cover

 

Teil I

Mamas Handschuhe waren aus Leder, sie fühlten sich an wie ihre Haut. Sie waren weich, mit ein paar kleinen Falten. Ich versuchte mir vorzustellen, sie seien blass, mit Fingernägeln und Adern. Ich war sieben Jahre alt, es war Vormittag, Mama schlief. Ich nahm einen der Handschuhe, ging raus in die graue Luft, es war windig, aber der Handschuh lag warm in meiner Hand. Wenn ich mich konzentrierte, glaubte ich, ihren Puls durch das Leder zu spüren. Wir gingen zum Laden, durch Baustellen und Auspuffgase und Nebel, ich kaufte am Kiosk ein Rosinenbrötchen, aß es in der nassen Luft, während ich den Handschuh in der anderen Hand hielt. Ich hatte Krümel im Gesicht und ließ sie vom Handschuh wegwischen. Es war Samstag, und Mama und ich gingen zusammen durch den Nebel.

Mama war totaler Fan von einer Frau, die mehr schrie, als dass sie sang, die eine Stimme wie Sandpapier hatte, und diese Stimme schnitt in mein Herz und rieb daran. Courtney Love war mein Wiegenlied. Auf Bildern posierte sie mit Lippenherpes und Wimperntusche wie Spinnenbeine, sie trug rosa Kleidchen, manchmal waren sie tief ausgeschnitten, manchmal hatten sie einen großen Kragen, wie ein Puppenkleid, sie hatte zerzauste Haare, roten Lippenstift und rote zugedröhnte Augen. Wenn Mama abends ausging, zog sie sich an wie Courtney Love, kurze rosa Kinderwhore-Kleider, Schuhe mit Knöchelriemen, kräftiger Lidstrich. Sie sah aus wie eine Katze, die stolz eine Maus im Maul trägt. Ich blieb in meinem Zimmer und starrte an die Decke. Ich nahm das Nachtbuch heraus, es lag in der Nachttischschublade und hatte ein Schloss, als ob es Mama interessieren würde, in meinen Sachen herumzuschnüffeln. Dort schrieb ich: »Es war einmal ein Mädchen, das hatte zwei Feinde, die Ängstlich und Traurig hießen, und es legte sie in eine Dose unter das Bett und wollte nie mehr an sie denken. Aber nachts scharrten Ängstlich und Traurig in ihrer Dose, so sehr, dass das Bett bebte, und das Mädchen konnte nicht einschlafen, und wenn es doch einschlief, machte ihm das bebende Bett Albträume.« Nachdem ich das geschrieben hatte, legte ich mich hin, und die Decke zitterte, und das Bett zitterte, und ich lag ganz still mit offenen Augen da. Am Ende schlief ich ein. Am Ende schläft man immer ein, aber bis zum Ende kann es lange dauern.

Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal versuchte, mein Herz auszuschalten, ich saß vor dem Fenster und wartete darauf, dass Mama nach Hause kam. Ich wollte nicht blinzeln, denn dann würde ich sie wegblinzeln, davon war ich fest überzeugt. Die Häuser, die Wohnblocks und die Menschen verschwammen, und alle Umrisse zerliefen zu Wasserfarben, wenn ich schwächer gewesen wäre, hätte ich eine Entschuldigung dafür gehabt loszuweinen. Schließlich blinzelte ich und dachte, jetzt hätte ich alles ruiniert. Ich blieb einfach sitzen und starrte hinaus in den Abend, der dunkler wurde, und auf die Autos, die weniger wurden, irgendwann waren fast alle Lampen in den Nachbarblocks verloschen. Und dann ging die Tür auf, und ich hörte auf dem Gang das Klappern von hohen Absätzen.

Bist du so spät noch auf?, fragte Mama.

Ich bin die Nachtwache, sagte ich.

Sie lächelte. Ich durfte in ihrem Bett schlafen, aber ich lag einfach nur da und starrte an die Decke, als ob ich noch immer auf etwas wartete.

Ich mochte den Geruch von frisch verlegtem Asphalt. Barfuß den sonnenwarmen Hang runterzugehen und Glasscherben, Kieselsteinen, Zigarettenstummeln auszuweichen. Die Blocks von Veitvet schliefen wie immer, während ich eine Art Traum war, der versuchte, von hier zu fliehen. Oft begegnete mir ein Kätzchen. Es strich sich an den Wänden entlang, klein, schwarz und leicht wie ein Schatten. Ich lockte es. Miez, Miez, komm her. Es kam zu mir. Rieb sich an meinen Beinen. Schnurrte. Die Ohren waren weich und steif zugleich, ich kraulte es hinter dem einen. Katzen waren in den Wohnblocks verboten, und außerdem wäre es anstrengend für mich, noch jemanden füttern zu müssen, aber ich stellte mir vor, dass diese Katze irgendwie mir gehörte. Sie gehörte mir eine halbe Stunde am Sommerabend, wenn ich sie aufhob und an meiner Brust ruhen ließ und die weichen Pfoten an meinem Herzen spürte.

Eines Morgens zu Hause war ich sicher, dass es mich nicht gab. Oder es gab Mama nicht. Eine von uns musste eine Lüge sein. Sie kam aus dem Schlafzimmer und ging ins Bad und aus dem Bad ins Schlafzimmer, direkt an mir vorbei. Wieder und wieder. Ich presste mir die Nägel in die Handflächen, ich war da, das merkte ich doch. Sie kam wieder aus dem Schlafzimmer, Haare und Körper und Gesicht sahen aus, als ob sie sich voneinander lösen würden. Ich stellte mich vor sie. Sie trat einen Schritt zur Seite, aber ich war schneller, egal in welche Richtung sie ging, ich stand schon da. Ich wartete darauf, dass sie mich bat, sie vorbeizulassen, aber sie sagte nichts, starrte einfach auf die Badezimmertür.

Lass den Scheiß, Charlotte, sagte sie endlich.

Ich blieb stehen, versuchte ihren Blick einzufangen, sie trat einen Schritt zur Seite. Dann ging sie an mir vorbei ins Bad.

Escada. Der Parfümflakon stand im Bad und war gelb und mit Blümchen bedruckt. Er roch süß, er roch nach Sonne, er roch nach Mama, die im Hinterhof den Rasensprenger einschaltete und vom Balkon aus zusah, wie ich hindurchsprang. Er roch froh, er roch nach heute gibt es warmes Essen, er roch nach bald ein neuer Vater. Ich schmuggelte den Flakon unter meinem Pullover in mein Zimmer und sprühte den Duft übers Kissen. Ich schlief ein, während die frohe Mama sozusagen neben mir lag, mir über die Haare strich und sagte, dass wir in die Ferien fahren würden. Die anderen in der Klasse fuhren nach Mallorca und Griechenland und Spanien. Wenn Mama einen besonders guten Tag hatte, sagte sie, dass wir das auch schaffen würden. Wenn wir etwas mehr Geld hätten. Wenn sie einen neuen Freund hätte. Ich schlief zum Duft von Escada ein, als ob ich meinen Kopf an Mamas Wange geschmiegt hätte.

Das Geräusch der Tafel. Der Geruch eines trockenen, stinkenden Schwamms. Die Schule war mein Versteck, mein Zufluchtsort. In den Pausen dribbelte ich mit den Jungs auf dem Schulhof oder saß mit Fahima auf der Treppe und erklärte ihr, wie es auf der Welt zuging.

Du hast keinen Vater, sagte Fahima, und bei ihr klang es wie ein Vorwurf.

Wovon redest du da?, fragte ich. Ich habe viele, du hast nur einen. Schau mich an, ich muss nicht warten, bis sie mich nerven, ich kriege einfach immer einen neuen, aber du hast die ganze Zeit nur den einen alten.

Fahima nickte, wir waren acht Jahre alt, und ich hatte wie üblich recht.

Die anderen aus der Klasse fingen schon an zu weinen, wenn sie nur vom Klettergerüst geschubst wurden, oder sie freuten sich, wenn ihnen jemand eine Lüge erzählte und behauptete, sie hätten die Rechenaufgabe richtig gut gelöst. Wir hatten Müllsammeltag, und ich trug einen weißen Plastikhandschuh, ich sah zu, wie die anderen zertretene Kippen und Schulmilchkartons aufsammelten. Ich begriff nicht, wozu das gut sein sollte, es kam doch die ganze Zeit neuer Abfall dazu. Ich sah Lisa an, sie hatte Wellen in den Haaren, ihre Mutter machte ihr jeden Tag neue Locken. Ich hob ein Schokoladenpapier vom Boden auf, mein Handschuh bekam schmutzige Erdflecken.

Du hast aber die Haare schön, sagte ich und strich mit dem schmutzigen Handschuh darüber. Sie sah mich mit strahlendem Gesicht an.

Danke, sagte sie.

Ich zog die Hand zurück, spreizte die Finger im Müllhandschuh. In der großen Pause hatte sie sich die Haare mit einem Gummi zusammengebunden, jetzt ging sie herum und starrte auf den Boden.

Hallo, sagte ich, was hast du mit deinen Locken gemacht? Die waren doch ganz cool.

Sie sah mich an, rannte zum Klo. Mehr war nicht nötig. Ich bin stark, ich bin stark, ich bin stark.

Bei Fahima roch es nach Gewürzen: Curry und Zimt. Es roch nach dem schweren Parfüm ihrer Mutter, Jasmin, glaube ich. Ihre Mutter war rund, und wenn sie sich vom Küchentisch weg zum Spülbecken bewegte, mussten wir aus dem Weg gehen, damit sie vorbeikonnte. Sie kochte Chana Dal. Ich sah auf ihre Hände, sie waren grob, keine Puppenhände wie bei Mama, sondern Hände, die die Vorhänge wegzogen, wenn sie morgens aufstand, die Frühstück machten, die ­Fahima über die Wange streichelten und winkten, wenn sie zur Schule ging. Sie drückte auch mich an sich, ich wollte mich wegdrehen, sie hatte Platz für mich, das hatte ich nicht.

Ich wurde von Geräuschen aus Mamas Schlafzimmer wach. Ich ging zu ihr, sie weinte und sagte, sie sei so verdammt allein. Ich versuchte, ihre dünne Hand zu halten.

Der ist bestimmt eh ein Blödmann, sagte ich.

Er hatte einen guten Job, sagte Mama, und dann weinte sie noch mehr.

Ich ging in die Küche und schnitt ein paar Scheiben Brot ab und machte Kaffee. Mama blieb im Bett liegen und starrte an die Decke, als ich mit dem Frühstück kam.

Ich hab keinen Hunger, sagte sie.

Es geht ums Überleben, sagte ich.

Genau, sagte Mama, es geht um gar nichts. Alle hauen einfach ab. Ich werde allein sterben.

Ich bin hier, sagte ich.

Ich nahm Kaffeesatz, Küchenpapier und Bananenschalen aus dem Mülleimer, Mama hatte die Sachen einfach so weggeschmissen, ohne sie in eine Tüte zu stecken. Dann drehte ich den Mülleimer um und ließ alles in einen Müllsack fallen. Ich fegte Kaffeesatz vom Boden auf und trug den Mülleimer in die Dusche, kippte grüne Seife rein und ließ heißes Wasser drauflaufen. Ich goss das schmutzige Wasser ins Klo, wischte den Mülleimer aus und legte einen Müllsack rein. Ich wischte über den Küchentisch, durch die Küchenschränke, durch den Kühlschrank, überall waren Flecken von etwas, das ich nicht kannte. Genau wie Mama, dachte ich, sie hat ebenfalls Flecken, die ich nicht begreife.

 

Wenn Lena im Frisiersalon einen Job für Mama hatte, sah ich Mama häufiger als sonst. Die Schule war um zwölf Uhr zu Ende, und danach ging ich in den Salon.

Da bist du ja, sagte Lena, kleine Prinzessin.

Ich las in der Elle. Ein guter Concealer ist das A und O beim Verdecken unerwünschter Flecken.

Mama kam heraus, hallo, Herzchen, sagte sie, wie gut, dass du kommst, ich habe jetzt Mittagspause. Wollen wir mal sehen, ob wir es schaffen, deine Nägel in Ordnung zu bringen.

Ich legte meine Hände auf den kleinen Tisch, während Mama mir die Nägel feilte und Basecoat und Nagellack und Topcoat auftrug. Sie benutzte Nagelfeilen und Rougepinselchen und Haarbürsten. Ich bekam eine französische Maniküre, ich war hübsch wie eine Puppe, ich war die Stärkste in der Klasse und die Klügste; ich konnte malnehmen, rechnen, lesen, schreiben und jetzt außerdem »Concealer« buchstabieren. Auf dem Heimweg spiegelte ich mich in einem Autofenster. Ich sah meine Hände an, sah die Nägel an, die Mama spitz gefeilt hatte, kleine Prinzessin, ich kratzte an der Autotür, bis es ganz deutlich zu ­sehen war.

In der Norwegischstunde schrieb ich eine Geschichte. Das Glasperlenmädchen. Es war einmal ein Mädchen, das weinte zum letzten Mal. Es zog alle Tränen auf eine Kette, die Tränen waren klar wie Glasperlen. Tagsüber steckte es die Kette in die Tasche und schmuggelte die Perlen in die Ranzen und Kleider der anderen Kinder in der Schule, und alle weinten und mussten auf den Gang oder nach Hause, während das Mädchen nur dasaß, mit trockenen Augen, die rot wurden, aber niemals feucht.

Mette, meine Norwegischlehrerin, gab mir die Geschichte zurück und fragte, ob ich nach dem Unterricht noch einen Moment bleiben könnte.

Du schreibst ja sehr gut, sagte Mette. Du hast Talent, sagte sie, sie nickte, während sie das sagte.

Ich nickte auch. Das war ganz richtig. Ich hatte Talent. Ich sah zum Fenster. Ich wollte weg.

Nach der Schule ging ich ins Glückszimmer. Ich ging schnell und drehte mich mehrere Male um, aber ich war allein, niemand beobachtete mich. Ich sah das Schild an, das Schild, das die schönsten zwei Wörter sagte, die ein Mensch hören kann: BIBLIOTHEK GEÖFFNET. Ich ging rein, vorbei an alten Männern, die Zeitung lasen, und weiter zur Kinderabteilung. Hier und ab und zu in der Schule konnten meine Gedanken tanzen – hier gab es Welten, die nicht meine eigene waren. Plötzlich verirrte ich mich in einer Geschichte über Elfen oder Hexen oder lachende Blumen, ich verlor den Faden und wusste nicht mehr, wo es weiterging. Dann hörte ich das vertraute Klappern praktischer Damenschuhe, ich drehte mich um, und da stand Rita. Rita lächelte. Sie hatte schmutzigblonde Haare wie eine staubige Landstraße im Sommer. Sie trug eine Brille und keine Schminke und einen grauen Fleecepullover, und sie war die schönste Frau der Welt.

Hast du die Brüder Löwenherz aus?, fragte sie.

Ja, sagte ich.

Du liest schnell, sagte sie.

Ich lese nachts.

Hat dir das Buch gefallen?

Es war schön, sagte ich. Es gefällt mir, dass man in eine andere Welt kommt, wenn man stirbt.

Rita wurde ernst.

Denk dran, dass du mir alles sagen kannst, sagte sie.

Niemand sollte mich Mama wegnehmen, niemand sollte die Liebe wegnehmen, die ich von ihr stahl, wenn sie schlief, wenn ich ihr mit einem Lappen übers Gesicht strich und sie mich nicht wegschob. Ich konnte Rouge und Grundierung entfernen, aber wenn ich versuchte, über ihre Augen zu wischen, fuhr sie zusammen, also ließ ich es sein. Ihr Gesicht war ohne Schminke nackt, fast wie das eines Kindes, ich fuhr mit den Fingerspitzen darüber. Ihre Haut war so weich, dass es wehtat. Ich legte ihr die Hand aufs Herz und spürte, dass es schlug, ich fragte mich, ob es auch für mich schlug, wenigstens ein bisschen. Wenn die, die du liebst, schläft, hast du eine Chance.

Es kam kein neuer Vater. Mama zerbröselte wie eine Schlaftablette auf der Zunge. Nachthemd und Schminke und Haut waren eine Schale um etwas, das nicht da war. Bist du wach?, fragte ich. Nur ein bisschen, sagte Mama. Ich ging ins Bad, betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Würde ich auch unter meiner Haut verschwinden? Ebenso weiß werden? Ich reckte mich vor dem Schrank und zog ihre Schminktasche heraus, darin waren alle Farben, alles, was sie rot lächeln und schwarz klimpern und blau zwinkern ließ. Ich verteilte die Creme im Gesicht. Sie sah aus wie eine klumpige weiße Masse. Ich dachte daran, wie wir in der Schule Gipsabdrücke voneinander gemacht hatten. Ich malte mir Lippenstift auf Mund und Wangen. Wenn Mama sich schminkte, wurde ihr krankes Gesicht weiß. Wenn ich mich schminkte, wurde mein Gesicht krank.

Mama zog die Vorhänge zu, damit kein Licht hereinkam, aber das Licht bahnte sich einen Weg durch die Ritzen. Ich ging raus und lief zu Fahima, ich hatte neue Schuhe, Mama hatte vom Sozialamt Geld für Frühjahrsschuhe bekommen. Fahimas Mutter hatte eine Schatulle über dem Fernseher, und ab und zu nahm sie zwei Zwanzigkronenstücke heraus und gab jeder eins. Jetzt könnt ihr euch was Leckeres kaufen, sagte sie, und ich fragte mich, wie viel wohl Fahimas Familie kostete. Wir fuhren eine Station mit der S-Bahn zum Linderud-Center und gingen sofort zu Brio. Fahima wollte Seifenblasen und Eis bei McDonald’s, aber wir hatten nicht genug Geld, deshalb nahm ich mir eine Dose Seifenblasen und schmuggelte sie unter meinem Pullover raus. Wir kauften uns bei McDonald’s jede ein McSundae und gingen an den alten Damen vor der Konditorei vorbei, die uns anlächelten, und weiter hinaus in die Sonne. Wir aßen das Eis auf dem Weg nach Hause. Fahima und ich liefen zwischen den Häuserblocks herum und machten Seifenblasen. Ich versuchte, von allem im Gehirn ein Echo zu erzeugen. Vom Seifengeschmack im Mund, wenn man blies. Von der Sonne, die in den Blasen schien, und von den Blasen, die alle Farben auf der ganzen Welt in sich trugen. Die hellsten und die dunkelsten. Sie platzten in der Luft und lösten sich auf. Sie platzten so schnell. Ich konnte das nicht ertragen.

Radiergummi. Papier. Bleistift. Davon bekam ich nie genug. Ich konnte etwas schreiben, konnte selbst entscheiden, was ich schreiben wollte, und wenn es mir nicht gefiel, konnte ich es ausradieren. In der Schule bestimmte ich. Ich konnte Geschichten schreiben über Monster, die das Sonnenlicht in Gläsern fangen, und über Kinder, die im Dunkeln herumtappen, um das Glas zu finden und zu öffnen. Oder ich stahl zu Hause einen blutigen Tampon aus dem Mülleimer, ­wickelte ihn in Klopapier, steckte ihn in eine Plastiktüte und ging zur Schule. Und als Lisa auf dem Klo war, stahl ich das Norwegischbuch aus ihrer Schultasche, nahm den Tampon aus der Plastiktüte und legte ihn zwischen die Seiten, sodass die Erklärung der männlichen und weiblichen Hauptwörter jetzt blutbefleckt war. Fahima stand vor dem Tisch Schmiere, während ich das machte, dann schob ich das Buch zurück in Lisas Schultasche. Als sie zurückkam, zog sie das Norwegischbuch heraus und schlug es an der Stelle auf, wo ein Faden heraushing. Alle schrien, und Lisa fing an zu weinen.

 

Mette sagte, ich sollte nach der Stunde noch bleiben. Sie seufzte.

Du bist doch so begabt, sagte sie. Weshalb benutzt du dein Talent, um andere zu quälen?

Ich will sie nur erziehen, sagte ich.

Das ist die Aufgabe der Eltern, sagte Mette.

Dann haben die das nicht gut genug gemacht, sagte ich.

Ich bestelle deine Mutter zu einem Gespräch, sagte Mette. Hast du dein Meldungsbuch dabei?

 

Nach der Schule ging ich in Mamas Zimmer, die Bettwäsche roch nach Tee, der wochenlang auf der Anrichte in der Küche gestanden hat, und legte Mettes Mitteilung auf den Nachttisch. Mama schlief in einem Hemd mit dem Aufdruck Carpe Diem. Ihr Schlaf hatte Risse. Mama schien doppelt so lange wie andere zu schlafen, weil sie beim Schlafen nur halb so viel schlief. Sie sprach im Schlaf, warf sich hin und her, die Decke wurde schweißnass. Ich nahm sie weg und hängte sie zum Trocknen auf den Balkon, holte eine neue und wechselte den Bettbezug, während Mama schlief.

 

Am Tag, an dem sie in die Schule bestellt war, saß Mama am Küchentisch. Ihr Blick war wach, klar.

Dann sehen wir uns nachher, sagte sie, und ich hätte gern gewusst, was sie vorhatte.

Das Gespräch sollte um zwölf stattfinden. Mama war pünktlich. In Jeans. Nur leicht geschminkt. Mette goss Kaffee ein, Mama nahm die Tasse. Ihre Hände zitterten ein bisschen. Mette nahm ein Kleenex und wischte auf.

Ja, sagte Mama, und ihre Stimme zitterte. Ich höre, dass Charlotte andere Kinder schikaniert. Das ist echt blöd.

Charlotte ist sehr begabt, sagte Mette. Sie zeichnet sich aus, jedenfalls in Mathe und Norwegisch.

Wie gut, sagte Mama und lächelte. Sie bringt Bücher mit nach Hause und liest sie, fügte sie hinzu und lachte, ein wenig zu laut und ein wenig zu lange.

Im Norwegischunterricht kommt jetzt die Beugung der Verben dran, und ich meine, das ist zu einfach für Char­lotte. Sie kann in der Stunde gern ihre eigenen Geschichten schreiben. Und sie kann das Mathebuch für die nächste Klasse bekommen, auf eigene Faust ein wenig damit ar­beiten.

Mama lächelte, und ihre Hände, mit denen sie die Kaffeetasse hielt, zitterten nicht mehr. Drei Pillen und Mama wurde wie die anderen Mütter. Keine oder zehn und sie zitterte wie verrückt, und der kalte Schweiß brach aus, oder sie lag im Bett und schlief oder versuchte zu vergessen.

Aber dieses Mobbing …, sagte Mette.

Ja, sagte Mama. Damit musst du aufhören, Charlotte.

Geht klar, sagte ich.

Bei mir zu Hause gab es für alles Routinen und feste Zeiten. Um 10.10: Guten Morgen, Norwegen. 13.55: Dr. Quinn. 14.45: McGyver. 17.30: Hotel Cæsar. 22.30: Alle lieben Raymond. Mama funktionierte nach zwei Stundenplänen, ich beherrschte beide. Der eine war die Pillenuhr. Die Pillen brauchten etwa eine halbe Stunde, dann wirkten sie für einige Stunden, dann brauchte Mama Nachschub. Wenn sie die Pillen genommen hatte, lächelte sie, drückte mich an sich, nahm Lebensmittel aus dem Kühlschrank, wenn wir welche hatten, und wir aßen. Käse, Brot, Süßigkeiten. Dann ging sie ins Bett, nahm vielleicht noch eine Pille, um schlafen zu können, und ich setzte mich zu ihr und sah sie an, fuhr mit den Fingern über die Konturen ihres Gesichts. Ich fragte mich, ob sie mir im Schlaf etwas sagen wollte, vielleicht, dass sie mich lieb hatte, aber sie gab nur ein undeutliches Gemurmel von sich. Einmal glaubte ich, dass sie meinen Namen genannt hätte, aber es konnte auch etwas gewesen sein, das sich so ähnlich anhörte.

Es gab einen Heiligabend, der anders war, ich war fast zehn. Mama war mit dem besten aller Väter zusammen, die ich je gehabt habe, Yassine. Er hatte ihr geholfen aufzuräumen und zu schmücken, und als ich aufwachte, war alles neu. Sie hatten Sterne ins Fenster gehängt. Mama trug keine Schminke, ihr Gesicht war nackt und ehrlich. Ihre Wangen wurden jedes Mal rot, wenn sie Yassine ansah. Sie hatten einen Plastikweihnachtsbaum aufgestellt, und Yassine machte Pitabrot mit Hummus, denn etwas anderes konnte er nicht. Wir tranken Weihnachtslimo. Zum Nachtisch gab es Reispudding, richtig schön angerichtet, in Schüsselchen. Ich fand die Mandel, und Yassine zog ein Geschenk hervor. Du machst doch deine Puppen immer kaputt, sagte er, also bekommst du etwas, das ein paar Tritte vertragen kann. Es war ein Fußball mit den Autogrammen der gesamten Na­tional­mannschaft. Damit können wir im Sommer spielen, sagte Yassine, und ich fragte mich, wie lange ein Sommer dauern kann. Ich bekam noch andere Geschenke, eine Schminkpuppe und Zeichensachen, und am Ende durfte ich Mama und Yassine zeichnen. Ich hatte Mama oft im Schlaf gezeichnet, aber nun lächelte sie, richtig lebendig. Bist du jetzt mein Vater?, fragte ich Yassine, und er lachte und sagte, wir seien jedenfalls eine Familie. Dann schrieb ich »Für Mama und Papa am schönsten Heiligabend aller Zeiten« auf die Zeichnung. In dieser Nacht blieb ich bis zum Morgen wach, ich hatte Ohrensausen, und die Welt war unwirklich, aber ich wusste, dass alles verschwinden könnte, wenn ich zuließ, dass der Tag aufhörte.

 

Der Heiligabend dauerte ein Jahr. Yassine ging mit mir zum Eishockey, ich sah zu, wie er mit seinen Kumpeln trainierte, danach trainierten wir. Auf dem Rückweg kauften wir ­Kakao, meine Hände waren kalt, und die Tasse war heiß, der Geschmack erfüllte mich mit etwas, das meine Brust so warm werden ließ, dass ich dort drinnen zu schmelzen glaubte. Der Frühling kam, und wir tricksten mit dem Fußball auf dem Hinterhof, ich kannte Hunderte von Tricks. Von Mama hatte ich eine Menge nützlicher Sachen gelernt. Meine Gefühle in eine Dose zu legen und meine Tränen in ein Marmeladenglas. Von Yassine lernte ich Balltricksereien.

Du bist ein feines Mädchen, sagte Yassine, und er umarmte mich, und ich wich nicht aus.

 

Im Juli fuhren wir in die Ferien. Yassine mietete einen Wohnwagen, und wir fuhren nach Schweden. Als wir nach Svinesund kamen, kauften wir mehrere Kilo Süßigkeiten, Mama sagte, es müsste Süßigkeitenläden nur mit Pillen für Erwachsene geben, und alle lachten. Ich bekam Eis und kleckerte ins Auto, und Yassine wurde sauer, und ich wurde traurig, aber auch froh, denn es bedeutete, dass das, was ich tat, etwas zählte. Yassine legte marokkanische Musik ein, Mama bewegte den Kopf, ließ ihre langen dunklen Haare tanzen. Als wir ankamen, schloss Yassine den Wohnwagen auf. Es roch muffig und nach Plastik. Ich sog den Geruch in mich ein.

 

Yassine brachte mir bei, im Meer Quallen zu fangen. Das seien die Schneebälle des Sommers, sagte er, man könne damit Leute bewerfen, die man ärgern wollte, sie waren glitschig und kalt. Yassine und ich wollten baden, ich spürte Tang unter den Füßen, das Wasser war kalt, und Yassine bespritzte mich damit. Wir lachten und schwammen zusammen hinaus. Ich tauchte mit dem Kopf unter Wasser, und die Welt wurde weich und verlor ihre Bezugspunkte. Ich schwamm aufs Land zu, und als ich wieder stehen konnte, nahm ich eine Qualle in die Hand. Mama lag auf dem Bauch und sonnte sich.

Jetzt müssen wir so still sein wie Gedanken, sagte Yassine.

Aber meine Gedanken waren überhaupt nicht still, sie lärmten jede Nacht so sehr, dass ich nicht schlafen konnte. Sie lärmten auch am Tag, während Mama in der Sonne döste. Ich schlich mich zu ihr und legte ihr die Qualle auf den Rücken. Mama schrie auf. Sie fuhr hoch. Die Qualle fiel auf das Handtuch, und Mama warf das Handtuch weg, dann lachte sie auch.

Ihr müsst das … Dings wegschaffen, sagte sie.

Ich watete los und ließ die Qualle ins Meer fallen und schwamm hinaus, aber nicht um zu flüchten.

 

Zurück in der Stadt spielten wir Crash Bandicoot. Crash sollte Dr. Cortex ausschalten, und ich drückte, so fest ich konnte, auf den Knopf, ich stürzte mich auf ihn, ich bewarf ihn mit Kisten voller Sprengstoff, er sollte sterben, sterben, sterben.

Du musst ruhig bleiben, sagte Yassine, taktisch denken. Aber ich wollte nur gewinnen, und ich trat voll auf eine ­Kiste Dynamit, GAME OVER. Mama kam ins Wohnzimmer, sie trug ein Nachthemd, ihre Haare standen nach allen Seiten ab.

Ihr hättet mich wecken können, sagte sie.

Ich dachte, du wolltest schlafen, sagte Yassine.

Sie ging in die Küche, kam zurück und sah uns an.

Charlotte, sagte sie, kannst du nicht draußen spielen oder so?

Wir sind mitten in einem Spiel, sagte Yassine.

Genau, sagte Mama, das dachte ich mir schon.

Sie ging die Treppe hoch und stand erst wieder auf, als es Abend geworden war.

 

Eines Tages, als ich aus der Schule nach Hause kam, hörte ich durch die Wohnzimmertür einen Streit. Ich blieb auf dem Gang stehen, nahm eine Mütze vom Haken, sie roch nach nasser Wolle und Yassine, ich nahm den Geruch in mich auf. Der Regen war durch meine Schuhe und Socken gedrungen, ich zog sie aus und stand barfuß auf dem kalten Boden, und Yassine kam heraus und wollte mich umarmen, ich wich aus.

 

Da. Weg. Da. Weg. Ich sah Mütter mit ihren Kindern spielen, sie hielten sich die Hände vors Gesicht und nahmen sie wieder weg. Die Kinder lachten, sie hielten es für ein Spiel.

Mama trank nicht so oft, aber wenn, dann richtig. Als ich aus der Schule kam, war mir klar, dass sie zum Alkohol­laden gegangen sein musste, und in gewisser Hinsicht war das ein Fortschritt. Sie nahm zwei Pillen als Vorspeise, und dann kam der Wein.

König Alkohol, sagte sie. Endlich ein Mann, der treu ist.

Nach einer halben Flasche fing sie an, Yassine anzurufen, dreimal. Er ging nicht ans Telefon.

Kannst du nicht einfach anrufen und eine Nachricht hinterlassen, damit er zurückruft?

Sie schleuderte das Telefon weg:

Ich bin so einsam, dass ich nicht einmal Leute habe, die ich im Suff anrufen kann!

Sie nahm noch eine Pille und einen Schluck aus der Flasche.

Vielleicht sollten wir schlafen gehen, sagte ich, es ist spät.

Aber Mama ging in die Küche und öffnete noch eine Flasche. Sie trank konzentriert und entschlossen. Carpe diem. Dann sank sie in sich zusammen. Ich fand, es sei jetzt genug, und nahm die Flasche.

He, sagte Mama.

Sie versuchte aufzustehen, fiel aber zurück aufs Sofa. Ich ging in die Küche und wollte den Wein in den Ausguss kippen, aber dann kam mir plötzlich eine bessere Idee. Ich hob die Flasche an den Mund und trank einen Schluck. Ich trank noch einen und noch einen, und die Welt wurde wärmer. Ich lehnte mich ans Spülbecken. Das ist mein Ding, dachte ich, das kann ich. Ich trank mehr, und der Boden wiegte mich wie eine Mutter. Ich hatte das Gefühl, Mama jetzt viel besser zu verstehen.

Sie lag im Wohnzimmer auf dem Sofa und starrte vor sich hin.

Charlotte, sagte sie, wo ist der Wein, hat der mich auch verlassen?

Ich beugte mich zum Tisch vor, und auf einmal musste ich kotzen.

Großer Gott, Herzchen, sagte Mama, bist du betrunken?

Sie stand auf. Ich sank auf dem Sofa zusammen, und sie wischte die Kotze vom Couchtisch, mit etwas unsicheren Bewegungen, aber ansonsten ziemlich zielstrebig und effektiv. Sie nahm einen Lappen und wischte mir übers Gesicht, half mir in mein Zimmer und holte einen Eimer. Sie legte sich neben mich und streichelte meine Wange, bis ich eingeschlafen war; als ich aufwachte, lag sie immer noch neben mir, mir war schlecht, und ich hatte Kopfschmerzen, aber ich war nicht mehr elternlos.

Als Yassine fort war, meinte Mama, es habe keinen Sinn zu putzen, wo die Wohnung am nächsten Tag ohnehin wieder schmutzig sein würde. Es habe keinen Sinn zu essen, denn nach einigen Stunden sei man doch wieder hungrig. Und es habe keinen Sinn aufzustehen, denn man müsse sich ja sowieso bald wieder hinlegen. Sie hatte eine Erkenntnis gehabt, und während ich Wäsche wusch, Fertigmahlzeiten in der Mikrowelle warm machte und staubsaugte, lag sie im Bett und wusste alles besser. Ich fragte mich oft, wie es wohl wäre, das Leben schlafend zu verbringen, wie Mama, und in vieler Hinsicht konnte ich begreifen, warum sie sich dafür entschieden hatte. Sie bleibe auf diese Weise dünn, sagte sie, schließlich verschlafe sie die Mahlzeiten. Und Männer wollten kleine Frauen, dünn wie Papierpuppen, die sie ganz leicht aufheben und ganz leicht wieder wegwerfen konnten.

Ängstlich und Traurig lagen in der Dose, aber sie polterten unter meinem Bett herum. Das Bett bebte, und die Decke zitterte, und alles um mich herum zitterte ebenfalls. Warum schlägt mein Herz, warum atme ich, warum schwitze ich? Wütend war nicht in der Dose. Wütend war mein bester Freund, und ich schlug mit der Faust gegen die Wand. Ich stand auf und ging zu Mama rüber, ich sagte, ich kann nicht schlafen. Sie machte die Augen nicht auf. Ich stieß sie an, ich zog sie an den Haaren, sie drehte sich um und murmelte etwas im Schlaf, aber sie wachte nicht auf. Sie stahl meinen Schlaf, denn für jede Stunde, in der sie schlief, verlor ich eine. Es lag an den Dornröschenpillen. Ich öffnete ihre Nachttischschublade und fand Pillen mit einem roten Warndreieck auf der Packung. Ich nahm eine Pille und schluckte sie ohne Wasser herunter, sie schmeckte wie Pappe. Nach einigen Minuten verschwamm alles in meinem Gehirn. Ich ging in mein Zimmer, Ängstlich und Traurig schliefen tief. So leicht waren sie dazu zu bringen, mich in Ruhe zu lassen. Ich war zehn Jahre alt und hatte einen Weg gefunden.