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Moonlight Romance
– Staffel 3 –

E-Book 21-30

Helen Perkins
Georgia Wingade
Jessica Stone
Scarlet Wilson
Vanessa Lane
Loreena Night

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-320-1

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Der alte Grabstein

Ein böses Omen für Kelly Mortimer!

Roman von Stone, Jessica

Was vor ihr lag, war ein Grabstein! Da alles Mögliche an Land gespült wurde, warum nicht auch ein Grabstein, den jemand, weil er nicht wusste, wohin damit, einfach ins Meer geworfen hatte. Das war es nicht, was Kelly erschütterte, so sehr, dass sie sich erst einmal in den feuchten, steinigen Sand fallen lassen musste. Man konnte den Stein einer Person zuordnen. Es stand ein Name darauf, was auch nichts Außergewöhnliches war. Und es gab ein Geburtsdatum und den Sterbetag. Kelly spürte, wie sie einen ganz trockenen Mund bekam. Sie starrte wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf den Stein, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Ungeheuerlichkeit begriff. Es war der Grabstein einer Kelly MacCready. Nicht nur das, sie hatte, genau wie sie, am 16. September Geburtstag, nur dass diese Kelly vor hundert Jahren das Licht der Welt erblickt hatte ..., und 25 Jahre nach der Geburt gestorben war. Kelly ... 16. September ... Das allein war es nicht, es gab noch eine Gemeinsamkeit. Sie war 25 Jahre alt, und wenn das jetzt ein Omen sein sollte, dann hatte sie nicht mehr lange zu leben!

»Flucht ist kein Ausweg!« Kelly Mortimer hatte noch sehr gut die Stimme ihrer Freundin Grace im Ohr, als sie ihr von der Reise ohne Ziel erzählt hatte. Auch jetzt noch verspürte sie nichts als Bitterkeit.

Grace hatte gut reden, dachte Kelly, schließlich hatte sie nicht zwei Tage vor der geplanten und ersehnten Hochzeit erfahren müssen, dass ihr Glück, ihre Zukunft nichts als ein Lügengebäude gewesen waren und Jim Adams nicht einen ­Augenblick lang sie gemeint hatte, sondern das Geld, das sie einmal von ihren Eltern erben würde.

Sie war auf seine Beteuerungen, auf seine Liebesschwüre hereingefallen, dabei hatte es vor ihr diese schreckliche Mandy gegeben.

Sie hatten während der ganzen Zeit eine Beziehung zu dritt geführt.

Und Jim hatte nicht einen Moment lang daran gedacht, seine Geliebte aufzugeben.

Die beiden mussten sich doch schlapp gelacht haben, dass man eine Millionenerbin so einfach hinters Licht führen konnte.

Sie hatten es sich nett gemacht, waren zusammen gewesen, als Kelly ihren Bräutigam auf einer Geschäftsreise wähnte, und sie hatten sich sogar eine Eigentumswohnung in allerbester Lage angesehen, die ihr Liebesnest werden sollte, von der Erbin finanziert.

Und das alles war geschehen, während sie noch auf der rosaroten Wolke des Glücks geschwebt war, selig, weil sie geglaubt hatte, in Jim Adams den Mann gefunden zu haben, der sie, Kelly, meinte und nicht den Mortimer-Goldfisch.

Nun, der Absturz war schrecklich gewesen und tat noch immer weh.

»Sei froh, dass das Schicksal es so gut mit dir gemeint und beizeiten die Augen geöffnet hat«, war die Reaktion ihrer Freundin gewesen, »er hätte dich ausgenommen wie eine Weihnachtsgans …, besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Ich konnte ihn nie leiden, mir war er zu glatt, und ehrlich gestanden, war er mir auch zu schön, und dabei fällt mir noch ein sehr treffender Satz ein – von einem schönen Teller isst man nicht.«

Ja, ihre Freundin Grace, die hatte auf alles eine Antwort und hatte auch immer einen Spruch parat.

Aber recht hatte sie. Wenn Kelly ehrlich war, musste sie das zugeben.

So richtig hatte sie Jim Adams nie durchschauen können, und er hatte auch nicht viel von sich preisgegeben, so stimmte das mit dem »glatt und schön sein« schon.

Auch ihre Eltern waren von ihrem künftigen Schwiegersohn nicht begeistert gewesen und hatten nur beide Augen zugedrückt, weil es ihr Wunsch war, dass ihr einziges Kind glücklich werden sollte.

Und glücklich war sie gewesen.

Zumindest hatte sie sich das eingeredet, und Jim hatte sich ja auch voll ins Zeug geschmissen. Sie seufzte. Warum grub sie die alten Klamotten immer wieder aus?

Warum konnte sie nicht loslassen? Noch einmal wollte sie das Ende durchleben, und dann würde sie einen Cut machen, wie mit einem scharfen Messer.

Und danach würde sie die Zeit mit Jim aus ihrem Leben streichen und alles daran setzen, ihn so schnell wie möglich zu vergessen, und seine grässliche Mandy auch.

Eigentlich hätte sie so kurz vor der Hochzeit überhaupt keine Zeit gehabt, die Vernissage zu besuchen, die schon ein gesellschaftliches Ereignis war, weil der Maler total angesagt war und für seine Bilder schwindelerregende Preise erzielte.

Sie wäre gern mit Jim zur Vernissage gegangen, doch der hatte einen wichtigen Termin, über den er nicht sprechen wollte.

Und da sie Peter Dunn, den Künstler, sehr gut kannte, sogar eine Einladung von ihm persönlich erhalten hatte, und weil Grace darauf drängte, die sich solche Ereignisse niemals entgehen ließ, hatte sie nachgegeben, war mitgegangen und hatte es eigentlich nicht eine Sekunde lang bereut, bis … Kelly schloss die Augen. Es war so präsent, als sei es gerade jetzt erst geschehen.

Sie hatten ganz entspannt mit dem Künstler ein Gläschen Champagner getrunken, sich mit ihm über seine Erfolge gefreut, als Grace sie heftig am Arm gepackt hatte. So heftig, dass Kelly einen leisen Schmerzensschrei nicht hatte unterdrücken können.

Ihr ›ob sie verrückt geworden sei‹, hatte Grace überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, sondern mit ausgestrecktem Arm in eine Richtung gedeutet und gerufen: »Ich kann es nicht fassen, sieh dir das an.«

Kelly hatte in die Richtung geblickt, und sie hatte es nicht glauben können.

Eine ziemlich overdressed wirkende Frau mit auffallenden roten Haaren, vielleicht einer Spur zu viel Make-up im Gesicht, und die auch eine Spur zu auffallend war, trug eine atemberaubend schöne Kette.

Eine Kette, die es nur einmal auf der Welt gab, weil sie nur für die Mortimers angefertigt worden war und deswegen auch der Mortimer-Diamant genannt wurde.

Ihre Urgroßmutter war die erste Glückliche gewesen, die dieses außergewöhnliche Stück hatte tragen dürfen, und dann war er von Generation zu Generation weitergegeben worden. Nach dem Tod der Vorbesitzerin. Ihre Mutter hatte die Kette durchbrochen und ihr den Mortimer-Diamanten jetzt schon vermacht, damit Kelly ihn an ihrem Hochzeitstag tragen konnte und weil ihre Mutter auch der Meinung gewesen war, dass ein so erlesenes Stück an einem jungen glatten Hals auf jeden Fall besser aussah, als auf alter Haut.

Sie war überglücklich gewesen und entsetzt, als sie bemerkt hatte, das der Mortimer-Diamant verschwunden war, als sie ihn aus ihrer Schmuckschatulle nehmen wollte, um ihn zu ihrem Hochzeitskleid probeweise anzulegen.

Sie hatten alles in Bewegung gesetzt, um ihn zu finden und sich das Hirn zermartert, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.

Ein Diebstahl war ausgeschlossen, denn ein Dieb hätte sich, weiß Gott, nicht mit diesem einen Stück begnügt, sondern hätte ordentlich zugelangt, und dann auch noch die eine oder andere Kostbarkeit mitgenommen, wie alte, schwere Leuchter aus massivem Silber und vieles mehr.

Und nun sah sie die Diamantkette am Hals einer vollkommen Fremden, die sie mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit trug.

Kelly erinnerte sich, dass sie nicht in der Lage gewesen war, etwas zu unternehmen. Und hätte Grace nicht ganz resolut eingegriffen, hätte sie die Fremde vermutlich sogar entwischen lassen, die allerdings nicht den Eindruck gemacht hatte, etwas zu tragen, was ihr nicht gehörte.

»Die schnappen wir uns«, hatte Grace gerufen und sie zu der Frau gezogen, die um ein kurzes Gespräch gebeten und weggezerrt, ehe die hatte antworten können.

Als sie in einer ruhigeren Ecke standen, hatte Grace es auch übernommen, den Sachverhalt aufzuklären und sich ohne weitere einleitenden Worte erkundigt, woher sie die Kette habe.

Die Rothaarige hatte ziemlich frech reagiert und sich wieder entfernen wollen.

Da war auch sie aus ihrer Lethargie erwacht und hatte mit erstaunlich ruhiger Stimme gesagt, dass die Kette ihr gehöre, dass sie einmalig auf der ganzen Welt sei und man nun die Polizei holen wolle, die den Diebstahl aufklären und ihr ihr Eigentum zurückgeben solle. Polizei … Diebstahl … Das hatte die Frau panisch gemacht, und da hatte sie angefangen wie ein Wasserfall zu plaudern.

Wäre Grace nicht an ihrer Seite gewesen, vermutlich wäre sie zusammengebrochen, denn es war so ungeheuerlich, was da zutage gekommen war …

Die Erinnerung übermannte sie schmerzhaft. Kelly schloss die Augen, biss sich auf die Lippen. Das war der Augenblick des Absturzes gewesen, das Zerbersten ihrer Träume, des Schmerzes zu wissen, von Anfang an die Belogene und Betrogene gewesen zu sein.

Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, wenn sie an Mandy dachte. Um ein schönes Leben zu haben, hatte sie von Anfang an mitgemacht bei dieser entwürdigenden menage a trois.

Den Schmuck hatte sie zufällig entdeckt, und da sie davon ausgegangen war, dass Jim ihn für sie gekauft hatte, war für sie nichts dabei gewesen, ihn bei einem solchen gesellschaftlichen Anlass auch zu tragen.

Die Wege des Schicksals sind unergründlich …, wieder so einer von den Sprüchen ihrer Freundin. Doch dem konnte man nicht widersprechen.

Sie war nur zufällig zu der Vernissage gegangen. Mandy hatte den Schmuck zufällig entdeckt und ihn getragen.

Und dadurch war der Stein ins Rollen gekommen, dass er vieles mitgerissen und tiefe Wunden hinterlassen hatte, nun, dagegen konnte man nichts machen.

Kelly hatte ihren Schmuck wieder, doch um welchen Preis! Würde sie jemals wieder unbefangen und offen einem Mann gegenübertreten können?

Würde sie nicht in jedem einen Jim Adams sehen?

Aus Angst davor, mit der Polizei in Berührung zu kommen, hatte Mandy wirklich gesungen wie ein Vögelchen und den ganzen gemeinen Betrug erzählt.

Also, diesen Spruch von wegen …, die Zeit heilt alle Wunden, würde Kelly nun nicht unterschreiben. Zwei Tage vor der Hochzeit die Hölle zu erleben. So hartgesotten konnte niemand sein, der das Kapitel des Lebens abschloss und eine neue Seite aufschlug, um eben neu zu beginnen.

Sie konnte es nicht, auch nicht, obwohl Grace und ihre Eltern sich rührend um sie bemüht hatten.

Schon allein die Peinlichkeit! Eine große Hochzeit! Ein gesellschaftliches Ereignis erster Güte! Und dann ein … April, April, die Hochzeit findet nicht statt.

Die Mortimers waren, vielleicht auch, weil sie sehr großzügig waren und ihnen all ihr Geld, all ihr Besitz niemals zu Kopf gestiegen waren, sehr beliebt und angesehen.

Doch Kelly war fest davon überzeugt, dass so mancher sich ins Fäustchen lachte, dass ihrer einzigen Tochter »so etwas« widerfahren war.

Den Grund für die Absage der Hochzeit hatten sie nicht genannt, doch sofort nachdem das publik geworden war, hatte die Gerüchteküche angefangen zu brodeln.

Mitleidige Blicke … Unverholene Schadenfreude … Häme … Kelly hätte es nicht ertragen, und deswegen war es schon richtig gewesen, sich erst einmal unsichtbar zu machen und mit unbekanntem Ziel abzureisen.

Mochte Grace es nun Flucht nennen, für sie war es Selbstschutz und die Chance, wieder zu sich, zu ihrer Mitte zu finden …

*

Kelly war gefahren und gefahren, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Während einer Tankpause hatte sie einen Kaffee getrunken und sich aus einem Automaten ein grässlich schmeckendes Sandwich mit Putenfleisch geholt.

Dann war sie wieder losgefahren bis die Straße vor ihren Augen angefangen hatte zu flimmern, bis sie ihre das Lenkrad umklammernden Finger nicht mehr spürte und ihr Nacken steif war und höllisch schmerzte. Es ging nicht mehr!

Nachdem sie zu dieser Erkenntnis gelangt war, hatte sie auch überhaupt keine andere Wahl mehr, sondern steuerte ein kleines Hotel an, das ziemlich einsam in einem Niemandsland zwischen Blackham Market und Dorsey lag, und den ein wenig irreführenden Namen »The Crown« trug.

Krone brachte man mit königlich in Verbindung, und königlich war an diesem Haus nun wirklich überhaupt nichts. Es sah eher so aus, als trotze es zwar Sturm und Regen, die bestimmt häufig über es hinwegfegten, habe aber kaum eine Chance auf ein Überleben, wenn nicht bald mit Restaurierungsarbeiten begonnen würde.

Als Kelly auf den Parkplatz gefahren war, hatte sie gewusst, das »The Crown« genau das Richtige für sie war.

Das Haus spiegelte von außen das wider, wie es in ihrem Inneren aussah.

Desolat, zerzaust, gebeutelt, aber mit einem guten Fundament.

Die Mortimers stiegen normalerweise in ganz anderen Häusern ab, doch Kelly hatte sich vom ersten Augenblick an geborgen gefühlt.

Das lag ganz gewiss an der jungen Wirtin Rosalind Scott, die klein, sommersprossig, rothaarig, zielstrebig und unglaublich zäh war.

Ihr war schon bewusst gewesen, auf was sie sich da einließ, als sie »The Crown« von ihren Eltern übernommen hatte.

Es war eine hundertprozentige Umstellung ihres Lebens gewesen, das leicht, unbeschwert, erfolgreich verlaufen war.

Ein Leben, dem sie manchmal jetzt noch nachtrauerte, wenn sie nachts nicht schlafen konnte, weil sie nicht wusste, wie sie ihre Rechnungen oder dringend notwendige Reparaturen am Haus ausführen lassen sollte.

Das hatte sie offen zugegeben, doch sie hatte auch gesagt, dass sie den Schritt dennoch nicht einen Augenblick lang bereut hatte und es wieder tun würde, auch, weil sie überhaupt keine andere Wahl hatte.

Vor ihr waren es vier Generationen gewesen, die »The Crown« mehr oder weniger erfolgreich geführt hatten.

Zu verkaufen und vor allem für das riesige, dazugehörende Grundstück einen fetten Preis zu kassieren, käme Rosalind nie in den Sinn.

Es war schon beeindruckend, wie sie kämpfte, und dennoch verlor sie nie ihren Humor, und sie war eine ganz hervorragende Wirtin, die alles für ihre Gäste tat, nur gab es davon zu wenige.

Das Grundstück war in seiner Ursprünglichkeit belassen worden und bestand aus Gras, üppigen Ginster- und Wacholderbüschen.

Riesige Gesteinsbrocken hatte man niemals weggeräumt, sie streckten sich nackt und kalt dem Licht entgegen, während andere zugewuchert waren und sich als grüne Hügel präsentierten.

Das Grundstück erstreckte sich bis zum Meer, wo riesige Wellen unermüdlich gegen den Felsen krachten und die Gischt nach oben spritzen ließen.

Vor und hinter den Klippen gab es Strände, die malerisch schön waren und relativ geschützt lagen. Nur wurden sie nicht genutzt, sondern verwilderten, wurden zugemüllt von dem Strandgut, das ständig angespült wurde, um das sich, außer den Möwen, niemand kümmerte. Die Möwen allerdings wüteten ungestört in allem herum, in der Hoffnung, etwas Gutes zu finden. Hinterher sah alles nur noch viel schlimmer aus, wild, wie das Wasser, das gurgelnd am Strand aufschlug, von dem es immer wieder ein Stückchen mit sich riss.

Von Rosalind wusste sie, dass der Strand einstmals viel breiter gewesen war. Das sah man auch an den alten, leicht vergilbten Fotos, die sie ihr zur Untermauerung ihrer Worte gezeigt hatte. Es wuchs nicht viel hier unten. Man sah struppiges Grün, aber auch Stranddisteln, die ein karges Dasein führten im Sand, und dennoch erblühten sie, wenn es an der Zeit war, in ihrer allerschönsten Pracht und in den sattesten Farben.

Rosalind hatte ihr einen Weg gezeigt, den man mühelos gehen konnte, um unten an dem weitläufigen Strand anzukommen.

Am Wasser entlang konnte man bis Blackham Market gehen und lief dabei keine Gefahr, dass man jemandem begegnete.

Kelly liebte es, so ganz für sich allein daherzulaufen. Es war beinahe so etwas wie Meditation.

Erst kurz vor Blackham Market gab es so etwas wie ein Bade- und Strandleben. Doch auch hier mangelte es leider ebenfalls an Touristen, und so waren die Besitzer der Strandbuden froh, wenn sich mal jemand zu ihnen verirrte und dann auch noch etwas verzehrte.

Für Kelly war es eine liebe Gewohnheit geworden, bis zu einer dieser Strandbuden zu laufen und dort etwas zu essen, zu trinken, ihren Gedanken nachzuhängen und von diesem geschützten Platz aus hinaus aufs Meer zu schauen, das seine Farbe ständig zu ändern schien, vom beinahe bedrohlichen Schwarz, bis zu einem smaragdenen Blau.

Es gab ganz gewiss schönere Strandbuden. Doch diese hatte den Vorteil, in der ersten Reihe zu stehen, mit einem unverbaubaren Blick aufs Wasser.

Für schlechtes Wetter gab es ein riesiges Panoramafenster, da konnte man von innen alles genau betrachten. Bei schönem Wetter konnte man sich draußen auf die Terrasse setzen und war dem Meer so nah, dass man es schmecken konnte.

Diese Strandbude wurde von einem alten, hochgewachsenen Mann betrieben, mit einem vom Leben gezeichneten Gesicht, das aber durchaus interessant wirkte.

Der Betreiber hieß Jonathan, und Kelly hatte noch nie zuvor in ihrem Leben einen so wortkargen, mürrischen Menschen erlebt.

Kelly wäre kein zweites Mal zu ihm in die Strandbude gegangen, hätte Rosalind ihr das nicht ans Herz gelegt und wärmstens empfohlen, nicht nur, weil man bei Jonathan am besten essen konnte, sondern weil er auch ein weitgereister Mann mit einer interessanten Biografie war. Ein Mann, der sich, trotz vieler guter Möglichkeiten, irgendwann entschlossen hatte, den Rest seines Lebens in Blackham Market, in seiner Strandbude, zu verbringen, und nirgendwo sonst.

Mittlerweile hatte sie sich schon so etwas wie seine Sympathie verdient, denn er lächelte sie an, wenn sie hereinkam, und das war ja wohl schon etwas.

Über sein früheres Leben wusste Kelly nichts, obwohl sie das schon interessierte. Aber Rosalind hatte kein einziges Wort darüber verloren, und sie hatte auch nicht gefragt. Das Gute an Rosalind Scott war, dass sie keine Klatschtante war und Geheimnisse für sich behalten konnte. Vermutlich war das auch der Grund dafür, warum Kelly ihr an einem stürmischem Abend, nach mehr als nur einem Glas Wein, ihre Geschichte erzählt hatte.

Kelly hatte es nicht bedauert, denn dadurch hatte sich ihr Verhältnis zueinander geändert, und sie waren dabei, Freundinnen zu werden.

Es war so angenehm gewesen, dass Rosalind nicht angefangen hatte, sie voller Wehklagen zu bedauern, sondern dass sie gesagt hatte, dass wohl jeder sein Päckchen zu tragen hatte.

Auch Rosalind hatte in ihrer Beziehung Schiffbruch erlitten, sie war nicht kurz vor der Hochzeit dahinter gekommen, dass ihre ganze Beziehung auf Lug und Trug aufgebaut gewesen war, sondern sie war vorzeitig von einer Geschäftsreise zurückgekommen, und hatte den Mann ihres Lebens und ihre allerbeste Freundin zusammen im Bett erwischt.

So etwas war schrecklich, denn das war ein doppelter Vertrauensbruch, und man konnte nicht sagen, wen es stärker getroffen hatte.

Betrug war Betrug, auch wenn er vielschichtig ausfallen konnte.

So wie Kelly nicht wusste, ob ihr Ex und diese Mandy dennoch weiterhin zusammen waren, hatte auch Rosalind keine Ahnung, was aus ihrer allerbesten Freundin und ihrem Freund geworden war.

In einem war Rosalind ihr allerdings voraus, obwohl ihre Geschichte auch noch nicht lange zurücklag, sie blickte nach vorn und hoffte nach wie vor auf die große Liebe. Die wahre Liebe und nicht etwas, was sie dafür gehalten hatte.

Kelly war sich da nicht so sicher, aber sie würde auch nicht die Worte ihrer Freundin Grace ganz von sich weisen, dass man nie nie sagen sollte.

Auf der Suche war sie auf jeden Fall nicht. Außerdem … Die Liebe konnte man nicht suchen, etwa so, wie Pilze im Wald. Liebe kam einem auf den Weg, die fand man oder wurde von ihr gefunden …

*

Nach zwei Tagen mit sehr viel Regen und Sturm war der Himmel auf einmal wieder blank geputzt. Er war klarblau, und dazwischen tanzten Schäfchenwolken. Es war windstill und sonnig. Es zog Kelly hinaus. Sie war fest entschlossen, eine ihrer geliebten Strandwanderungen zu machen.

»Ich beneide dich«, sagte Rosalind. »Kämen heute nicht ein paar Gäste an, von denen ich keine Ankunftszeit weiß, würde ich mitgehen.« Sie seufzte.

»Tage wie diese haben wir nicht so oft, die muss man dann voll auskosten, denn morgen kann schon wieder alles anders sein. Wenn das Wetter umschlägt, ist es da unten besonders schön. Nach diesen Stürmen aus Nord-Ost werden viele Muscheln an den Strand getrieben. Man kann Prachtexemplare darunter finden. Nimm eine Tasche oder Tüte mit, damit du welche sammeln kannst.«

Muscheln sammeln?

»Tun das nicht immer nur die Touristen?«, erkundigte Kelly sich.

Kelly hatte Rosalind nicht gesagt, wer sie war, und sie hatte ihre Reise ins Unbekannte auch nicht mit ihrem heißem Sportflitzer angetreten, sondern einem der kleineren Firmenwagen.

Und so konnte Rosalind auch nicht wissen, dass sie mit ihren Eltern oder auch mit Freunden an den schönsten Fleckchen der Erde gewesen war, mit traumhaften Stränden, an denen man Muscheln finden konnte, wie man sie sich eigentlich überhaupt nicht vorstellen konnte, weil sie so schön waren.

Sicherlich hatte sie sich hier und da nach der einen oder anderen gebückt, sie sich angesehen, manchmal mit ins Hotel genommen, um sie letztlich dann bei ihrer Abreise zu vergessen.

Sie brauchte keine Erinnerungsstücke, um sich an etwas zu erinnern, ihre Erinnerungen hatte sie in ihrem Herzen.

Rosalind nickte. »Schön, dass du das jetzt gesagt hast, denn das beweist mir, dass du dich nicht als Tourist siehst, sondern dich heimisch fühlst, das gefällt mir.«

Kelly wollte das jetzt nicht vertiefen, zumal sie in ihrem Inneren den tiefen Drang verspürte, sofort hinunter zum Strand zu müssen.

Dort hielt sie sich gern auf, heute zog es sie hinunter, und so sagte sie rasch: »Also ohne Tasche oder Tüte. Wenn ich ein Prachtexemplar von Muschel finde, dann bringe ich sie dir mit. Ich habe gesehen, dass du auf dem Geländer der Terrasse bereits eine stattliche Sammlung hast.«

»Die von Touristen immer wieder geräubert wird. Eigentlich liegen die Muscheln nur für meine Gäste dort.«

Rosalinds Telefon klingelte, sie rannte zurück ins Haus, und Kelly konnte endlich zum Strand gehen.

Was war denn nur los mit ihr? Warum rannte sie? Sie war doch nicht auf der Flucht.

*

Schon von Weitem sah Kelly, dass das Meer eine ganze Menge angespült, aber auch sehr viel mit sich weggerissen hatte. Es bot sich ihr ein völlig verändertes Bild, doch darauf hatte Rosalind sie auch vorbereitet.

Ein Schwarm Möwen pickte an etwas herum. Als Kelly näher kam, sah sie, dass es sich um einen relativ großen Fisch handelte. War er hier gestrandet? War er mit einer Schiffsschraube in Berührung gekommen, hatte es nicht überlebt und war beim Sturm an den Strand gespült worden?

Die Möwen hatten auf jeden Fall ein Festmahl, und sie ließen sich von Kelly nicht stören, obwohl die dicht an diesem Kadaver vorbeiging.

Jetzt bedauerte sie doch, ihren Fotoapparat nicht mitgenommen zu haben.

Sie kannte viele Arten von Fischen, so einen wie diesen hatte sie noch nicht gesehen. Doch Rosalind kannte sich erstaunlich gut aus, das hatte sie bereits bemerkt. Aber das war kein Wunder, schließlich war sie hier aufgewachsen und hatte ihre Heimat erst verlassen, um zu studieren und dann in der Stadt zu arbeiten.

Kelly blieb stehen, nicht nur, um sich das Äußere des Fisches einzuprägen, so weit das überhaupt noch erkennbar war, sondern auch, um den Möwen zuzusehen.

Es war beinahe wie bei den Menschen. Obwohl genügend Futter da war, gönnte eine Möwe der anderen nichts. Anstatt in aller Ruhe zu fressen, gingen sie aufeinander los, wollten einander vertreiben.

Kelly ging weiter, doch sie drehte sich immer wieder um, um das Treiben der Möwen im Auge zu behalten.

Weil sie unachtsam war, lief sie gegen etwas Hartes, stieß sich ganz empfindlich den Zeh. Verflixt noch mal!

Sie kannte diese Strecke bereits ziemlich gut, und hier hatte vor dem Sturm nichts gelegen, gegen das sie hätte laufen können.

Sie stieß einen Schmerzenslaut aus, hüpfte ein wenig herum, ehe sie sich um den »Stein des Anstoßes« kümmerte. Und das war es in der Tat – ein Stein, an dem sie sich gestoßen hatte.

Er war relativ groß, mit Schlamm und Schlick bedeckt, einem großen Stück Plastik, das an einer Schnur hing, die sich in dem ebenfalls angeschwemmtem Geäst verfangen hatte.

Neben dem Stein lag eine leere Flasche, ein Stückchen weiter ein verrotteter Kanister.

Es war unglaublich, was die Menschen so alles ins Meer kippten wie auf eine Müllhalde. Kelly schob alles beiseite, versuchte mit einem Taschentuch den Sand und Schlick von dem Stein zu entfernen.

Es war ein mühseliges Unterfangen. Auf jeden Fall konnte sie erkennen, dass es sich dabei um Granit handelte. Nicht nur das, es war ganz eindeutig, dass der Stein bearbeitet worden war.

Doch wie war er ins Meer gekommen?

Kelly konnte sich ihre Aufgeregtheit einfach nicht erklären. Wie unter einem Zwang drehte sie den Stein um. Es war schwer, doch es war machbar. Von der unteren Seite war er sauberer, denn er war, seit er hier im Sand lag, vom Wasser unterspült worden. Was vor ihr lag war ein Grabstein!

Da alles Mögliche an Land gespült wurde, warum nicht auch ein Grabstein, den jemand, weil er nicht wusste, wohin damit, einfach ins Meer geworfen hatte.

Das war es nicht, was Kelly erschütterte, so sehr, dass sie sich erst einmal in den feuchten steinigen Sand fallen lassen musste.

Man konnte den Stein einer Person zuordnen.

Es stand ein Name darauf, was auch nichts Außergewöhnliches war.

Und es gab ein Geburtsdatum und den Sterbetag.

Kelly spürte, wie sie einen ganz trockenen Mund bekam.

Sie starrte wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf den Stein, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Ungeheuerlichkeit begriff.

Es war der Grabstein einer Kelly MacCready.

Nicht nur das, sie hatte, genau wie sie, am sechzehnten September Geburtstag, nur dass diese Kelly vor hundert Jahren das Licht der Welt erblickt hatte …, und fünfundzwanzig Jahre nach der Geburt gestorben war. Kelly …

Sechzehnter September …

Das allein war es nicht, es gab noch eine Gemeinsamkeit. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, und wenn das jetzt ein Omen sein sollte, dann hatte sie nicht mehr lange zu leben! Der Himmel war noch immer blau. Die Sonne schien. Und die Möwen stritten um den Fisch, und deren Gekreische zerriss die Stille des Morgens. Diese Ungeheuerlichkeit nahm ihr den Atem. Das konnte doch kein Zufall sein! Machte alles Sinn?

Ihre Trennung von Jim, mit dem sie ja längst verheiratet wäre. Ihre Reise ohne Ziel. Ihr Drang, ganz schnell an den Strand zu wollen. Der Grabstein …

Wie oft wurden eigentlich Grabsteine ins Meer entsorgt und dann irgendwo an Land gespült? Kelly hatte keine Vorstellung, doch eines wusste sie. Das, was ihr hier widerfuhr, war ein Einzelfall, und das war ganz gewiss ein Zeichen – kein Zufall.

Kelly MacCready … Sie verspürte auf einmal Wärme, ein merkwürdiges Gefühl von Vertrautheit. Sie fasste mit ihrer rechten Hand nach dem Stein, fuhr sanft über die leicht aufgeraute Fläche. Kelly MacCready …

Sechzehnter September …

Fünfundzwanzig Jahre … Kelly Mortimer war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war irr! Solche Geschehnisse waren nicht von dieser Welt!

Das musste etwas mit einem parapsychologischem Phänomen zu tun haben.

Man musste es sich mal vorstellen, die andere Kelly war vor fünfundsiebzig Jahren gestorben.

Es konnte doch nicht sein, dass deren Seele nach einer so langen Zeit noch immer ruhelos herumwanderte.

Und wenn es so etwas tatsächlich geben sollte, war es dann nicht so, dass diese Geistwesen sich als Schatten zeigten?

Dass sie sich bemerkbar machten durch das Quietschen von Türen, unerklärbare Öffnen von Schubladen, durch Geräusche, durch Weinen, durch Wärme und wer weiß nicht was sonst noch.

Dass sie, um ein Zeichen von sich zu geben, ihren Grabstein vorausschickten, das war ja wohl ein Ding der Unmöglichkeit, das war so etwas von schräg.

Als Kelly das bewusst wurde, begann sie, hysterisch zu lachen.

Sie konnte sich überhaupt nicht mehr einkriegen. Allmählich beruhigte sie sich. Sie musste mit jemandem reden! Unbedingt! Mit Rosalind?

Nein, das war keine so gute Idee, die wartete auf Gäste und deswegen stand der wahrhaftig nicht der Sinn danach, sich eine mehr als nur merkwürdige Geschichte anzuhören.

Jonathan, dessen Familiennamen sie nicht einmal kannte und mit dem sie nicht mehr Worte gesprochen hatte, als sie Finger an den Händen hatte?

Warum hatte Kelly auf einmal das Gefühl, dass sie mit diesem Mann und sonst keinem über dieses nicht erklärbare Erlebnis sprechen konnte, für das es als Beweis nur diesen Grabstein gab?

Sie wusste es nicht, doch sie hatte es auf einmal sehr, sehr eilig.

Sie sprang auf, klopfte sich den nassen Sand von ihrer Hose, dann zerrte sie den Grabstein ein ganzes Stück weiter bis hin zu den Klippen, die den Strand begrenzten. Nicht nur das, sie hob ihn mit aller Kraft auf einen höher liegenden Gesteinsbrocken, um nur ja zu vermeiden, dass er zurück ins Meer gespült werden konnte.

Danach sah es derzeit war nicht aus, das Meer war spiegelglatt, und die Wellen rollten so sanft am Strand aus, dass es unvorstellbar war, dass sie von jetzt auf gleich mit elementarer Kraft alles zerstören konnten, was sich ihnen in den Weg stellte.

Nachdem sie den Grabstein in Sicherheit gebracht hatte, verschnaufte sie, atmete tief durch.

Schon wollte sie loslaufen, als sie innehielt, wie unter einem Zwang den Stein berührte, über die längst verblichene abgebröckelte Goldschrift strich, deren Buchstaben kaum noch zu erkennen waren.

Kelly MacCready … Kelly Mortimer hatte keine Ahnung, warum dieses Gefühl auf einmal in ihr war. Nein, korrigierte sie sich sofort.

Es war kein Gefühl, sondern die untrügliche Gewissheit, dass ihr Leben mit dem der toten Kelly MacCready unlösbar verbunden war, sie wusste nicht, woher dieses Wissen kam. Musste man für alles eine Erklärung finden?Als sie los lief, warf sie einen letzten Blick auf den toten Fisch. Die Möwen hatten ihr Interesse an ihm verloren, vielleicht waren sie aber auch nur satt.

Sie war innerlich sehr aufgewühlt, und wenn sie ehrlich war, dann hatte sie auch Angst. Eine Angst, die nicht ganz unbegründet war.

Identische Vornamen, identischer Geburtstag, da konnte man schon ins Grübeln kommen, wenn man wusste, dass Kelly MacCready in dem Alter gestorben war, in dem sie sich jetzt befand. Sie versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen, doch es wollte Kelly einfach nicht gelingen.

*

Als Kelly die Strandbude sah, blieb sie stehen.

War es nicht verrückt, zu einem Mann zu laufen, der keine drei Worte sprach, der mürrisch war?

Es war eine verrückte Idee gewesen, als ihr das bewusst wurde, machte sie eine Kehrtwendung, lief ein paar Schritte zurück.

Das war es auch nicht.

Rosalind hatte keine Zeit. Sie konnte sie jetzt unmöglich mit der Neuigkeit behelligen, dass sie diesen Grabstein am Strand gefunden hatte.

Es wurden ganz andere Sachen angeschwemmt.

Rosalind hatte ihr von großen Wrackteilen eines Schiffes erzählt, das ganz woanders untergegangen war. Und das hatte sie ziemlich leidenschaftslos erzählt, eigentlich nur, um zu demonstrieren, was alles möglich war.

Vielleicht würde sie der Tatsache dieser Übereinstimmungen überhaupt keine Bedeutung beimessen und es als etwas nicht Außergewöhnliches registrieren, während sie selbst sich direkt damit identifizierte.

Als ihr das bewusst wurde, und sie sich fragen musste, ob sie da jetzt nicht überreagierte, konnte sie nicht weiterlaufen, also erneut eine Kehrtwendung, wieder zurück in Richtung Blackham Market, Richtung Strandbude.

Weil das Wetter so schön war, hatten sich ein paar Touristen eingefunden, die draußen auf der Terrasse saßen und, obwohl es noch so früh war, Bier tranken und dabei gut gelaunt waren. Ob wegen des Biers oder einfach nur, weil sie Urlaub hatten, konnte Kelly nicht sagen, und es interessierte sie, ehrlich gesagt, auch nicht.

Sie freute sich für Jonathan, der gewiss jeden Umsatz brauchen konnte, um für den Winter, in dem der Strand öde und verlassen war, vorzusorgen.

Sie grüßte freundlich, lehnte den ihr spontan angebotenen Platz ab und ging in die Strandbude hinein.

Jonathan hantierte an seinem Grill herum, es konnte durchaus sein, dass die Gäste jetzt schon etwas von dem köstlichem gegrilltem Lachs essen wollten, den er im Angebot hatte und für dessen delikate Zubereitung er bekannt war.

Als er Kelly erblickte, kam er um die Theke herum, nachdem er vorher nach einer Flasche gegriffen und etwas in ein Glas geschüttet hatte.

Kelly saß, wie immer, an ihrem Stammplatz am Panoramafenster, doch diesmal sah sie nicht hinaus, sondern ihm entgegen, weil sie sich fragte, ob sie ihm wirklich erzählen sollte, was sie gesehen hatte.

Jonathan blieb vor ihrem Tisch stehen, stellte das Glas vor sie hin, mit den Worten: »Das brauchen Sie jetzt.«

»Was ist das?«, wollte sie wissen, und er antwortete, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt: »Whisky.«

Whisky? Es war nicht so, dass sie den niemals trank. Aber morgens? Das war noch niemals vorgekommen.

Er bemerkte ihren irritierten Gesichtsausdruck. »Trinken Sie«, wiederholte er seine Aufforderung, »es ist etwas geschehen, was Sie aus der Bahn gebracht hat. Aber es war unausweichlich. Seinem Schicksal entgeht man nicht, und wenn Sie …«

Er brach seinen Satz ab, weil die fröhliche Runde von der Terrasse mehr Bier haben wollte, und einer von ihnen wollte wissen, wann man denn wohl mit dem Lachs rechnen könne.

Geschäft war Geschäft.

Jonathan trollte sich, und Kelly blickte ihm vollkommen perplex hinterher.

Was war das jetzt gewesen? War er ein Hellseher? Er konnte doch unmöglich von dem Grabstein wissen, und sie hatte sich, ehe sie die Strandbude betreten hatte, zusammengerissen und vollkommen unter Kontrolle gehabt.

Äußerlich gesehen war alles gewesen wie immer. Was meinte er mit unausweichlich? Woher wusste er, dass etwas sie aus der Bahn gebracht hatte, was ja auch stimmte. Und dann seine Worte seinem Schicksal entgeht man nicht … Das alles war ziemlich mysteriös.

Kelly ärgerte sich. Meistens war sie der einzige Gast, wenn sie morgens hierher kam. Warum, zum Teufel, musste ausgerechnet heute diese trinkfreudige Gesellschaft hier herumsitzen, warum ausgerechnet hier und ausgerechnet jetzt?

Sie starrte auf das Glas, aus dem der Whisky honigfarben funkelte.

Sollte sein? Nein. Wenn sie jetzt von diesem Whisky trank, würde sie vermutlich den Rest des Tages knicken können. Kelly war hin- und hergerissen. Ja? Nein? Ach, was sollte es.

Jonathan musste sich etwas dabei gedacht haben, ihr den Whisky auf den Tisch zu stellen.

Sie hatte kein Programm für den Verlauf des Tages gemacht, und durch den Fund des alten Grabsteins an einem höchst ungewöhnlichem Ort dafür, war sie ganz schön durch den Wind, und Jonathans Worte hatten ihre Verfassung auch nicht verbessert, ganz im Gegenteil.

Kelly griff nach dem Glas, trank einen kleinen Schluck. Der Whisky brannte in ihrer Kehle, doch danach breitete sich wohlige Wärme in ihr aus, sie spürte, wie sie sich entspannte. Sie nippte ein zweites Mal, dann schob sie das Glas von sich weg, beobachtete den alten, hageren Mann, wie er in aller Ruhe eine weitere Runde des dunklen Starkbiers nach draußen brachte, diesmal in größeren Gläsern. Danach nahm er den Lachs vom Grill, der nicht nur köstlich aussah, sondern auch so gut roch, dass einem das Wasser im Munde zusammenlaufen konnte.

Er brachte den Lachs ebenfalls hinaus, was mit einem lauten Hallo begrüßt wurde. Es war eine höchst merkwürdige Situation, zumindest empfand Kelly das so. Dort die fröhlichen Menschen, und sie hier drinnen mit ihren aufgescheuchten Gedanken.

Sie bekam mit, wie Jonathan mit sehr autoritärer Stimme sagte, dass er erst einmal nicht gestört werden wollte und er wieder hinauskäme, wenn es weitergehen könne.

Dann wandte er sich ab, schloss die Tür hinter sich, kam an Kellys Tisch, setzte sich.

Kelly hatte auf einmal das Gefühl, dass es richtig gewesen war, hierher zu kommen. Und das lag nicht an den vorher von ihm gemachten Äußerungen.

Zwischen ihnen war auf einmal eine unglaubliche Vertrautheit, die es auch vorher schon gegeben haben mochte, ihr nur nicht bewusst gewesen war.

Er blickte sie lange an. Es war kein unbehagliches Schweigen.

»Ich habe es geträumt, dass etwas geschehen würde, etwas, was Ihr Leben grundlegend verändert. Genauso, wie ich wusste, dass Ihr Weg hierhin führen musste, als ich Sie zum ersten Male sah.«

Das musste Kelly erst einmal verdauen, und jetzt wünschte sie sich, sie hätte Rosalind ausfragen sollen, nachdem die ein paar vage Andeutungen über Jonathan gemacht hatte.

Wer war er? Besaß er übersinnliche Fähigkeiten, oder deutete sie etwas in ihn hinein, weil sie es so haben wollte, nachdem das mit dem altem Grabstein geschehen war?

Das konnte sie nur herausfinden, indem sie seine Worte hinterfragte, auch wenn ihr ein wenig unbehaglich dabei war.

Er blickte sie wieder lange an, dann sagte er: »Ich bin kein Hellseher, sondern ein intuitiver Mensch, und ich träume, wenn ich einer verwandten Seele begegne …, wir zwei … Sie und ich …, wir kennen uns schon sehr lange …, aus einem früheren Leben …, nun ist es an der Zeit …«

Er brach seinen Satz ab, seine Gedanken waren ganz weit weg. Kelly wagte kaum zu atmen.

Wäre das mit dem Grabstein nicht passiert, würde sie das, was er gesagt hatte, als spinnert abtun. Doch so einfach war es nicht.

Er hatte ihr noch keine Frage gestellt, hatte noch nichts Konkretes gesagt.

Sie hatte auf einmal das Bedürfnis, ihm zu erzählen, was ihr widerfahren war. Hatte er ihr eigentlich zugehört? Seine Haltung war unverändert, sein Blick verlor sich noch immer im Nirgendwo.

Umso überraschter war Kelly, als er sagte: »Vor einigen Jahren gab es hier in der Gegend eine schreckliche Sturmflut, die alles, was unterhalb der Klippen lag, mit sich riss, Dörfer, Anwesen. Auch der alte Friedhof von Dorsey wurde samt Kapelle niedergewalzt. Es ist nichts übrig geblieben. Der Grabstein muss ein Überbleibsel jener Katastrophe sein.«

Das hörte sich logisch an, aber Kelly gab sich damit nicht zufrieden.

»Wenn das Jahre her ist, kann der Grabstein unmöglich hier in der Gegend herumgedümpelt sein, wenn überhaupt. Schließlich ist er sehr schwer, und da besteht eher die Möglichkeit, dass er untergegangen ist wie die anderen Grabsteine und die Überreste der Kapelle.«

Er wandte ihr wieder seinen Blick zu. »Warum wollen Sie auf alles eine Antwort haben? Das Meer zerstört, verschlingt und gibt wieder preis, wenn es an der Zeit ist. Und nun ist es an der Zeit. War er in einem Gestrüpp verfangen? Wurde er beim letzten Sturm wieder hochgespült? Ist das wichtig? Entscheidend ist, dass Sie ihn gefunden haben, weil Sie ihn finden sollten. Kelly …, sechzehnter September …, das ist kein Zufall, sondern Vorbestimmung.«

Jetzt bekam sie eine Gänsehaut.

»Und ist es dann auch eine Vorbestimmung, dass die andere Kelly nur fünfundzwanzig Jahre alt geworden ist? Das bin ich jetzt auch und ich …«, ihre Stimme wurde leiser, »ich habe Angst.«

Er schob seine knochige Hand über den Tisch, umschloss ihre Rechte mit einer sanften, behutsamen Geste.

»Sie müssen keine Angst haben, alles wird gut, wenn noch ein paar Widerstände überwunden sein werden.«

Er wollte sie trösten, weil er spürte, wie aufgewühlt sie innerlich war. »Danke, dass Sie mich trösten wollen, Mr ….«, jetzt fiel ihr ein, dass sie von ihm nichts als seinen Vornamen kannte und dass es etwas Außergewöhnliches in seinem Leben gegeben hatte vor seiner Zeit in Blackham Market und der Strandbude.

»Jonathan«, sagte er, »nennen Sie mich einfach Jonathan, das tun hier alle, und das reicht. Was sind schon Namen …«

Er lächelte, und so etwas auf seinem sonst mürrischem Gesicht zu sehen, war unglaublich, denn erst jetzt sah Kelly, dass er das besaß, was man einen »Charakterkopf« nannte. Und er war ganz gewiss ein äußerst attraktiver Mann gewesen mit vielen Chancen in der Damenwelt.

Ob er je verheiratet gewesen war? Hatte er Kinder?

Schon verrückt, dass ihr angesichts ihres eigenen Elends solche Gedanken durch den Kopf schossen.

»Ich will Sie nicht trösten«, sagte er, »ich weiß es. Ich weiß auch, dass Sie das Letzte unerfreuliche Kapitel Ihrer Vergangenheit sehr schnell vergessen haben werden.«

Wie gern würde sie ihm glauben.

»Wissen Sie etwas über die MacCreadys, Jonathan?«

Wieder dieses unbeschreibliche Lächeln, dann schüttelte er den Kopf.

»Nein, mag sein, dass ich jemanden von ihnen kenne, aber, wie gesagt, Namen sind bedeutungslos …, für mich. Sie allerdings … Sie werden mit diesem Namen schicksalhaft verbunden sein.«

Er erhob sich.

»Tut mir leid, ich muss mich um meine Gäste kümmern«, er deutete auf das Glas, das noch immer auf dem Tisch stand. »Sie sollten es austrinken, es ist nicht genug drin, um sich zu betrinken, und Alkoholikerin werden Sie davon auch nicht.«