weiß nicht, ob er, wie es hieß, tatsächlich der große oder einer der großen Schriftsteller der westlichen Mittelschichten war. Ich betreibe keine Soziologie, wenn ich einen Roman lese, und ebenso wenig, wenn ich die Lektüre beendet habe. Ich glaube umfassend und ausschließlich an die Schicksale und Charaktere der Personen, wie früher als Zehnjähriger. Den Houellebecq’schen Protagonisten folgte ich wie Losern, die ihre Supermarktwagen mit Sonderangeboten füllten, um ihre Beute draußen auf dem Parkplatz in nüchtern-prophetische Zeichen des menschlichen Elends zu verwandeln.

Wie immer, wenn ich mich mit einem Buch beschäftigt hatte, war ich entschlossen, nichts zu Unterwerfung zu lesen oder zu hören, was nur einen leichten Widerwillen bewirkt hätte: Die Sendung nach Shakespeare hatte mir gereicht. Ich war umso entschlossener, als ich am darauffolgenden Samstag mit dem Schriftsteller sprechen würde. Nachdem ich die Kritik geschrieben und das Dossier über ihn in Libération zusammengestellt hatte, war mir im Übrigen schleierhaft, wozu ich ihn überhaupt noch befragen wollte. Wir müssten über etwas anderes sprechen, über alles Mögliche, nur nicht über Unterwerfung. Er sollte mir nicht erklären, was ich hätte lesen sollen, und ich wollte ihm nicht erklären, was ich vermeintlich gelesen hatte. Die meisten Interviews mit Schriftstellern oder Künstlern sind überflüssig. Sie paraphrasieren nur das zugrundeliegende Werk. Sie befeuern den Werbe- und Personenrummel. Meiner Funktion entsprechend trug ich zu ihm bei. Meinem Naturell entsprechend stieß er mich ab. Ich sah darin eine Verletzung der Intimsphäre und der Autonomie des Lesers, die durch die neu aufgebotenen Informationen nicht auszugleichen war. Der Leser hätte Stille gebraucht und ich etwas Neues, aber wie alle, die das Buch vor seiner Veröffentlichung gelesen hatten, wusste ich, dass es um Unterwerfung nicht still bleiben würde. Womöglich zeichnete sich genau dadurch ein berühmter Moralist aus: durch das Schreiben von Büchern, die ausschließlich als Beweisstücke seines Genies oder seiner Schuld gelesen werden. Dieses Phänomen war nicht neu. Mit Houellebecq nahm es so beunruhigende Ausmaße an, dass sich damit sowohl sein Pessimismus als auch sein Erfolg rechtfertigen ließen.

Jetzt, an jenem Morgen des 7. Januar, verstimmte mich die Aussicht auf die nationale Debatte und unser Gespräch schlichtweg. Ich war unter dem Zeichen von Shakespeare und Houellebecq ins Bett gegangen. Unter dem Zeichen von Houellebecq stand ich wieder auf und würde über Shakespeare schreiben müssen. Ein merkwürdiger Tag.

Es war ungefähr 8 Uhr. Ich sah die Motten um die Wohnzimmervorhänge schwirren – zu viele Bücher, zu viel Unordnung, zu viel alter Stoff. Ich ging hinunter und nahm die Ausgabe von Libération aus dem Briefkasten. Oben erschlug ich ein paar Motten damit. Sie bildeten tintenartige Flecken an der Decke. Diese Jagd war eine Art Aufwärmtraining. Danach überflog ich die Zeitung, während ich meinen Kaffee trank, und klappte meinen Laptop auf, um die E-Mails der letzten Nacht zu lesen.

Aus New York gratulierte mir der Freund und Professor, dem ich die Stelle in Princeton zu verdanken hatte. Er nutzte die Gelegenheit, um mich auf den Artikel über Houellebecq anzusprechen. Ich antwortete ihm kurz. Eine andere E-Mail stammte von Clément, dem Regisseur von Was ihr wollt. Er schickte mir seine Übersetzung des Stücks mit folgendem Kommentar:

Hier also der Text von Was ihr wollt, so wie du ihn heute Abend gehört hast – übrigens ist es in dem Stück exakt dieser Abend. Twelfth Night meint die zwölfte Nacht nach Weihnachten: den 6. Januar.

Ich las den Anfang der Übersetzung und verglich sie mit den anderen, die in meiner Bibliothek standen. Ich fühlte mich außerstande, ihren jeweiligen Wert zu beurteilen. Warum hätte ich das überhaupt tun sollen?

Ich kaufte ein Flugticket nach New York, wo ich mich in der kommenden Woche mit Gabriela treffen wollte. Dann klappte ich den Laptop wieder zu, musterte wie jeden Morgen meine alte Wohnung – genauer gesagt, die meines Vermieters –, und überlegte, womit ich anfangen sollte.

Ich wohnte seit fünfundzwanzig Jahren hier. Der Teppichboden war zerschlissen; die Wände gelblich. Überall Bücher, Zeitungen, CDs, Notizbücher, Objekte und Kram. Fünfundzwanzig Jahre eines Lebens! Und wohl nichts, was zu überleben verdient hätte. Mit Ausnahme vielleicht eines hübschen Schlittenbetts in schlechtem Zustand, das mir eine Freundin meiner Eltern im Jahr des Einzugs geschenkt hatte. Ihr Ehemann hatte es regelmäßig zum Lesen, Schreiben und für den Mittagsschlaf genutzt. Er war ein hervorragender Journalist, vom Alkohol zugleich abgehärtet und zerstört. Er wurde zu einem komplett anderen Menschen, wenn er trank. In meiner Anfangszeit arbeitete ich bei derselben Zeitung wie er. Er liebte Züge und warf sich eines Tages am Rangierbahnhof von Villeneuve-Saint-Georges vor einen von ihnen. Er war untersetzt, hatte in ein rotes, quadratisches Gesicht gepresste metallische blaugraue Augen. Er sprach wenig und artikulierte noch weniger. Im Gegensatz zu ihm war sein Schreibstil nüchtern. Sein Tod markierte sicher für einige von uns das Ende einer Epoche. Einer beruflichen Epoche, die ich eigentlich nur über Menschen wie ihn gekannt hatte: Just als ich zum ersten Mal einen Fuß ins Wasser setzte, ebbte sie ab wie das den Gezeiten unterworfene Meer. Am Tag nach der Beerdigung schlug seine Frau mir vor, sein Schlittenbett bei ihr abzuholen. Sie wollte es nicht mehr, wusste es aber lieber nicht bei einem Unbekannten. Wenn ich mich meinerseits darauf ausstrecke, um zu lesen oder ein Nickerchen zu machen, habe ich das Gefühl, dass der Geist des Toten über mich wacht.