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Butler Parker
– 134 –

Parkers Luftsprung mit dem Staatsfeind

Günter Dönges

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-647-2

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»Sie sehen meine bescheidene Wenigkeit mehr als erstaunt«, sagte Butler Parker. Er hatte die Tür zu Lady Simpsons Haus in Shepherd’s Market geöffnet und verbeugte sich grüßend vor Superintendent McWarden.

»Ich weiß, um diese Zeit sollte man keine Besuche mehr machen«, entschuldigte sich der hohe Yardbeamte. McWarden, untersetzt, stets reizbar, gab sich überraschend höflich und verbindlich. »Aber die Sache duldet keinen Aufschub.«

»Mylady ist selbstverständlich noch nicht zur Ruhe gegangen, Sir. Ich werde Sie sofort melden, Sir. Wenn Sie freundlicherweise drüben im Wohnraum Platz nehmen würden?«

»Mylady ist also noch auf.« McWarden war erleichtert.

»Mylady arbeitet an Myladys Bestseller«, erklärte der Butler.

»Was Sie nicht sagen! Sie hat endlich damit begonnen?« McWarden vergaß für einen Augenblick seine Sorgen und war ehrlich überrascht. Ihm war bekannt, daß die Dame des Hauses schon seit vielen Monaten diesen Bestseller schreiben wollte, um einer gewissen Agatha Christie zu zeigen, wie Kriminalromane wirklich verfaßt wurden.

»Mylady deutete diese Absicht zumindest an«, schränkte der Butler vorsorglich ein. Er machte wieder eine seiner knappen Verbeugungen und verließ den Superintendent, der ihm nachschaute.

Butler Parker war ein etwas über mittelgroßer Mann undefinierbaren Alters. Er besaß das ausdruckslose Gesicht eines Pokerspielers und verfügte über erstklassige Manieren. Darüber hinaus war er ein sehr phantasievoller und begabter Amateurkriminalist. McWarden hätte solch einen Mann liebend gern in seiner Abteilung gehabt, doch Parker hatte bisher allen Versuchungen widerstanden, seinen Arbeitsplatz aufzugeben. Er war mit Leib und Seele Butler und dachte nicht daran, diesen Zustand zu ändern.

Gemessen und würdevoll stieg Josuah Parker über die Treppe hinauf ins Obergeschoß und erreichte über eine Seitendiele den Trakt des Hauses, in dem seine Herrin wohnte. Nach diskretem Anklopfen und der grimmigen Aufforderung, gefälligst hereinzukommen, stand Josuah Parker Lady Agatha gegenüber.

Sie hatte sich einen kleinen Salon als Arbeitszimmer herrichten lassen. Auf einem soliden Tisch stand eine elektrische Schreibmaschine. Links vom Tisch, auf einem Aktenblock, stapelte sich Manuskriptpapier.

»Gerade wollte ich anfangen«, beschwerte sich Lady Simpson unwillig. Sie wandte sich ihrem Butler zu, der natürlich mit einem Blick sah, daß das eingespannte Papier noch keinen einzigen Buchstaben trug.

»Mylady sehen meine bescheidene Wenigkeit hier untröstlich«, entschuldigte sich Parker. »Superintendent McWarden bittet um eine Unterredung. Es scheint sich um einen Fall höchster Dringlichkeit zu handeln.«

»Warum sagen Sie das nicht gleich?« Die ältere Dame, die seit einigen Jahren beschlossen hatte, nicht älter als sechzig Jahre zu sein, stand sofort schwungvoll auf. Man sah ihr an, wie sehr sie sich jetzt über die Störung freute.

Sie war groß, stattlich und erinnerte an die Walküre aus einer Wagneroper. Mylady verfügte über eine Stimme, die vom Klang her an eine Mischung aus Baß und Bariton erinnerte. Sie war eine sehr dynamische Frau, immens reich und mit dem Blut- und Geldadel Englands eng verschwägert und verschwistert. Darüber hinaus hielt sie sich für eine erstklassige Kriminalistin, die keiner Möglichkeit aus dem Weg ging, sich mit Ganoven und Gangstern aller Kaliber anzulegen.

Lady Agatha trug einen wallenden Hausmantel, den sie energisch zuschnürte. Dann rauschte sie aus ihrem Arbeitszimmer, begierig darauf, Superintendent McWarden wieder mal fachlich zu beraten.

»Keine unnötigen Floskeln«, raunzte sie, als sie den Wohnraum betrat. »Kommen sie zur Sache, McWarden! Ohne mich scheint es also wieder mal nicht zu gehen, wie?«

»Wir wären an einer Zusammenarbeit wirklich recht interessiert«, räumte der Superintendent widerwillig ein. »Man riet mir von höchster Stelle dazu, Mylady. Guten Abend, übrigens!«

»Welche Kastanien soll ich Ihnen aus dem Feuer holen?« Die energische Dame genoß dieses Einverständnis und ließ sich in einem der bequemen Ledersessel nieder. »Wo drückt der Schuh, McWarden? Reden Sie endlich!«

»Fatty Hitcham ist ausgebrochen«, sagte McWarden.

»Okay. Und wer ist das?«

»Der ehemalige Chef einer Gangsterorganisation«, erklärte der Superintendent. »Mylady erinnern sich bestimmt. Hitchams Bande erpreßte Reedereien. Er wurde zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt.«

»Wie lange hat er davon abgesessen?« erkundigte Agatha Simpson sich fast beglückt, denn sie hatte den Eindruck, daß es ein recht aufregender Fall werden könnte.

»Knapp ein Jahr, Mylady«, lautete McWardens Antwort. »Vor anderthalb Stunden ist er auf geheimnisvolle Art und Weise entkommen. Die näheren Umstände werden zur Zeit noch erforscht.«

»Was das schon bringt«, sagte sie verächtlich. »Mr. Parker, es dürfte klar sein, daß ich diesen Fall übernehmen werde.«

»Selbstverständlich, Mylady«, erwiderte Parker würdevoll. »Mylady dürfen meiner bescheidenen Mithilfe versichert sein.«

*

»Bescheidene Mithilfe«, grollte die Detektivin, als McWarden gegangen war. »Ich hab mich wohl verhört, Mr. Parker?«

»Wie darf, soll und muß ich Myladys Worte interpretieren?« antwortete Josuah Parker gemessen.

»Ich will doch sehr hoffen, daß Sie sich gründlich einsetzen«, forderte Agatha Simpson energisch. »Es geht schließlich um Ihren Ruf, Mr. Parker.«

»Mylady wissen, wie wenig meiner bescheidenen Person daran gelegen ist.«

»Es geht um meinen Ruf.« Lady Agatha wurde nun deutlich. »Zudem habe ich keine Ahnung, wie wir an dieses Subjekt je herankommen wollen. Sie haben hoffentlich bereits eine Idee!«

»Mylady sehen mich untröstlich.« Parker sprach die Wahrheit. »Zur Zeit sehe ich mich außerstande, brauchbare Vorschläge unterbreiten zu können.«

»Genau das habe ich erwartet,« Sie sah ihn grimmig an. »Alles muß man allein machen. Wir werden dieses Subjekt aus dem Schlupfwinkel locken.«

»Gewiß, Mylady.« Josuah Parker sah Lady Agatha fragend an.

»Mehr haben Sie dazu wieder nicht zu sagen?«

»Fatty Hitcham, Mylady, wird sich nicht so leicht provozieren lassen, wie ich vermute.«

»Jeder Mensch hat seinen ganz bestimmten schwachen Punkt, Mr. Parker, oder wollen sie das etwa abstreiten?«

»Keineswegs, Mylady. Falls es erlaubt ist, werde ich mich bemühen, einige Informationen über Fatty Hitcham zu sammeln. Er hat, wie Superintendent McWarden ja schon sagte, nicht nur Freunde. Zudem vermutet man bei ihm eine beträchtliche Beute in der Größenordnung von fast siebenhundertfünfzigtausend Pfund.«

»Sie glauben, daß gewisse Individuen der Unterwelt hinter Hitcham her sind?«

»Mit letzter Sicherheit, Mylady. Solch eine Summe aktiviert, wenn ich es so ausdrücken darf.«

»Sie wissen ja, daß ich mich mit Kleinigkeiten nicht abgebe, Mr. Parker. Tun sie, was ich für richtig halte! Sie haben völlig freie Hand. Aber ich erwarte selbstverständlich Resultate.«

Geschickterweise verzichtete Lady Simpson auf jede weitere Diskussion. Sie wollte sich angeblich wieder ihrem geplanten Bestseller widmen und ging zurück ins Obergeschoß des Hauses. Sie setzte wieder mal auf Butler Parker.

Er war sich darüber klar, daß die Polizei wesentlich mehr und bessere Möglichkeiten der Großfahndung hatte. Sie brauchte nur ihren großen Apparat und die vielen V-Männer einzusetzen. Überall waren diese Männer jetzt an der Arbeit und sammelten Hinweise, Klatsch und Tips. Mit solch einem Aufwand an Einsatz konnte Josuah Parker einfach nicht konkurrieren. So etwas wäre eine reine Zeitverschwendung gewesen, die dazu noch nicht mal etwas einbrachte. Nein, Parker mußte sich etwas Ungewöhnliches einfallen lassen, daran bestand kein Zweifel.

Butler Parker begab sich ins Souterrain des altehrwürdigen Hauses, wo sich seine privaten Räume befanden. Hier gab es unter anderem auch ein gut geführtes Privatarchiv, in dem sich auch der ehemalige Fall Hitcham befinden mußte. Parker wollte sich diese Unterlagen in aller Ruhe und Muße ansehen und dann so etwas wie ein Psychogramm des Gangsters erarbeiten. Er mußte versuchen, sich in die Gedankenwelt Hitchams zu versetzen, denn nur so war es möglich, diesen brutalen und gefährlichen Mann aufzuspüren und erneut unschädlich zu machen.

Butler Parker wußte nicht, daß Lady Agatha zu diesem Zeitpunkt bereits sehr aktiv geworden war. Von ihrem Salon aus rief sie die Redaktionen einiger großer Boulevardzeitungen an und legte damit Zeitbomben, von deren Sprengkraft sie sich keine Vorstellungen machen konnte.

*

Fatty Hitcham wäre die Idealbesetzung des Gangsterbosses in einem Kriminalfilm gewesen.

Er war untersetzt, breitschultrig und hatte das Gesicht einer Bulldogge. Das knappe Haftjahr im Zuchthaus hatte ihn überhaupt nicht verändert. Er strahlte nach wie vor wilde Energie, Brutalität und auch Autorität aus.

Nach seiner Flucht aus dem Knast hatte er ganz bewußt darauf verzichtet, zurück nach London zu gehen und sich hier einen Unterschlupf zu suchen. Fatty Hitcham war intelligent. Er konnte sich leicht ausrechnen, wie interessant er für viele kleine und große Ganoven war. 750 000 Pfund, die waren ein Köder, nach dem man immer wieder schnappen würde. Zudem rechnete er damit, daß die Behörden auf seinen Kopf einen hohen Preis aussetzten. Leicht und schnell verdientes Geld für Spitzel und Verräter, die natürlich Tag und Nacht, Stunde um Stunde nach ihm forschen würden. Nein, Hitcham hatte es vorgezogen, das wohlvertraute Stadtgebiet Londons zu meiden. Ihm ging es erst mal um Zeitgewinn. Er wollte abwarten, bis die erste Aufregung vorüber war.

Der Gangsterboß befand sich seit einigen Stunden in der Nähe von Bristol. Er hatte Quartier in einem kleinen Kurort bezogen, nicht weit entfernt von der alten Römerstadt Bath. Selbstverständlich war er nicht allein. In seiner Begleitung befanden sich drei ausgesuchte Männer, die seine Flucht in der vergangenen Nacht ermöglicht hatten. Er konnte sich unbedingt auf sie verlassen. Es waren harte Typen, etwa zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt. Sie waren bereits zu einer Zeit seine Leibwächter gewesen, als Hitcham noch der ungekrönte König der Unterwelt gewesen war.

Diese vier Männer bewohnten ein kleines Ferienhaus am Avon, nahe an einem kleinen Waldstück, doch von dem vierten Mieter wußte der Besitzer des Ferienhauses nichts. Er kannte nur die drei Mieter, durchaus zivil aussehende Männer mit guten Manieren. Sie hatten sich als Geschäftsleute aus Manchester ausgegeben, die hier in aller Ruhe neue Pläne besprechen und planen wollten.

Ihre Adressen in der großen Industriestadt stimmten durchaus.

Nach der damaligen Verurteilung von Hitcham hatten sie London verlassen und sich in Manchester niedergelassen. Ihre Namen waren im Prozeß überhaupt nicht erwähnt worden, weil Hitcham sie klugerweise verschwiegen hatte.

In der Organisation aber waren diese drei Männer so gut wie unbekannt geblieben, zumal sie seinerzeit unter falschen Namen gewirkt hatten. Inzwischen hatten sie ihr Aussehen verändert und konnten sicher sein, alle Spuren verwischt zu haben.

An diesem Morgen kam Gene Potter aus dem nahen Keynsham zurück. Er hatte eingekauft und auch Zeitungen mitgebracht. Er betrat das kleine Ferienhaus und warf die Zeitungen auf den Tisch. Gene Potter war dreißig Jahre alt, mittelgroß und schlank. Den harten Killer sah man ihm nicht an. Mit seinem dichten, schwarzen Haar erinnerte er an einen Inder, zumal er eine sehr braune Hautfarbe besaß.

»Sensation auf der ganzen Linie, wie?« fragte Fatty Hitcham, der nach den Zeitungen griff.

»Kann man wohl sagen, Boß«, erwiderte Gene Potter. »Der Yard spielt verrückt und wird ganz schön durch den Kakao gezogen.«

Paul Corston und Will Beaford traten hinter Hitcham, um gemeinsam mit ihm die Schlagzeilen zu studieren. Paul Corston war zweiunddreißig Jahre alt, groß, schlank und besaß eine ausgeprägte Stirnglatze. Will Beaford – fünfunddreißig Jahre alt, rundlich und zur Korpulenz neigend – war die Freundlichkeit in Person. Er lachte gern und oft, breit und herzlich. Darüber vergaß man in fast allen Fällen die Kälte seiner Augen.

»Großfahndung! Wenn ich das schon lese!« Fatty Hitcham grinste. »In ein paar Tagen und Wochen ist alles eingeschlafen.«

Er wollte noch mehr zu diesem Thema sagen, doch sein Blick fiel auf eine weitere Schlagzeile. Er stutze, kniffte die Zeitung zusammen und beugte sich vor.

»Was ist denn das?« meinte er dann halblaut. »Lady Agatha Simpson hat sich in die Fahndung eingeschaltet? Diese irre Ziege!«

»Wer ist Lady Simpson?» fragte Gene Potter.

»Die kennt ihr nicht«, sagte Hitcham. »Zu unserer Zeit war sie in Frankreich.«

»Und wer ist diese Lady?« wollte Paul Corston wissen.

»Sie ist stinkreich und überdreht«, gab Hitcham zurück. »Ich habe im Zuchthaus von ihr gehört.«

»Und zwar?« Will Beaford zündete sich eine Zigarette an und nahm in einem Sessel Platz.

»Sie arbeitet mit ihrem Butler zusammen. Klar, steht ja auch im Interview. Sie behauptet, Moment mal, ja, sie behauptet, schon etwas wie ’ne heiße Spur zu haben.«

»Lächerlich.« Will Beaford schüttelte den Kopf. »Wer ist diese Lady, Boß? Was hat man sich im Bau über sie erzählt?«

»Ihr Butler und sie sind Amateurdetektive. Ihr könnt euch nicht vorstellen, Leute, wie viele sie ins Gefängnis oder Zuchthaus gebracht haben. Und jetzt kommt das Verrückte an der Sache: Die meisten von diesen Jungen sind noch nicht mal sauer auf sie. Sie finden, daß die Alte und ihr Butler ihnen guten Sport geliefert haben.«

»Diese Alte können wir vergessen«, warf Paul Corston ein.