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Meeting

Andreas Leuchtenberg verließ das Meeting vorzeitig kurz nach elf. Er lief, die Unterlagen für das neue Computerprogramm in der Hand, durch den schmalen Flur zurück in sein Büro, ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und fasste den folgenschwersten Entschluss seines Lebens.

Früh am Morgen hatte er Sehins Vater am Busbahnhof getroffen. Fast hätte er den alten Mann nicht erkannt. Beschwerlich gehend kam er den Fußgängerüberweg herunter, vorsichtig jede Stufe nehmend, sich mit der rechten Hand am Geländer stützend. Nach jedem Treppenabsatz hielt er inne, schwer atmend. Sein Schnurrbart war weiß geworden, aufgeschwemmt wirkte er und müde. Leuchtenberg war vor dem Fußgängerüberweg stehen geblieben, obwohl er zunächst rasch weitergehen wollte. Und dann stand ihr Vater vor ihm, aber blickte ihn nicht an.

»Sehin geht es gut. Macht eigene Modenschau in Istanbul«, sagte er und sah weiter an Leuchtenberg vorbei, wandte sich ab und schlurfte weiter, vorsichtig, als habe er jeden Schritt zu bedenken.

Leuchtenberg sah ihm noch eine Weile nach. War das der Mann, der ihnen als Kinder Ringertricks beigebracht hatte? Der Mann mit dem struppigen Schnauzbart, schwarz, als wäre er mit Schuhcreme eingeschmiert? Sehin hatte ihm erzählt, wie sie als kleines Kind immer an einem der beiden Bartzipfel gezogen hatte und sich freute, wenn ihr Vater dann sein Gesicht in diese Richtung neigte. Schnell hätte sie an dem anderen Ende gezogen, und sein Gesicht sei wie ein Pendel in die andere Richtung ausgeschlagen, sodass er ganz lustig mit dem Kopf gewackelt habe, gerade wie sie, die kleine Sehin, das wollte.

Die Gestalt von Sehins Vater hatte sich längst im morgendlichen Betrieb des Busbahnhofs verloren, doch Leuchtenberg stand noch immer vor dem Treppenaufstieg des Fußgängerübergangs. Sehins Gesicht war in ihm aufgestiegen. Zunächst das lachende Kindergesicht, dann aber wurde ihr Antlitz erwachsener, und er sah ihre fragende Miene, als er sie bat, nicht neben ihm zu gehen auf dem kurzen Weg von der Mensa zum Studentenwohnheim, er sah, wie sie erstarrte und Schmerz ihr Gesicht zerwühlte, wie sie sich dann umdrehte und mit diesem unvergessenen schnellen Schritt davonstürmte.

Leuchtenberg war zu seinem Auto zurückgegangen, im Wagen hatte er sich eine Zigarette angesteckt. Er saß eine Weile da und rauchte. Dann entschied er, es sei nun genug, er verscheuchte Sehin, wie er sie damals aus seinem Hirn vertrieben hatte, startete den Motor und fuhr zur Firma.

Doch bevor er zu dem Meeting aufbrach, hatte er im Internet nach Modenschauen in Istanbul gesucht. Eine der von der Suchmaschine ermittelten Web-Seiten kündigte eine Modenschau an, die in sechs Tagen in einem Hotel stattfinden sollte, das sich Pera Palas nannte. Er suchte auf der Seite nach Sehins Namen oder nach einem Bild von ihr, aber er fand weder das eine noch das andere. Er griff die Mappe mit den Unterlagen des neuen Computerprogramms, straffte seinen Brustkorb und hastete hinüber zum Konferenzzimmer.

Noch auf dem Weg durch den Flur überlegte er, ob das Konferenzzimmer bald »Meetingroom« heißen würde. Vor zwei Jahren hatte der alte Herr Gehring die Geschäftsführung seinem Sohn übergeben. Seither hatte sich vieles geändert. Nicht nur, dass Besprechungen nun »Meetings« hießen. »Umstrukturierung« war das Lieblingswort des Juniorchefs. Er ließ einige neue Softwareprogramme schreiben; das Softwareprojekt, das nun im Meeting vorgestellt werden sollte, betraf Leuchtenbergs Arbeitsbereich.

Leuchtenberg war bei der Gehring Verpackungsmaschinen GmbH für das Angebotswesen zuständig. Jedes Angebot, das die Firma verließ, war von ihm kalkuliert und trug seine Unterschrift: i.V. Leuchtenberg. Die Kunst seiner Tätigkeit bestand darin, sich in seiner Fantasie die geplante Maschine vorzustellen, sie zu zerlegen und sich den Produktionsprozess eines jeden Einzelteiles genau vorzustellen. Für jedes einzelne Teil erstellte er einen Arbeitsplan. Er berechnete den Zeitaufwand für das Zuschneiden der Bleche, addierte die Transportzeiten vom Lager in die Zuschneiderei und multiplizierte jede Zeit mit Stundensätzen, die er aus langjähriger Erfahrung gewonnen hatte. Er kannte die Zeiten der Arbeitsprozesse für das Biegen und Stanzen und für das anschließende Punktschweißen und Glühen. Er wusste, wie viel die auswärtige Galvanikfirma für das Verzinken berechnen durfte, und überblickte die Kosten für Verpackung und Transport. Ihm machte keiner etwas vor.

Früher hatte Leuchtenberg für seine Kalkulationen Tabellen und Listen erstellt, in denen er Arbeitszeiten und Materialkosten notierte. Und früher war er noch häufig in den zweiten Stock gegangen, wo die Konstrukteure hinter ihren Zeichenbrettern oder vor ihren CAD-Bildschirmen saßen, und er befragte die Arbeitsvorbereitung nach der vorraussichtlichen Dauer der zu planenden Arbeitsvorgänge. Oder er sprach mit den Meistern der Fertigung: Wie lange braucht der Werkzeugbau zur Herstellung dieses oder jenes Werkzeuges? Doch im Laufe der Zeit hatte Leuchtenberg seine Methoden verbessert, und heute konnte er im Nu in seinen Datenbanken ähnlich konstruierte Teile suchen und finden und musste nur noch die Änderung gegenüber dem ursprünglichen Werkstück kalkulieren.

Der alte Herr Gehring hatte immer gewusst, was er an Andreas Leuchtenberg hatte. Ihm war nicht nur klar gewesen, dass er an jeder Maschine Geld verdiente, die Leuchtenberg kalkuliert hatte, sondern auch, wie hoch exakt sein Gewinn jeweils war.

Deshalb hatte der Alte ihm hin und wieder seine Wertschätzung gezeigt. Nicht, dass er Leuchtenbergs Gehalt angehoben hätte, nein, diese Art der Anerkennung mochte der Alte nicht, sie war ihm regelrecht zuwider, denn selbst jetzt, nach den vielen Jahren bei Gehring, verdiente Leuchtenberg nur ein paar Euro mehr als die anderen seiner Tarifgruppe. Stattdessen hatte der alte Chef ihn und Ilse einmal im Jahr zum Essen nach Stuttgart eingeladen. Meist saßen sie in der Wielandshöhe und sprachen über die Firma. Leuchtenberg mochte diese Abende, und Ilse mochte sie auch, zumindest in den ersten Jahren, als sie sich noch gut verstanden.

Natürlich wurde er auch zur jährlichen Klausur der Führungskräfte eingeladen. Vor sechs Jahren hatte er sogar einen kleinen Vortrag über seine Arbeit gehalten. »Der Erfolg eines Auftrages entscheidet sich beim Angebot«, war sein Tenor. Hier würde bereits festgelegt, ob beim Bau einer Verpackungsmaschine Gewinn für die Firma hängen blieb. Wird ein Auftrag zu knapp kalkuliert und geschieht in der Fertigung etwas Unvorhergesehenes, dann verlieren wir Geld. Leuchtenberg erinnerte sich noch genau, wie er an dem Pult stand, beide Hände seitlich den Rand festhaltend. Er fühlte sich ein bisschen wie ein Politiker, und er kam sich wichtig vor. Ein gutes Gefühl.

»Es ist für uns nicht gut, einen Auftrag zu fertigen, bei dem wir Geld verlieren. Den überlassen wir lieber und gerne der Konkurrenz«, hatte er gesagt, die Kollegen im Saal schmunzelten, und als er sich nach der Rede auf seinen Platz gesetzt hatte, war der Senior aufgestanden und hatte ihm gratuliert. Vor allen anderen Kollegen.

Aber diese Zeiten waren passé.

Seit einem Jahr belagerten Leuchtenberg drei Typen von der Consultingfirma Petterson & Partners, die der Junior beauftragt hatte. Sie wollten ein EDV-Programm erstellen, das die Kalkulation automatisch erledigte. Frau Peckhaus, die frühere Sekretärin des Seniors, hatte ihm vertraulich berichtet, der Junior wolle das Programm allen Verkäufern mitgeben, damit sie an Ort und Stelle beim Verkaufsgespräch ein Angebot erstellen könnten. Leuchtenberg hatte das nicht glauben wollen, und als er die »Drei von der Tankstelle«, wie er die Mitarbeiter der Beratungsfirma insgeheim nannte, danach befragt hatte, wer mit diesem Programm später einmal arbeiten sollte, sagte einer von ihnen, es ginge nur darum, ihm die Arbeit zu erleichtern.

Leuchtenberg bezweifelte, dass man seine Arbeit automatisieren könne. Jede Maschine war neu, hatte ihre Besonderheiten, all das konnte ein Verkäufer nicht einschätzen. Er hielt den Auftrag an die Drei von der Tankstelle für verschleudertes Geld, und vor ein paar Monaten war er zum Junior gegangen und hatte es ihm gesagt.

Dessen Reaktion verblüffte ihn. Der Junior hörte sich seine Rede lächelnd an und sagte dann, er erwarte, dass Leuchtenberg vollständig mit Petterson & Partners kooperiere. Er sei ein verdienter Mitarbeiter, aber auch verdiente Mitarbeiter dürften sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen, denn jetzt müsse die Firma sich neue Ziele stecken und in neue Dimensionen aufbrechen, und jeder der älteren Mitarbeiter müsse selbst entscheiden, ob er auf diese Reise mitwolle.

Bei dieser Gelegenheit erfuhr Leuchtenberg zum ersten Mal, dass er als älterer Mitarbeiter betrachtet wurde.

Ich bin vierzig, hatte er einwenden wollen, aber war zu verblüfft gewesen, um überhaupt irgendetwas zu sagen.

Der Juniorchef (seit er alleiniger Geschäftsführer war, verbot er sich den »Junior«, aber jedermann in der Firma nannte ihn weiterhin so) kam wie immer zehn Minuten zu spät zum Meeting. Er fläzte sich in den Sessel, die Beine lang gestreckt, und gab den Dreien von der Tankstelle lässig ein Zeichen.

»Dann zeigen Sie mal, was Sie draufhaben.«

Der Ältere der Tankstellenbande stand auf und trat zum Tageslichtprojektor. Er legte eine Folie auf. Sie zeigte, Leuchtenberg sah es sofort, die ME 320, die neueste Maschine aus dem Gehring-Programm: zum Verpacken von Kaffeesahne in kleine Portionsbehälter, die in Cafés und Kantinen gereicht werden.

»Diese Maschine«, sagte er, »besteht aus 22 300 Einzelteilen, einige kauft Gehring ein, aber die meisten stellen wir selbst her und montieren sie.«

Er legte die nächste Folie auf.

Kalkulationsaufwand – herkömmlich, las Leuchtenberg. Darunter standen einige Zahlen.

Der Mann fuhr fort: »Herr Leuchtenberg benötigt zur manuellen Kalkulation etwa zweieinhalb Wochen: Definition der Teile, Festlegung der Einkaufskosten für die Bestellteile, Erstellung der Stückliste, Planung und Kalkulation der Arbeitsgänge und so weiter und so weiter.«

Er legte eine dritte Folie auf.

»Wir alle wissen, Herrn Leuchtenbergs Kalkulationen sind sehr präzise. Und er kommt zu dem Ergebnis, wir können diese Maschine für 1,43 Millionen Euro verkaufen. Und das haben wir dann auch gemacht.«

Leuchtenberg mochte es nicht, wenn dieser Mann von »wir« sprach. Er gehörte nicht zur Gehring-Familie. Er kam von außen.

Der Mann trat nun an den Tisch neben dem Projektor und schaltete einen Laptop ein.

Er wandte sich an die Zuschauer: »Jetzt kalkulieren wir die gleiche Maschine noch einmal. Mit dem Programm, das wir entwickelt haben. Und ich bitte jemanden nach vorne, der keine Erfahrung mit Kalkulationen hat, jemand, der im Vertrieb tätig ist.«

Er zeigte auf Eduard Brauner, der das Verkaufsbüro in Barcelona leitete. Leuchtenberg wunderte sich, dass dieser an dem internen Meeting teilnahm. Brauner stand auf, schüttelte sich ein wenig, als sei er verlegen, stiefelte dann mit steifen Schritten nach vorne an den Laptop und setzte sich.

»Jetzt rufen Sie das Programm auf und geben Sie den Namen der Maschine ein.«

Ein Beamer projizierte den Bildschirm des Computers auf die Leinwand des Besprechungszimmers, sodass jeder im Raum verfolgen konnte, was Brauner am Rechner eingab.

Als die erste Bildschirmmaske erschien, tippte er ME 320 in das Textfeld. Das Programm fragte ihn nun zum Charakter der geplanten Verpackungsmaschine. Brauner brauchte nicht mehr als »Ja« oder »Nein« anzuklicken. Dann wurden ihm verschiedene Kaufteile angeboten, Brauner klickte, und Leuchtenberg sah auf der Leinwand langsam die Stückliste der ME 320 entstehen, weitere Kaufteile erschienen, Fertigungsschritte wurden vorgeschlagen und ausgewählt, Prozentsätze und Aufschläge erschienen und wurden akzeptiert.

Leuchtenberg erkannte die vielen Daten und Zeitangaben, die er alle gesammelt hatte, die sich nun an der richtigen Stelle anboten und von Brauner per Mausklick akzeptiert wurden.

Er spürte die Hitze in seine Wangen steigen. Wahrscheinlich, dachte er, sitze ich mit hochrotem Kopf hier in der Sitzung, aber er konnte den Blick nicht von der Leinwand wenden, wo die ME 320 immer mehr an Kontur gewann, sich aus immer mehr kalkulierten Teilen zusammensetzte. Und nach kaum vierzig Minuten erschien eine Abfrage »Verkaufspreis feststellen«, und Brauner klickte auf »Ja« – und die Maschine gab eine Zahl aus, als habe sie die ganze Zeit auf diesen Augenblick gewartet.

1 424 145,92 € stand da, und Leuchtenberg spürte, wie das Blut aus seinem Kopf wich. Ihm wurde flau im Magen, und er hielt sich wie beiläufig an der Tischkante fest, als müsse er befürchten, in eine Ohnmacht zu sinken.

Der Junior sah ihn und grinste: »Na, Leuchtenberg, da brauchen wir Sie ja gar nicht mehr!«

Im Saal herrschte Schweigen, und Leuchtenberg fühlte die Blicke der Kollegen auf sich gerichtet, als wären es Speere. Er stand auf, raffte seine Unterlagen zusammen und verließ den Besprechungsraum.

Als er sich in seinem Büro auf den Schreibtischstuhl fallen ließ, atmete er immer noch schwer. Er rief das Internet auf und überprüfte noch einmal den Termin der Modenschau im Hotel Pera Palas.

Dann rief er den Personalchef an. Die Lüge ging ihm glatt über die Lippen. Ein Todesfall? Zehn Tage Urlaub? Ja, sicher. Jemand aus dem engeren Familienkreis? Mein Beileid. Schicken Sie eine kurze Benachrichtigung per Mail.

10 – die Kurzwahl für seine Wohnung. Niemand nahm ab, und nach dem vierten Klingeln hörte er seine eigene Stimme auf dem Anrufbeantworter: »Hier sind Ilse, Ute und Andreas Leuchtenberg, wir sind im Augenblick nicht zu Hause. Sie können uns jedoch eine Nachricht …« Er legte den Hörer zurück.

Ilse war nicht wieder zurückgekommen. Langsam tippte er ihre Handynummer in sein Telefon.

»Hallo, richtige Nummer, falsche Zeit«, hört er seine Frau sagen und wunderte sich, wie fröhlich ihre Stimme klang, »im Augenblick kann ich nicht abnehmen. Aber sprechen Sie einfach nach dem Piepton. Ich melde mich dann. Versprochen.«

Er unterbrach die Verbindung.

Leuchtenberg stand auf und legte den durchsichtigen Plastikumschlag mit den Unterlagen in die unterste Schublade seines Schreibtischs. Dann schloss er ab und reihte den Schlüssel neben Büro- und Haustürschlüssel und steckte den Schlüsselbund in die Hosentasche.

Er ging ins Vorzimmer. Helga Bessel saß hinter dem Computer, den schmalen Hörer des Diktiergerätes über den Kopf gezogen, und tippte konzentriert einen Brief in den Rechner. Sie bemerkte ihn nicht. Erst als er ihr winkte, sah sie auf und lachte und nahm mit einer schnellen Bewegung den Kopfhörer ab.

»Ich habe Urlaub genommen« sagte er, »für zehn Tage. Wegen eines Todesfalls in der Familie.«

Er sah, wie sich ihr Mund zu einem großen A öffnete, das unweigerlich ein »aber« werden würde.

Er winkte ab.

»Bitte sag alles ab. Es geht nicht anders.«

Noch bevor sie ihn an die drei wichtigen Kundengespräche in der nächsten Woche erinnern konnte, schloss Leuchtenberg die Tür hinter sich.

Als er in seinem Wagen saß, fiel ihm ein, dass sein Mantel noch an der Garderobe in Helga Bessels Büro hing.

Merkwürdig: Zum ersten Mal in seinem Leben reiste er, ohne dass irgendjemand wusste, wo er hinfuhr. Meinen Mantel werde ich nicht brauchen, dachte er, in Istanbul ist bereits Sommer.

Turbulenzen

Vor dem Schalter von Türkisch Airlines stauten sich die Passagiere bis zu dem Kiosk am Ausgang der Halle. Andreas Leuchtenberg holte das Ticket am Info-Deck der Fluggesellschaft ab und stellte sich hinter einen alten Türken mit grauem Bart in die Schlange. Der Mann trug einen braunen gesteppten Anorak, und über den Kopf hatte er eine grüne Pudelmütze gezogen, die besser zu einem Rapper gepasst hätte, wenn sie schwarz gewesen wäre. Hin und wieder, wenn die Schlange aufrückte, schob der Mann seinen Gepäckwagen ein Stück weiter, der überladen war mit fünf alten Koffern, die von grauen Gummibändern notdürftig zusammengehalten wurden. Neben ihm stand eine dicke ältere Frau, deren Vollmondgesicht unter einem hellblauen Kopftuch hervorlugte. Sie trug einen graubraunen Mantel, der sie bis zu den Füßen umschloss wie ein Rundzelt. Die Frau zog ständig ein Handy aus den Weiten dieses Mantels, überprüfte den Eingang neuer SMS, doch die Nachricht, auf die sie wartete, schien nicht einzutreffen.

Die Abfertigung zog sich endlos dahin. Es dauerte über eine Stunde, bis Leuchtenberg endlich im Flugzeug saß, einer zuverlässigen Boeing 737, wie er mit einem Blick durch das Fenster der Gangway feststellte. Er quetschte sich in seinen Sitz am Gang im hinteren Teil der Maschine. Neben ihm auf dem Fenster- und dem Mittelplatz saßen zwei Türkinnen mit schwarzen Kopftüchern. Sie unterhielten sich. Kaum hatte Leuchtenberg sich angeschnallt, drehte sich die Frau auf dem Mittelplatz zu ihm um. Leuchtenberg blickte in ein vom Dunkel des Kopftuches umrahmtes Mondgesicht, ein Eiterpickel leuchtete aus ihrem Mundwinkel. Sie sprach ihn auf Türkisch an.

»Entschuldigung«, sagte er, »ich kann leider kein Türkisch.«

Die Frau sprach schnell weiter, ihre Stimme wurde lauter, schriller und ging schließlich in ein leichtes Kreischen über. Auch die ältere Frau mit Brille auf dem Fensterplatz redete auf ihn ein.

Leuchtenberg versuchte es auf Englisch. Ohne Erfolg. Plötzlich stand ein junger Türke in einer schwarzen Plastikjacke neben ihm und zog an seinem Ärmel. Leuchtenberg verstand nicht, was die drei von ihm wollten, und war froh, als eine Stewardess dazukam und mit den beiden Frauen sprach.

Die Türkinnen steigerten ihre Lautstärke, und die alte Frau am Fenster wies mit dem Finger auf ihn und hob dann händeringend beide Arme in Richtung Flugzeugdecke.

Leuchtenberg dachte, etwas an ihm sei nicht in Ordnung, und prüfte mit einer schnellen Bewegung seinen Hosenschlitz. Er stand nicht offen, aber die beiden Frauen steigerten sofort ihr Lamento, und der junge Türke zerrte ihn schmerzhaft am Arm.

»Die beiden Damen fragen, ob Sie bereit sind, den Platz zu tauschen und sich irgendwo anders hinzusetzen? Sie möchten nicht neben einem unbekannten Mann sitzen.«

Leuchtenberg sah entgeistert die dicke Frau mit dem Mondgesicht und dem Pickel an, die nun schwieg.

»Sagen Sie den Damen«, sagte er zu der Stewardess, »von mir geht keine Gefahr aus. Sie haben nichts zu befürchten.«

Erneutes Übersetzen. Erneutes Lamento.

Eine zweite Stewardess trat hinzu und flüsterte mit ihrer Kollegin. Erneutes Gespräch mit den beiden Frauen.

Leuchtenberg schaute an sich herab. Was stimmte bloß mit ihm nicht? Die Passagiere im hinteren Teil des Flugzeugs starrten ihn an, und auch im vorderen Teil verdrehten einige die Hälse in seine Richtung.

»Wir setzen die beiden Damen nach vorne«, sagte die Stewardess schließlich, »entschuldigen Sie, aber sie möchten nicht neben einem Mann sitzen.«

Leuchtenberg stand auf, die beiden alten Frauen quälten sich aus ihren Sitzen und verschwanden im vorderen Teil der Boeing. Leuchtenberg empfand es beruhigend, dass stattdessen ein Mann, den er auf vierzig schätzte, den Gang entlangkam, der einen Buben hinter sich her zog. Der Junge setzte sich an den Fensterplatz, der Mann, dessen Haar bereits völlig ergraut war, auf den mittleren Sitz. Leuchtenberg schnallte sich erneut an. Der Junge trug eine große Brille, die seine Augen unnatürlich vergrößerte. Der Vater flüsterte leise auf Türkisch mit dem Kind, bis die Maschine abhob. Da juchzte der Junge und schlug vor Freude die Hände zusammen.

Der Flug verlief ruhig, doch über Rumänien geriet die Maschine in Turbulenzen. Leuchtenberg spürte, wie seine Handflächen feucht wurden, während das Flugzeug sich streckte, zitterte und ächzte. Einige murmelten stille Gebete. Allein der Junge schlug begeistert die Hände zusammen.

Nicht nur Leuchtenberg schienen die Turbulenzen geängstigt zu haben. Als die Boeing völlig ruhig auf der Landebahn des Kemal-Atatürk-Flughafens aufsetzte, applaudierten die meisten Passagiere.

Am Gepäckband purzelte sein grüner Koffer als dritter aus dem Schlund des Transportsystems. Leuchtenberg kam ohne Probleme durch Passkontrolle und Zoll und trat durch eine Glastür in die Ankunftshalle des Flughafens. Vor ihm, nur durch eine Metallstange getrennt, stand eine Menschenmenge und starrte ihn an. Einige hielten Firmenschilder hoch oder handgeschriebene Zettel mit deutschen, englischen und türkischen Namen.

»Möchten Sie ein Taxi in die Innenstadt?« Ein junger Mann stand neben ihm.

Leuchtenberg wunderte sich, dass er auf Deutsch angesprochen wurde. Sah man ihm seine Nationalität an?

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der junge Mann und griff nach Leuchtenbergs Koffer.

»Nein.« Leuchtenberg riss den Koffer wieder an sich.

»Taxi?« Ein großer, schwerer Türke gesellte sich zu ihnen. Er hatte einen Bart und trug eine schwarze Lederjacke.

»Taxi, Taxi«, schrie ein dicker Mann in einem braunen Pullunder und griff nach seinem Koffer.

»Nein«, schrie Leuchtenberg und zog das Gepäckstück eng zu sich.

»Taxi, kommen Sie mit mir!«, rief ein weiterer Taxifahrer mit kurzen grauen Haaren und einer Brille, dessen freundliches Lächeln irgendwie aufgesetzt wirkte.

»Nein, nein«, schrie Leuchtenberg und fühlte sich regelrecht umzingelt, weil mittlerweile ein ganzer Trupp türkischer Männer ihn umlagerte. Er versuchte sich aus dem Pulk herauszuarbeiten, den Koffer fest umschlungen, doch die Taxifahrer folgten ihm.

»Vielleicht wollen Sie erst Geld wechseln?«, sagte der junge Taxifahrer. »Soll ich Ihnen den Weg zur Bank zeigen? Sie ist nicht weit von hier.«

Leuchtenberg blieb stehen. Tatsächlich, er besaß nicht eine türkische Lira.

»Kommen Sie«, sagte der junge Mann, nahm seinen Koffer und durchschritt den Kreis der anderen Fahrer, die ihnen zu Leuchtenbergs Erleichterung nicht folgten. Er stiefelte hinter dem jungen Mann her, der seinen Koffer am Haltegriff hinter sich her zog. Leuchtenberg schloss schnell auf. Er bereitete sich auf einen Spurt vor, sollte der andere mit seinem Gepäckstück plötzlich fliehen.

Doch der schritt ruhig nach links durch die Menge, zielsicher zu einem der Schalter an der Außenseite der Halle. Nun sah Leuchtenberg bereits das vertraute »Change«-Zeichen. Er entspannte sich.

Andreas Leuchtenberg wechselte 300 Euro, und die Frau hinter dem Schalter reichte ihm ein Bündel Scheine: die unfassbare Summe von 560 399 400 000 Türkische Lira.

Er zählte den Stapel Geldscheine durch. Der kleinste Schein leuchtete in hellem Braun, ein Ein-Millionen-Schein. Hilfesuchend drehte er sich zu dem jungen Mann um, der ihn freundlich angrinste.

»Was kostet eine Fahrt in die Stadt?«, fragte er ihn.

»Wo wollen Sie denn hin?«

»Hotel Pera Palas. Kennen Sie das?«

»Kennt jeder in Istanbul, die Fahrt dahin kostet ungefähr 18 Millionen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, ich schalte den Taxameter ein. Alles korrekt.«

Alles korrekt – das klang gut.

Leuchtenberg folgte dem Mann, der bereits auf den Ausgang zueilte und Leuchtenbergs Koffer hinter sich her zog. Die Kunststoff-Rädchen erzeugten ein durchdringendes Geräusch und hinterließen, da sie zuweilen blockierten, eine fein gestrichelte Linie auf dem Steinboden.

Durch die Tür der Ankunftshalle trat Leuchtenberg unvermittelt ins Warme. Er blieb einen Augenblick stehen, die Tür des Flughafens zischte hinter ihm zu.

Er blinzelte in die Sonne, und plötzlich fühlte er sich frei von allen Bedrückungen und Sorgen. Er würde Sehin wiedersehen. Dieser Gedanke füllte ihn mit einer inneren Freude, er atmete frei und genoss die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht, auf Stirn und Wangen.

Doch wo war der Fahrer? Und sein Koffer? Eine kurze Panik stieg in ihm auf, aber dann sah er den jungen Mann, der gerade sein Gepäck in den Kofferraum eines gelben Renault hievte. Er eilte zu ihm hinüber, öffnete die Wagentür und setzte sich auf die Rückbank. Es beruhigte ihn, dass der Fahrer sofort den Taxameter anschaltete. Dann fuhren sie los.

Bei der Ausfahrt aus dem Flughafengelände an einem großen Kreisverkehr sah er die erste Moschee mit zwei Minaretten, die sich schmal in den Himmel hoben. Kaum hundert Meter daneben, am anderen Ende seines Blickfelds, ragte steil und nackt ein Sendemast für Funktelefone in den Himmel. Leuchtenberg registrierte, dass dieser die Türme der Moschee überragte, und seltsamerweise beruhigte ihn diese Beobachtung.

Das Taxi kam gut voran. Nach zwanzig Minuten sah er zum ersten Mal das Wasser des Marmarameeres. Es lag still und glänzend in der Sonne. Leuchtenberg drehte das Fenster herunter, und eine warme Brise Meeresluft füllte das Wageninnere. Er atmete tief ein und freute sich über den salzigen Geschmack.

Der Fahrer wies mit dem Finger auf eine Mauer, oben am Berg, auf der linken Seite, die eine Art Grünanlage umschloss.

»Topkapi, Topkapi«, sagte der Fahrer und wies mit dem Finger nach oben.

Leuchtenberg erinnerte sich an den Film, den er zusammen mit Sehin und den anderen gesehen hatte. Eine Gaunerkomödie. Eine Gruppe von Meisterdieben bricht nachts in diese Anlage ein, um den wertvollen Topkapi-Dolch zu stehlen. Im Knauf des Dolches, so erinnerte er sich, waren drei große, dunkelgrün schimmernde Smaragde eingearbeitet, den Schaft schmückten unzählige Brillanten. Natürlich geht alles schief, und sie landen in einem türkischen Gefängnis. Zum Schluss drehen sie ihre Runden in einem winzig kleinen Hof und planen den nächsten Coup.

Wer spielte in dem Film mit? Es war schon lange her. Doch, er erinnerte sich an Peter Ustinov, der ängstlich und von Höhenangst geplagt über die Zinnen der Festung klettert; der junge Maximilian Schell, der vergebens versucht, ihm Mut einzuflößen, und dann war da noch Melina Mercouri, ihr zuliebe wollten sie den Dolch stehlen.

Das waren noch gute Zeiten gewesen, dachte er. Sie lagerten damals vor dem Fernseher im Wohnzimmer von Ilses Eltern. Fred war da, Herbert auch, bei den anderen war er sich nicht mehr sicher. Aber er erinnerte sich genau an Sehin, die sich bei den ersten Bildern von Istanbul aufrichtete, ihn am Arm packte, mit dem Finger auf den Bildschirm deutete und ihm auf Türkisch Dinge sagte, die er nicht verstand. Fast schien es ihm, als könne er den aufgeregten Griff nach seinem Arm immer noch spüren. Nach seinem Arm, nicht nach Freds Arm hatte Sehin gegriffen. Das hatte ihn glücklich gemacht. Und auch jetzt, als er an diese Szene dachte, lächelte er.

Das Taxi fuhr langsamer.

»Stau, immer Stau in Istanbul«, sagte der junge Mann am Steuer. Stoßstange an Stoßstange fuhren die Autos im Schritttempo.

Der Verkehr hatte zugenommen, und auf den Bürgersteigen gingen die Menschen dicht gedrängt. Hier und da saß ein Schuhputzer, und Leuchtenberg sah zwei Handkarren, aus denen Sesamkringel verkauft wurden. Er erinnerte sich an ihren Geschmack. Sehins Vater hatte hin und wieder selbst Sesamkringel gebacken, und sie hatten den Geschmack mit dem von Laugenbrezeln verglichen. Sehin kämpfte immer für das türkische Gebäck, und Ilse sprach ebenso entschieden dagegen.

Durchs Wagenfenster sah Leuchtenberg Schiffsanlegestelle neben Schiffsanlegestelle. Ein zweistöckiges Fährboot legte an, die Menschen standen bereits an der Reling, und zwei Männer sprangen von Bord, bevor das Schiff vertäut war. Dann wurde eine Landungsbrücke an Bord geschoben, und eine Menschentraube quoll eilig aus dem Boot. In schnellen Schritten stürmten die Passagiere den Bürgersteig entlang, als wären sie einem Unglück entronnen.

Jäh stieg ihm der Geruch von Fisch in die Nase. Leuchtenberg richtete sich auf, beugte sich vorsichtig aus dem Wagenfenster und sah einen Pulk von Menschen vor einem kleinen Boot mit lindgrünem Rumpf stehen. Balikçi Genç Osman stand in großen roten Lettern auf einer Art Baldachin, der das Boot überwölbte. Auf dem Bug prangte in tiefem Rot der türkische Halbmond. In der Mitte des Bootes sah Leuchtenberg einen riesigen metallenen Ofen, dessen Rohr seitwärts den Rauch des offenen Feuers abgab, und auf dem Feuer lag eine Platte, auf der zwei Männer in braunen Lederjacken frische Fische in der Hitze wendeten. Ein dritter Mann in einer grauen Jacke sprang vom Kai an Bord und empfing von einem der beiden einen gebratenen Fisch, der in Zeitungspapier gewickelt war. Er sprang ans Ufer zurück und gab dem ersten Mann in der Schlange den Fisch, und Leuchtenberg sah, wie ein Geldschein den Besitzer wechselte.

Das Taxi bog rechts ab und kam nun wieder schneller voran. Sie befanden sich auf der Auffahrtsrampe einer Brücke, und Leuchtenberg bot sich ein verblüffendes Bild: Auf der Brücke standen dicht gedrängt Angler neben Angler, und sie hielten einen Wald von Angelruten in die Luft. Leuchtenberg vermutete, dass sich die Schnüre dieser vielhundert Ruten unten im Wasser heillos verwirren müssten, so dicht standen die Männer nebeneinander. Einer von ihnen hatte gerade die Schnur mit der Kurbel eingeholt, und Leuchtenberg sah sieben oder acht fingergroße Fische an den Haken blitzen. Der Angler, ein älterer Mann in dunkler Hose und schwarzem Shirt, nahm sie sorgfältig ab.

»Goldenes Horn«, sagte der Fahrer, »wir fahren übers Goldene Horn.«

Und wieder fiel ihm Sehin ein, die ihnen damals von dem Goldenen Horn und dieser Brücke erzählt hatte. Sie hatte ihnen auch den Namen der Brücke genannt, aber Leuchtenberg hatte ihn vergessen.

»Wie heißt diese Brücke?«

»Galata Köprüsü«, sagte der Fahrer, »die Galatabrücke – von Deutschen gebaut.«

Leuchtenberg nickte. Er nahm sich vor, einen Buchladen zu suchen und einen Reiseführer zu kaufen.

Sie verließen die Galatabrücke mit dem Spalier der Angler und fuhren auf einer breiten Straße bergauf. Kurz danach bog der Wagen in eine Seitenstraße, und wenige Minuten später hielt das Taxi.

»Pera Palas«, sagte der Fahrer, »Sie sind da.«