Über Barbara Aschenwald

Foto: Marco Grundt

Barbara Aschenwald wurde 1982 in Tirol geboren. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Innsbruck und verfasst Lyrik, Prosa und Hörspiele. Für ihren ersten Erzählungsband Leichten Herzens (2010) wurde sie mit dem Jürgen-Ponto-Preis ausgzeichnet. Bei Hoffmann und Campe erschien 2013 ihr Roman Omka.

Kaltwasser

Es wurde langsam dunkel. Joachim Kaltwasser saß auf dem Balkon in der beißend kalten Abendluft, er hatte Lust gehabt zu rauchen, wohl auch, weil er nicht wusste, was er sonst hätte tun sollen. Sein rotstichiges Haar bewegte sich trotz des Windes nicht, es war wie das Haar eines Schlafenden. Im letzten, feigen Licht des Tages sah er das Band des kleinen Baches glitzern, und Tränen traten ihm in die Augen, da er direkt in dieses vergehende Licht schaute. Ihm war, als wäre er durch eine Tür gegangen, durch jene Tür, die auch im Ortsnamen anklang, im Namen dieses kleinen Dorfes in den Bergen – hoch gelegen, sehr hoch.

So hoch, dass hier fast nichts mehr wuchs. Es gab keine Apfelbäume, keine Birnbäume, gar kein Obst. Da und dort hatten die Hausfrauen klitzekleine Gärtchen angelegt, wo sie Salat, ein paar Kräuter oder grobe Pferdebohnen anpflanzten. Denn es gab genau drei warme Monate. Nicht einmal die ansonsten so robusten schwarzen Johannisbeersträucher gediehen hier. Nur die Ebereschen standen überall, und im Spätsommer verbreiteten die brennend orangefarbenen Beeren ihren mehlig-süßen Geruch, wenn sie herabfielen und faulten. Denn auch Vögel gab es hier nicht viele, es war zu hoch, zu kalt. Nur Gebirgsdohlen segelten dann und wann vorüber und stießen zirpend helle Pfeiftöne aus. Dass das keine Raben waren, hatte ihm Harald erzählt, ein Mann, der im Dorf ein Gasthaus besaß. Joachim Kaltwasser war bei ihm zugekehrt, wie man hier sagte, und Harald hatte sich auf seine Frage, was das für Vögel seien, beim Kaffeetrinken kurz dazugesetzt. Der junge Mann hatte dunkles kurzes Haar, war behände und redselig, hatte flinke, schwarze Augen und erweckte den Eindruck eines jungen, gesunden Tierchens, das man am Waldrand eingefangen und hier ins Haus gesetzt hatte. Sie waren, wie hier üblich, schnell zum Du übergegangen. Joachim Kaltwasser, der sofort Vertrauen zu dem jungen Wirt gefasst hatte, bekam Lust, ihm zu erzählen, warum er in den Ort gekommen war. Aber er tat es nicht. Nicht, weil er nicht wollte, sondern weil Harald ihn, nachdem dieser ihm seinen Familienstand, die Geschichte seines Hauses, den Beruf seines Vaters und sein Alter hatte wissen lassen, auf den Kopf zu gefragt hatte: »Und, was bist Du für einer?«

Joachim Kaltwasser, verwirrt von dieser Frage, wollte sagen, dass er hier war, weil seine Frau unglücklich war, was sie ihm vorgestern gesagt hatte. »Was für einer« – das klang doch, als würde es ihn mehrfach geben, als wäre er nicht einzigartig und besonders. Er schämte sich, wollte antworten, wusste aber nicht was und hatte plötzlich Angst. Er hatte aus irgendeinem Grund noch nie in seinem Leben darüber nachgedacht, wie sehr die Zeit verging. Überhaupt war er ein scheuer, blasser Mensch, der an Idealen laborierte und mit gelben Hosen durch die Gegend lief. Zu seinem Namen passten seine wasserblauen Augen gut, die je nach Lichteinfall ins Graue oder Grünliche schlugen. Er hatte Harald den Kaffee bezahlen wollen, der aber winkte ab, drückte ihm die Hand und ging zurück in die Küche. Joachim Kaltwasser war in seine Unterkunft zurückgekehrt und hatte sich da hingesetzt, wo wir ihn vorgefunden haben: Auf den Balkon.

Er war froh, an der frischen Luft zu sitzen.

»Ich bin unglücklich.« Diese schrecklichen, zerstörerischen Worte kamen ihm wieder in den Sinn. Er schaute auf das glänzende Band des schwarzen Wassers, über das eine kleine Holzbrücke führte. Hier an der Talsohle war das Gras an den wenigen, schneenackten Stellen falbfarben wie das Winterfell eines Tieres. Die Dunkelheit kroch wie ein langer, dünner Schatten vom tiefsten Punkt des Tales aus die Straße hoch, und als sie das Dorf erreicht hatte, breitete sie sich in alle Richtungen aus und stieg die Hänge der Berge hinauf. Einer der beiden Hausberge sah aus wie ein spitzer Zaubererhut ohne Krempe, der andere wie ein stumpfer Kegel. Die Baumgrenze begann hier fast vor der Tür. Achthundert Seelen zählte das Dorf, es gab eine kleine Geburtskirche mit einem roten Dach, Joachim Kaltwasser war aber noch nie hineingegangen. Er beobachtete die steigenden Schatten, die die steilen Berghänge erklommen, die dunkelgrünen Latschenkiefern fraßen und sogar die kantigen Felsbrocken verschluckten, die mitten in den glatten, grünen Hängen thronten.

 

Ihm wurde unheimlich zumute, er spürte das Unheimliche regelrecht in sich aufsteigen, als säße er in einem Krug, in den jemand langsam dunkle Tinte eingoss. »Ich bin unglücklich«, fiel es ihm wieder ein. Ihre Augen mit den klappernden Lidern, der zitternde Mund – und als er nicht wegsah, fügte sie hinzu: »Wegen dir.«

Jetzt leuchteten nur noch die Gipfel der Berge in einem blendenden Orange und sahen aus wie spitze Zähne. Joachim Kaltwasser hatte seinen Ehering abgezogen. Wie sollte man ihn auch tragen, wenn die Frau unglücklich war. Der Schatten, der jetzt alles zugedeckt hatte, schien auch himmeltief in seine Seele zu reichen.

Wenn man nicht einmal einen einzelnen Menschen auf der Welt glücklich machen konnte, wie war es dann um die Welt bestellt? Er hatte ihr gesagt, dass er nicht ihr Unglück sein wollte, und war gefahren.

Was für eine Dunkelheit! Im Dorf brannten zwar die Lichter, aber rundherum war es eingeschlossen von Dunkelheit, von der Dunkelheit der Wälder und der nächtlichen Berge. Was dort in der Nacht wohl jetzt erwachte? Joachim Kaltwasser fühlte sich, als sei er das Dorf, in dem noch ein paar Lichter brannten, eingeschlossen vom dunklen Unglück seiner Frau. Es war vernichtend, alles verschluckend, man konnte ihm nicht entkommen, und Joachim Kaltwasser fiel ein Philosoph ein, dessen Namen ihm zwar nicht erinnerlich war, der aber meinte, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe. »Wie wahr, wie wahr«, dachte er sich und drückte seine Zigarette aus, deren orangefarbenes Glimmen das letzte Licht auf dem Balkon gewesen war. Sonderbar war es aber doch. Denn in diesem ganzen Schlamassel fühlte er sich auf seltsame Art bedeutungsvoll und größer. »Wegen dir«, hatte sie gesagt. »Ich bin unglücklich wegen dir.«

Die wenigen Bäume, die er im Lichtkegel der Straßenlaterne noch sah, wirkten wie Kulissen. Als hätte man ihre Konturen stark mit Kohlestift nachgezogen, sodass man fast den Eindruck hatte, man könne durch sie hindurchgehen.

 

Joachim Kaltwasser überschlug, was er alles getan hatte, um sie glücklich zu machen. Er hatte ihr das Kunststudium in Berlin finanziert, und auf den Einwand seiner Mutter, die ihn gewarnt hatte, das gehe furchtbar ins Geld und mit so einem Studium ließe sich nachher kein Beruf finden, es sei denn, man ziehe in die Stadt, hatte er erwidert, dass es sich bei seiner Frau schließlich um einen Menschen handle und nicht um einen Erwerbsfaktor. Und dass ihm als ihrem Mann ihr Glück wichtiger sei als alles Übrige. Er hatte ihre Italienreise bezahlt, als sie ihm sagte, das Studium strenge sie an, sie sei müde und die Tage würden immer kürzer und dunkler und dass man in die Sonne fahren müsse. Er selber wurde aber nicht beurlaubt, also fuhr sie mit einer Freundin nach Venedig. Er hatte neue Vorhänge angeschafft, als sie sagte, die Wohnung sei ihr zu düster, eine Haushaltshilfe war für zweimal die Woche bestellt, und als nichts anderes mehr half, hatte er sogar zugestimmt, als sie ihm mitteilte, dass es an der Zeit wäre, ein Kind zu haben. Ihrer Ansicht nach müsse es in der Liebe doch eine Art seelische Berührung geben, die sie aber jetzt, nach sieben Jahren Ehe, nur noch undeutlich verspüre und manchmal gar nicht.

Feuchte Kälte durchdrang ihn, die bestimmt von dem kleinen Bach hochgestiegen war, und er meinte, spüren zu können, wie das Unglück seiner Frau in der Dunkelheit der Kiefern und der Berghänge umherging, den Lichtkegel des Dorfes umkreiste und ihn, Joachim, fixierte, wie er mit seinen gelben Hosen und seiner fehlenden Lösung auf dem Balkon saß. Das Unglück seiner Frau, das ihn von irgendwo da draußen mit großen, alten, verweinten Augen ansah, vorwurfsvoll, weil es seinetwegen so alt geworden war.

Seine trockenen Hände tasteten in der Luft herum. Und plötzlich war ihm, als suche das Unglück seiner Frau gar nicht unbedingt nach ihm, sondern einfach nach irgendjemandem, denn es brauchte genau genommen gar nicht ihn. Sondern jemanden.

Ein unangenehmer Gedanke, den er sofort wieder verscheuchte.

Zu dunkel, zu kalt, zu wenig Licht, zu wenig Verständnis, zu wenig Freude, zu wenig Abwechslung. Joachim Kaltwasser hatte viel versucht, die Mängel auszugleichen. Innerlich fühlte er sich nicht, als säße er in der kalten Luft der Vorfrühlingsnacht, sondern in einer sich langsam erhitzenden Pfanne, und es war egal, wohin er fuhr, wie er auch aus ihr zu entkommen versuchte, er kam nicht über die scharfe Kante des Randes hinaus. Sie wusste nicht, wohin er gefahren war.

Was er nicht wusste, war, dass seine Frau auch am hellsten, schönsten, entlegensten Ort der Welt noch unglücklich gewesen wäre, und wohl dadurch war sie ihm einst interessant erschienen, denn sie brauchte etwas, und in Joachim Kaltwassers Augen brauchte sie ihn.

»Der Mensch muss doch glücklich sein«, dachte er sich. Sein Blick fiel auf den kleinen gelben Kirchturm mit dem roten Dach. Er nahm sich vor, sich die Kirche anzusehen. Obschon er die Gegenwart Gottes noch nirgendwo verspürt hatte, so beruhigten ihn doch die starren Heiligenfiguren mit ihren Märtyrerpalmen, den hingebungsvoll-schmerzhaften Blicken und den vergoldeten Beilen und Schwertern. So sah die Überwindung alles Irdischen aus, und so ähnlich hatte auch seine Frau manchmal ausgesehen, allerdings ohne Überwindung des Irdischen. Nicht einmal ihr Kunststudium an der Humboldt-Universität hatte sie abgeschlossen – auch nach sechs Jahren nicht. Sein Wirt Andreas fiel ihm ein und dessen Frau, die die Wirtschaft im Gasthaus besorgte, in der Küche arbeitete und daneben noch drei Kinder großzog. Hatte sie sich denn wohl jemals die Frage nach dem eigenen Lebensglück gestellt? Ihr Gesicht erschien vor seinen Augen erstaunlich jung mit großen, tief sitzenden, hellen Augen, einem weißen Krägelchen unter dem Kinn und einem seltsamen Lächeln. »Zufrieden muss man sein«, sagte das Gesicht. »Zufrieden, wenn alles gesund ist und man zu tun hat.« Aber dem überdurchschnittlichen Geist reichte das nicht aus, er brauchte nicht nur Gesundheit und genug zu tun, sondern musste unbedingt höhere Ziele haben, davon war Joachim Kaltwasser zutiefst überzeugt.

Er blickte jetzt in die vollständige Dunkelheit wie in ein Ofenrohr, und obwohl er eigentlich gerne noch einen Spaziergang gemacht hätte, traute er sich nicht. Also ging er auf sein Zimmer, wusch sich und legte sich hin, um zu lesen, aber die Zeilen verschwommen vor seinen Augen, und in seinem Kopf ging alles durcheinander. Er hatte den ganzen Abend nur nachgedacht, ohne eine Lösung zustande gebracht zu haben, und war am nächsten Morgen müde und gereizt. Als die Sonne zögerlich und blass spät am Tag aufging, war das Erste, was er sah, ein kleiner dunkler Fleck an der Zimmerdecke, und er nahm sich vor, seinem Wirt Bescheid zu sagen. Er fühlte sich, als hätte er gar nicht geschlafen.

Joachim Kaltwasser zog seine gelben Hosen wieder an, die er schon die ganze Woche getragen hatte, denn hier hatte er niemanden, der sich um seine Wäsche kümmerte. Abgesehen davon schien ihm eine gewisse Vernachlässigung des Äußeren in seiner traurigen Situation angebracht. Vor dem Fenster zeigte sich ein sonniger, aber bitterkalter Tag, und als er die schmutzigen, kalten Hosen anzog, fasste er den Entschluss, sie anzurufen. Ja, anrufen musste man und die Situation aus der Welt schaffen, das Glück wiederherstellen. Und dann?

»Was für Ansprüche!«, hörte er durch die dünne Fensterscheibe jemanden auf der Straße sagen. »Hahaha, was für Ansprüche!«

Er ging zum Frühstück, im Speisezimmer war sorgfältig ein kleines Buffet aufgebaut. Sein Blick fiel auf den Schinken, die Käsestückchen und das Obst, und ihm wurde unbehaglich. Jeden Tag, so dachte er, wurde das alles hergerichtet und nachher wieder weggeräumt, schon jahrzehntelang und noch hunderte von Jahren in der Zukunft.

Er trank Kaffee, Tee und aß Butterbrote und Kuchen, obwohl er wenig Hunger verspürte. Als jemandem hinter ihm eine Gabel zu Boden fiel, erschrak er, drehte sich um und bat um Entschuldigung.

Joachim Kaltwasser war nämlich von Natur aus schreckhaft, abergläubisch und hatte dünne Beine.

In der Schule hatte man ihn Hasenherz genannt.

Insgeheim hatte Joachim Kaltwasser das Unglück seiner Frau ja immer für etwas gehalten, was sie auszeichnete. Glück und Zufriedenheit waren zwar sein hohes Ideal, aber interessant hatte er stets diejenigen Frauen gefunden, die an etwas litten.

Das Licht fiel schräg in die holzgetäfelte Stube, vor der Tür stand ein Wegweiser, auf dem Ortsnamen wie Moskau, New York, Sydney und Johannesburg standen, und über allem flog mit klagendem Schrei eine Gebirgsdohle. Die Uhr schlug zehn, und jemand begann, das Buffet abzuräumen.

»Ist hier alles in Ordnung – sind Sie zufrieden?«, fragte eine Stimme hinter ihm.

»Womit?«, fragte Joachim Kaltwasser, verwirrt von der Zeitung aufblickend.

»Hat es Ihnen geschmeckt?«

»Danke, ich hatte nur nicht soviel Hunger, ich …«, sagte Joachim Kaltwasser, beendete den Satz aber nicht.

Der Wirt, schlohweißes Haar, hochgewachsen und mit Augenbrauen wie Getreidespelzen, verschwand, um kurz darauf mit Prospekten in der Hand zurückzukehren, sich räuspernd und mit einer Hand am Saum seiner grauen, gestrickten Weste nestelnd.

»Hier«, sagte er und legte sie vor Joachim Kaltwasser auf den Tisch. »Das sind Ausflugstipps für die Gegend. Sie müssen aber achtgeben, zu dieser Jahreszeit hat vieles geschlossen, eigentlich fast alles. Aber es gibt sehr schöne Spazierwege. Wegen der Lawinengefahr müssen Sie sich allerdings dringend auf den gekennzeichneten Wegen halten.«

»Hier gibt es Lawinen?«

»Wir liegen sehr hoch, mein Herr. Und überall in der Natur gibt es Gefahren. In der Karibik spucken die Vulkane Feuer, am Meer gibt es Sturmfluten, im Flachland Wirbelstürme, ja, und hier eben Lawinen. So ist das nun einmal.«

Die Hand am Saum hatte dicke Fingerknöchel, die gerötet waren, die Finger selber waren sehr hell. Joachim Kaltwasser, von Natur aus unbegabt dafür, Dinge zu übersehen, die seinem Gegenüber unangenehm sein könnten, sah zu lange hin. Der Wirt bemerkte es und sagte: »Die Weißfingerkrankheit. Hier sagt man auch Totenfinger dazu. Von der Arbeit in der Kälte kommt das, mit der Motorsäge.«

An den Tod hatte Joachim Kaltwasser auch noch nie im Besonderen gedacht. Er hielt ihn für etwas, das alle Menschen betraf – nur ihn nicht.

Vom Nebentisch sah plötzlich eine alte Frau zu ihnen herüber; mit dem Blick eines Menschen, der schon lange einen tiefen Schmerz unterdrückt, sah sie Joachim Kaltwasser an. Ihr Kleid war aus grober, aschfarbener Wolle, ihre Handgelenke waren knotig, ihre Haut aber glatt und hell wie Leinwand. Sie war grell geschminkt, ihr Haar war seltsam dick und braun, es schien nicht zu ihr zu gehören, denn ihre ganze Gestalt war dünn, gebückt und machte einen sehr kranken Eindruck. Der Haaransatz begann viel zu weit oberhalb der Stirn, und Joachim Kaltwasser meinte, ein paar dünne, graue Haare zu sehen, vielleicht war das aber auch nur Einbildung. Jedenfalls bemerkte er ein starkes Parfum, das unangenehm künstlich nach Blumen roch.

Ihr Ausdruck bekam plötzlich etwas Fragendes, die grauen, tiefliegenden Augen blickten ihn noch durchdringender an, und etwas an dieser kleinen, gebeugten Gestalt sprach zu ihm.

Seine Frau fiel ihm ein. Sie saß zuhause und hatte bestimmt nicht die Kraft, ihn anzurufen, seit er weggefahren war. Und ihm gegenüber saß die alte Frau, die vielleicht noch gar nicht so alt war, mit ihrem fragenden Blick und ihrem weißen, grell überschminkten Gesicht und schien zu sagen: Schau mich an, ich bin das Unglück. Ich bin so alt wie die Welt, und ohne mich wäre sie eine andere. Nicht die Satten, Zufriedenen haben in der Welt etwas erschaffen, sondern die Unglücklichen, denn die satte Schlange fängt man. Jeder sucht das Glück – mich aber sucht niemand. Und dabei war ich es, die alle Künste der Welt geschaffen hat, denn der Mangel und die Not gebären Erfindungen. Das goldene Glück, nach dem jeder sucht – für was hältst du es denn eigentlich? Bist du gesund, hältst du das nicht für Glück, bist du aber krank, so bist du unglücklich und willst wieder gesund werden. Wer hätte ohne mich eine lebendige Empfindung vom Leben?

Da sah Joachim Kaltwasser seine Frau vor sich, glücklich, satt und zufrieden, gesund und im besten Alter, und sie erschien ihm farblos und uninteressant. Wohingegen ihre hungrigen Augen, die ihn so oft ansahen, als wollten sie ihm sagen, dass er schuld war, ihn anzogen und reizten. Und ohne ihren andauernden Streit – wie würde ihre Ehe überhaupt aussehen? Gäbe es sie denn?

Sein Blick fiel auf die Glühbirne über dem Tisch. Hätte man sie denn erfunden, wenn die Angst vor der Dunkelheit nicht wäre?

Die Frau sah ihn immer noch an, und plötzlich wendete sich etwas in seinem Innersten um, und wo er bis jetzt nichts gesehen hatte, war plötzlich etwas zu erkennen, erst nur schemenhaft, aber es wurde immer größer.

Der Wirt stand immer noch vor ihm, die Prospekte lagen auf dem Tisch, und die Totenfinger, wie er sie genannt hatte, ruhten vor ihm auf der Tischplatte. »Erleben Sie den Gipfel!«, stand da.

Wovon war eigentlich auszugehen? Joachim Kaltwasser schien es mit einem Mal, als würde das Dorf am Fuß des Berges inmitten dieser wilden Landschaft ihn an etwas gemahnen. Die Steine begannen zu ihm zu sprechen und sagten: »Uns gibt es hier.« Das Gestrüpp, das der Wind zauste, der, wenn er über die Hänge gelaufen war, bis in die Unendlichkeit zu gehen schien, sprach zu ihm: »Ich bin da.« Das Morschholz im Wald, auf dem der Tau lag und das faulig roch, und die sauren Nadeln der Bäume am Boden, sie sagten: »Das ist unser Boden.« Die Kare mit ihren sogar in stockdunkler Nacht blendend weißen Schneeflecken sagten: »Wir sind da seit der Urzeit.« Und das Bächlein, das durch das Tal rauschte und das immerzu rauscht und auch in zweitausend Jahren noch rauschen wird, sprach auch: »Hier bin ich.« Und irgendwie ist im ewigen immergleichen Rauschen das Unterpfand unserer ewigen Erlösung verborgen. Der dunkle, alte Himmel sagte: »Es ist kalt hier. Aber die, die hier wohnen, sind voll von Wärme und Herzlichkeit.«

Überhaupt fing das Weltall an der Passstraße an – genau genommen bei der letzten Straßenlaterne. Und an der Schneegrenze hörte das Denken auf.

Das Brot, das man hier aß, sagte: »Mich hat jemand gebacken.« Der Zaun neben den großen, steinleergeräumten Feldern sagte: »Mich hat jemand gezimmert.« Die Steine in den Mauern sagten: »Uns hat jemand aus den Feldern aufgesammelt.«

Menschenhand fiel hier auf, wo alles den Bergen zu gehören schien. Was nicht den Bergen gehörte, das hatte jemand gemacht. Das beunruhigte Joachim Kaltwasser.

Dieses Dorf! Es war die letzte Siedlung vor dem Pass.

Joachim Kaltwasser hatte sich schon bei seiner Ankunft auf dem kleinen Dorfplatz, wo er aus dem Bus ausgestiegen war, gefühlt wie ein Wanderer, der eine Schutzhütte betrat, sich vor dem Eintreten die Schuhe abklopfte, verfroren die dicke Joppe auszog und sich an einen Tisch setzte, mit dem Blick durchs Fenster auf den zurückgelegten Weg, auf den der Abend schon seine violetten Schatten warf. Die feuchte Kühle der Nacht war draußen geblieben und wehte nur kurz herein, wenn jemand die Tür öffnete.

Müde war er von der langen Fahrt, und ihm war etwas flau von den Kurven, im Gepäck hatte er das Unglück seiner Frau, aber keine zweite Hose neben der gelben. Unweit der Busstation arbeiteten zwei Männer mit bartlosen Gesichtern einen Stapel Holz auf, wahrscheinlich Vater und Sohn. »Was bist du denn für einer?« Das kam ihm immer noch seltsam vor. Es schien hier aber eine ganz normale Frage zu sein. So, wie man woanders fragt: »Wie heißen Sie denn bitte?«

Was für einer er war, hätte er selber gerne gewusst. Gemeint war damit nämlich nicht nur der Beruf, sondern auch der Familienstand, die Religion, die familiäre Tradition, der man entstammte, und der Beruf des Vaters.

Eine befriedigende Antwort darauf hätte im Falle Joachim Kaltwassers folgendermaßen lauten können: »Ich heiße Joachim Kaltwasser, bin 42 Jahre alt und verheiratet, kinderlos. Ich bin Angestellter bei einem Verein, der ›wohnungs- und arbeitslose weibliche Persönlichkeiten‹ unterstützt, habe aber studiert und wohne in Brandenburg. Mein Vater war evangelischer Pastor, meine Mutter ist vor siebzehneinhalb Jahren gestorben.«

Das wollte ihm aber nie einfallen, aus irgendeinem Grunde hatte er davor Angst. Er wollte vielmehr auf diese Frage antworten, was ihn bewegte, worüber er nachdachte, was er nicht verstand und dass er mit seiner Frau in einem gewissen Disput war. Denn das schien ihm das Unverwechselbare, Wichtige und Interessante zu sein.

Plötzlich, als wäre er vom Himmel gefallen, war er wieder am Frühstückstisch. Die alte Frau gegenüber war weg, aber vielleicht war sie auch nie da gewesen. Der Wirt Andreas hingegen war noch da.

»Sagen Sie, Andreas«, fragte Joachim Kaltwasser und machte eine Geste in Richtung des Tisches am Fenster. Dort stand zumindest noch eine leere Teetasse, also konnte er nicht ganz falsch liegen mit der Annahme, dass dort tatsächlich jemand gesessen hatte.

Der Wirt, der einen sehr beruhigenden Eindruck auf Joachim Kaltwasser machte, sagte: »Eine Schweizerin. Sie kommt schon, seit sie ein junges Mädchen war, hierher. Ihr Mann ist gestorben, und sie trägt seine Urne mit sich herum. Als sie zum ersten Mal mit ihrem Verlobten hier war, war mein Vater noch am Leben. Er war groß und übermütig, und als er sie an der Rezeption stehen sah, rief er laut: ›Da bist du ja wieder!‹, stürmte auf sie zu und hob sie hoch, um sie die Treppen hinaufzutragen zu ihrem angestammten Zimmer. Der Verlobte stand daneben und hat sich gar nicht mehr ausgekannt … Er ist dann auch gestorben. Sie ist unglücklich, weil sie nichts anderes zu tun hat und weil sie krank ist.«

Sie waren jetzt zu zweit in dem großen leeren holzgetäfelten Frühstücksraum. Es ging auf Mittag zu, die Frau des Hauses räumte immer noch das Buffet ab.

»Und Sie?«, fragte Joachim Kaltwasser.

»Ich habe Gott sei Dank zu tun«, sagte der Wirt. Er sagte das wie jemand, der über die Frage nach dem Glück schon nachgedacht und für sich eine Antwort gefunden hatte.

»Nur zu tun«, dachte Joachim Kaltwasser. »Er hat nur zu tun.« Reichte das? Hier reichte das wohl. Aber für einen Menschen mit Fähigkeiten, für den sich Joachim Kaltwasser hielt, war das eben nicht genug. Er dankte freundlich, stand auf und ging, um sich noch ein wenig auszuruhen. Denn obwohl er davon überzeugt war, dass der Mensch dringend ein höheres Ziel brauchte als nur zu arbeiten, ging in seinem Kopf alles durcheinander. Er stieg die Treppen hoch, fand den Schlüssel in der Tasche seiner gelben Hose erst nicht, weil er in die falsche gelangt hatte, wie immer. Nachdem er aufgeschlossen hatte, legte er sich aufs Bett und schlief, schlief wie ein Stein. Das mit dem dunklen Fleck an der Zimmerdecke hatte er im Übrigen vergessen, Andreas zu sagen. Er träumte von der Passstraße, es war Nacht. Er stand an der Stelle, wo die letzte Laterne ihren gelben Lichtkegel auf die Straße warf und gerade dort, wo es dunkel wurde, stand eine Frauengestalt. Es war die Schweizerin. In der Hand hielt sie ein rundes Gefäß. Der Zaun sagte: »Mich hat jemand gezimmert.« Die Straße sagte: »Mich hat jemand gebaut.« Das Licht in der Laterne sagte: »Mich hat jemand hier hineingetan.« Und die Schweizerin sagte: »Ich heiße Joachim Kaltwasser, bin 42 Jahre alt und verheiratet, kinderlos. Ich bin Angestellter bei einem Verein, der ›wohnungs- und arbeitslose weibliche Persönlichkeiten‹ unterstützt, habe aber studiert und wohne in Brandenburg. Mein Vater war evangelischer Pastor, meine Mutter ist vor siebzehneinhalb Jahren gestorben.«

 

Joachim Kaltwasser schreckte hoch, wie durch einen Schuss geweckt. Und er rief noch am selben Abend seine Frau an, um ihr zu sagen, dass er sie liebe und dass er morgen nach Hause komme.

Lichter im Berg

»Hier ist kein Krieg«, sagt Anton und schöpft sich aus der großen Suppenschüssel nach. »Und es kommt auch keiner her. Wir liegen zu hoch.« Er lacht.

In der Suppenschüssel dampft eine Brühe mit Knödeln, Karotten, Kraut und Selleriestückchen. Es schneit. Am Tisch sitzen vier Erwachsene und ein Kind. »Man lebt gern hier oder gar nicht. Es gibt ein paar Zugeheiratete und ein paar Zugezogene, ich kenne hier alle Leute und sehr, sehr viele Geschichten.«

Das Kraut isst man in der Suppe.

 

Der Gorfen steht wie Christopherus, der den kleinen Jesusknaben auf der Schulter trägt, als Beschützer des Dorfes da, das letzte, gelbe Licht bedeckt seine Hänge und färbt sie wie die Spitzen der Gänseblümchen.

Das Dorf hat es warm und gemütlich in den Stuben und beißend kalt in seinem Wald, den Wiesen und den Feldern. Alles, was hier wohnt, scheint im Stillen, ganz für sich, ein Wort zu sagen: Trotzdem.

Es ist nichts flach hier.

 

»Es hat ausgereicht«, sagt Renate. Ihr Haus ist das kleinste, steht aber mitten im Ort zwischen den großen Hotels, es ist rot gedeckt, die Fenster zeigen nur die Hälfte von dem, was man durch die riesigen Scheiben der Hotels sieht. Das Drinnen ist deutlicher bei ihr.

»Ich wohne hier alleine. Magst du einen Lebkuchen?« Er liegt in dem geflochtenen Körbchen auf dem Tisch. »Nimm dir, nimm dir!«, sagt sie.

Ihr Haus ist zufrieden. Es will auch kein Hotel sein und keine großen Fenster haben. Hinter dem Haus ist ein kleiner Blumengarten mit einer Bank, sie schaut zum Gorfen. Die Blumen sagen: Rot! Gelb! Orange!

»Es reicht auch jetzt noch aus, und ich brauche nicht mehr«, sagt sie. »Was für eine Krankheit, dass der Mensch immer mehr haben will und weniger wissen.«

Sie sagt, sie lebt immer schon hier.

In ihren Augen ist ein Licht.

 

Im letzten Ort des Tales stehen die Häuser zum Schutz hinter großen Mauern. Lupinen in Violett, Weiß und Rosa wachsen in den Mauern, als wären sie dafür da. Sogar das grüne Gras, das hier in den Futterwiesen wächst, aus denen mühsam jeder Stein aufgesammelt wurde, sagt: Trotzdem.

 

»Zu Renate kommt man hier durch«, sagt Franz und geht durch sein großes Hotel, durch die Küche, wo alles sauber ist und glänzt; der Edelstahl ist poliert, die Front zur Straße hin aus Glas. »Das muss man so haben«, sagt er, »als Gastbetrieb.«

Seine Frau legt den Schlüssel hin. »Für den unteren Stock«, sagt sie. »Geh nur schwimmen, ins Warme, es ist kalt! Neinnein, lass das Geld stecken, geh nur, geh!«

Das Hotel ist modern, schön und groß. Aber es will nicht größer sein. Eine Lampe flackert auf dem Weg nach unten, als würde sie gleich ein Geheimnis verraten wollen.

 

Auf dem Friedhof zittern die Flammen in den Windlichtern. Es ist nicht viel Platz, es ist eng zwischen den Bergen. Der Spazierweg des Dorfes liegt fast auf tausendsiebenhundert Metern, er führt am Berghang über dem Dorf entlang.

Er führt durch die Lawinenkegel.

 

»Irgendwann muss es genug sein«, sagt Mary Lou. »Das verstehen die Leute auch. Am Weihnachtstag ist ab acht Uhr Ruhe. Es gibt kein Feiertagsdiner. Wir haben zwei kleine Kinder, und unser Heiligabend steht nicht zum Verkauf. Die Leute kommen trotzdem. Und es kommen die richtigen.«

Das Haus war früher eine kleine Frühstückspension. Es ist größer jetzt, elegant, und sie haben es sich zu eigen gemacht.

»Das hier war nicht mein Lebenstraum«, sagt Mary Lou, »sondern der meines Mannes. Ich hätte auch nein sagen können, ich habe es mir lange überlegt. Man muss sich in seinem Leben so gut es geht einrichten.«

Ihr Gesicht ist hell und freundlich, ihre Augen sind überlebensklug. »Ich mache es auf meine Art. Willst du eine Praline im Glas?«, fragt sie. »Das war meine Idee.«

In ihrem Garten blühen im Sommer üppig duftende Rosenbüsche. Auf der Treppe, die ins Haus führt, brennen in Gläsern kleine Lichter.

 

Hier verkauft man Betten, Essen, Wein, Tageskarten zum Skifahren. Aber nicht alles.

 

»Die werden alle recht«, sagt Karl. »Zu mir kommen immer viele Eltern und fragen, ob es denn gut sei, wenn der Sohn weggeht und Mechatronik studiert oder Informatik oder weiß der Kuckuck was, ob es denn nicht besser sei, er werde hier Elektriker oder Gastwirt. Ich sage dann immer, die werden alle recht. Wir können das Leben nicht begreifen, leben müssen wir es so gut es geht.«

 

In der kleinen Ortskirche brennt ein rotes ewiges Licht.

 

»Du trinkst doch einen Kaffee?«, fragt Andreas. Es schneit, als hätte der Himmel alle anderen Wetter vergessen und wolle nicht mit dem Schneien aufhören. »Die Gäste kommen erst morgen. Man kommt nicht durch und das freut sie sehr.« Vor ihm ist ein frisches, immergrünes Gesteck mit Blumen und bunten Kugeln. »So etwas fällt heute nur noch auf, wenn es fehlt«, sagt er. »Die schönen Sachen, das Silberbesteck, die Kerzen, Untertassen, polierten Gläser und die bedruckten Servietten schätzt niemand, es sei denn, das alles fehlt. Dabei freut man sich doch als Wirt, wenn jemand sagt, dass alles schön hergerichtet ist. Vielleicht liegt das aber auch an den großen Hotelketten, die es überall gibt. Da ist alles viel anonymer, da ist so ein Haus eine seelenlose, lebendige Maschine. Aber ich wollte das nie so haben. Sonst kann ich gar nicht so viel erzählen. Magst du noch einen Kaffee?«

Im Schnee sitzen kleine Lichter, die durch eine geheime Kraft aufflammen und wieder erlöschen.

 

Durch das Dorf führt eine einzige, zweispurige Straße, die, nachdem sie das Dorf verlassen hat, über den Rücken des Berges und aus dem Blick läuft. Und als wären sie aus den Wolken gefallen, liegen da und dort kleine Weiler, die so tun, als würden sie das Dorf gar nicht brauchen.