Als Polly die Küche erreichte, hörte sie es auch: Da war tatsächlich ein Poltern in der Speisekammer!

Winifred, die an Isabellas Hand die Treppe hinuntertapste, runzelte die Stirn. »Heiliger Vogelschiss! Da veranstaltet aber jemand eine ganz schöne Rumpelei!«

Polly legte behutsam den Finger auf die Lippen. »Am besten, ihr geht unter dem Küchentisch in Deckung! Ich kümmere mich um den Poltergeist da drinnen …« Auf Zehenspitzen schlich sie sich an die Speisekammer heran und atmete tief durch. Potzblitz! Wer auch immer hinter dieser Tür steckte, machte Lärm wie ein entflammter Silvesterkracher! Polly musste schlucken. Konnte es wirklich sein, dass Isabella ein echtes Monster eingesperrt hatte? Eigentlich glaubte Polly kein bisschen an Monster. Aber an Vampire hatte sie schließlich auch nicht geglaubt – und jetzt war sie selber einer!

Es gab nur einen Weg, sich Gewissheit zu verschaffen: Polly musste die Tür öffnen und sich dem Raufbold gegenüberstellen! Entschlossen straffte sie die Schultern, kniff die Augen zusammen und führte die Hand zum Schlüssel, der außen in der Tür steckte.

»Schnall lieber deine Hosenträger enger, du Schurke!«, zischte Polly durch das Schlüsselloch. »Jetzt lernst du nämlich Polly Schlottermotz kennen. Und das wird sicher kein Vergnügen!«

Doch halt! Was war das? Als Polly den Schlüssel das erste Mal umdrehte, verstummte der Lärm plötzlich und ein schrilles Fiepen erklang.

»Polly? Bist du das?«

Überrascht hielt Polly inne und lauschte an der Tür. Sie kannte diese piepsige Stimme, ja! Das war doch …! »Adlerauge?«

»Polly! Ein Glück!« Adlerauge quietschte vor Aufregung. »Du musst mich re-he-heeeetten! Ich wurde von einem Ungeheuer verschlungen!«

Polly musste lachen. Kein Wunder, dass sie den kleinen Flatterwicht nicht gefunden hatte. Er saß in der Speisekammer fest und polterte herum wie ein Dinosaurier im Teestübchen!

Gerade wollte Polly den Schlüssel ein weiteres Mal drehen, da schoss plötzlich ein rotes Licht auf sie zu. Ein Glühwicht! Potzblitz! Die leuchtenden Brummer warnten Vampire vor drohenden Gefahren.

Auch Winifred hatte den blinkenden Wicht entdeckt. »Polly! Pass auf!«

Polly aber grinste frech und fegte den Brummer mit einem Handschlag von ihrem Gesicht weg. »Keine Panik, Winnie, das ist nur ein Fehlalarm. Da drinnen sitzt kein Monster, sondern Adlerauge!« Im nächsten Moment drehte sie den Schlüssel und riss fröhlich die Tür auf. Von Adlerauge aber war keine Spur, nein! Alles, was sie sah, war ein gigantischer Reisekoffer, der im obersten Fach lag und bedrohlich wackelte. Polly konnte gerade noch einen Schrei ausstoßen, bevor das riesige Gepäckstück vom Regal rutschte und mit einem gewaltigen Scheppern mitten auf ihrem Kopf landete …

»Alles okay, Polly?« Besorgt stürzte Isabella auf sie zu.

Winifred schnappte sich einen Kochlöffel und wedelte hektisch vor Pollys Gesicht herum. »Luft! Das Kind braucht frische Luft!«

Polly fasste sich an den schmerzenden Kopf und schob den Löffel beiseite. »Danke, Winnie. Aber ein Eisbeutel zum Kühlen wäre mir lieber …«

»Eisbeutel! Kommt sofort!« Winnie sprang auf und hastete die Kellertreppe hinab.

Isabella sah Polly mitleidig an. »Tut es sehr weh?«

»Ach was, das ist nur eine Kleinigkeit …« Polly lächelte tapfer, doch Isabella durchschaute sie sofort: Pollys Kopf tat schrecklich weh! Bevor sie aber noch etwas sagen konnte, polterte es schon wieder im großen Reisekoffer, der nun auf dem Küchenboden lag.

»Hey! Halloooooo? Adlerauge an Vampirmädchen: Könntet ihr mich endlich aus dem Schlund der Bestie befreien? Ich krieg nämlich langsam Migräääne!«

Polly beugte sich seufzend über den Koffer und ließ die Metallschnalle aufschnappen. Kaum hatte sie den schweren Kofferdeckel angehoben, schoss Adlerauge wie ein Pfeil aus der dunklen Höhle und heftete sich stürmisch an Pollys Hals.

»Du bist die Beste! Die Beste, Beste, Beste!« Im nächsten Moment aber hielt der kleine Flatterich verdutzt inne, schob sich die winzige Brille auf der Nasenspitze zurecht und blickte irritiert in die Speisekammer. »Wie sieht es denn hier aus?«

Und tatsächlich. Als Polly ihren Kopf zur Seite drehte, sah sie es auch: Der Koffer hatte bei seinem Sturzflug nicht nur sie selbst umgerissen, sondern auch sämtliche Regale in Winnies Vorratskammer zu Fall gebracht. Auf dem Fußboden glitzerten Tausende Scherben, an den Wänden klebte Winnies Kalksteinpaste und das allerfeinste Kleebeerengelee tropfte vom Türgriff direkt vor Pollys Füße. Am schlimmsten aber war die klebrige Brühe aus Blutorangensaft, die sich hinaus auf den Küchenboden schlängelte. Was für eine Schweinerei!

Isabella verzog das Gesicht. »Mist! Ich fürchte, das war unser gesamter Vorrat an Blutorangensaft …« Auch das noch! Polly schloss die Augen und stöhnte. Sie konnte Blutorangensaft kein bisschen ausstehen, aber wenn ein Vampir nicht täglich ein großes Glas davon trank, wurde ihm potzblitzschwindelig. Und zwar nicht nur in den Beinen, sondern auch auf der Zunge. Das konnte Polly nun wirklich nicht gebrauchen!

Zornig funkelte sie Adlerauge an. »Das ist alles deine Schuld!«

»Meine Schuld?« Der Fledermäuserich wackelte empört mit der Nasenspitze. »Was kann ich denn dafür, dass mich dieses Ungetüm verschluckt hat? Ich wollte mir nur ein passendes Gepäckstück suchen und ZACK! hat das Monster sein Maul zugemacht. Das war ein Hinterhalt, jawohl! Ein ganz hinterhältiger Hinterhalt!« Eingeschnappt schüttelte der Flatterich seine zerknitterten Flügel.

Polly runzelte die Stirn. »Und wofür braucht ein winziger Wicht wie du bitte so einen großen Koffer?«

»Na ja, also …« Adlerauge räusperte sich verlegen. »Ich wollte Roberta einpacken …«

Ungläubig starrte Polly ihren kleinen Freund an. »Du wolltest Roberta in einen Koffer packen?«

Roberta war eine Elefantendame aus dem Zoo, und Adlerauge hatte sich auf den ersten Blick in die graue Riesin verliebt, nachdem Paul ihm eine Brille aus Kontaktlinsen geschenkt hatte. Ohne diese Mini-Brille war der Fledermäuserich nämlich blind wie ein Maulwurf …

Als Isabella nun von Polly hörte, was Adlerauge vorhatte, kicherte sie los.

»Eine Elefantendame in einem Reisekoffer? Das ist wirklich witzig!«

Auch Polly konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Adlerauge stemmte entrüstet die Flügel in die Seiten. »Ihr habt gut Lachen. Aber denkt hier vielleicht mal einer an mich?« Seufzend ließ er sein Köpfchen hängen. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, von Roberta getrennt zu sein. Selbst wenn es nur ein paar Tage sind …«

Als Polly sah, wie geknickt Adlerauge war, tat es ihr plötzlich leid, dass sie gelacht hatte. Sie wusste, wie es sich anfühlte, wenn man von jemandem getrennt wurde, den man sehr lieb hatte. Auch Polly hatte sich schrecklich gefühlt, als sie damals ihr Zuhause an der Ostsee hatte verlassen müssen, um sich bei Tante Winnie auf die Vampirprüfung vorzubereiten. Und auch wenn sie hier in Hamburg mittlerweile eine Menge Freunde gefunden hatte, vermisste sie ihre Eltern, ihre kleine Schwester Lotti und ihre beste Freundin Leni noch immer sehr. Ganz zu schweigen von den Ponys Gulasch und Suppe, die zu Hause in Kalifornien auf der Koppel auf sie warteten.

Behutsam rückte Polly Adlerauges kleine Brille zurecht. »Der Koffer ist zwar groß, aber ich glaube trotzdem nicht, dass Roberta da hineinpasst … Und denk doch mal an die vielen Kinder im Zoo!«

»Die Kinder?« Adlerauge schniefte unsicher.

»Ja! Die bezahlen extra Eintritt, um Roberta zu bewundern. Ich glaube, sie wären ganz schön traurig, wenn die Elefantendame verreist wäre …« Polly wusste genau, dass Adlerauge es nicht ertragen könnte, die Kinder im Zoo unglücklich zu machen.

Und tatsächlich holte er nun tapfer Luft und straffte die Schultern. »Also gut, Roberta bleibt hier.« Schüchtern blinzelte er Polly an. »Kann ich mich wenigstens noch von ihr verabschieden?«

Polly blickte auf die Uhr. Eigentlich blieb für einen Ausflug in den Zoo keine Zeit. Andererseits tat ihr Adlerauge irgendwie leid … Sie seufzte. »Meinetwegen. Aber beeil dich! In anderthalb Stunden müssen wir am Bahnhof sein, sonst verpassen wir den Zug zur Grotte.«

Adlerauge stieß einen übermütigen Freudenschrei aus und flatterte beschwingt zum Fenster hinaus.

Polly sah ihm lächelnd hinterher. Doch als sie sich im nächsten Moment zu Isabella umdrehte, verflog ihr Lächeln wieder. Isabella starrte wie gebannt auf ein kleines mattes Teilchen auf dem Küchenboden.

»Polly! Siehst du, was ich sehe?«

Polly nickte betroffen. »Ich sehe eine ganze Menge Scherben, ja …«

Isabella schüttelte den Kopf. »Das da ist aber keine Scherbe.« Behutsam beugte sie sich hinunter und hob das Steinchen auf. »Das hier ist ein … Eckzahn!«

Ein Eckzahn? Unmöglich! Ungläubig fasste Polly sich an den Mund und zuckte erschrocken zusammen. Tatsächlich! Dort, wo bis eben noch ihr unterer Milcheckzahn gesessen hatte, klaffte jetzt eine Lücke. Potzblitz! Es stimmte also: Adlerauge hatte Polly einen Zahn ausgeschlagen …

Im nächsten Augenblick stolperte Winifred zurück in die Küche. »Einen Eisbeutel habe ich leider nicht gefunden, aber das hier!« Eifrig klatschte sie Polly eine gefrorene Frikadelle an die Stirn.

Polly verzog das Gesicht. »Ich soll mir meine Beule mit Hackfleisch kühlen?«

»Kein Hackfleisch, Polly! Du weißt doch, dass wir Vampire kein Fleisch essen.« Winnie grinste stolz. »Das hier ist die allerfeinste Gemüsefrikadelle! Selbst gemacht! Und sie ist höchstens … elf, zwölf Jahre alt. Schau doch: Die Erbse da ist fast noch lila!«

Isabella verzog das Gesicht und Polly hielt die Frikadelle weit von sich. Igittigitt!

Tante Winnie rollte mit den Augen und entriss Polly den kalten Gemüseklops. »Meinetwegen. Dann eben keine Kühlfrikadelle! Ich konnte ja nicht wissen, dass ihr so empfindlich seid …« Mit einem gekonnten Wurf katapultierte sie die steinharte Frikadelle durch das Küchenfenster ins Kanalwasser. Dann fiel ihr Blick auf das kleine weiße Steinchen in Isabellas Hand. »Heiliger Krötenschiss! Ist das etwa …?«

Polly ließ die Schultern hängen und nickte. »Ein Eckzahn, ja. Der Koffer hat ihn mir ausgeschlagen …«

Winifred klatschte begeistert in die Hände »Das ist ja wunderbar!«

Polly aber war sich nicht so sicher, ob das wirklich wunderbar war. Immerhin würde bestimmt bald ein neuer Vampirzahn in ihrem Mund auftauchen, und der brachte höchstwahrscheinlich eine neue Zauberkraft mit sich. Sie seufzte. »Ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin für eine neue Vampirkraft …«

Draußen im Flur begann das Telefon zu klingeln. Tante Winnie grinste Polly munter an. »Zauberkraft hin oder her: Du hast jetzt auf jeden Fall einen weiteren Zahn der Zeit! Pack ihn gut weg! Wer weiß, wann er dir noch mal nützlich ist.« Dann tänzelte sie hinaus zum Telefon.

Ein Zahn der Zeit war natürlich praktisch, keine Frage, immerhin konnte man damit den Zauber eines jeden Vampirs rückgängig machen. Nachdenklich nahm Polly ihren Milchzahn aus Isabellas Handfläche und schob ihn ganz tief in ihre Hosentasche hinein. Isabella bemerkte, dass Polly noch immer nicht begeistert war.

»Kopf hoch, Polly. Vielleicht bringt der neue Eckzahn ja gar keine Kraft mit sich. Und selbst wenn …« Isabella lächelte wehmütig. »Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn ich endlich eine Zauberkraft hätte.« Obwohl Isabella schon zwei Vampirzähne auf der linken Seite hatte, hatte sie bisher nicht eine einzige Zauberkraft. Das machte sie oft traurig.

Polly schluckte ihren Unmut hinunter und griff tröstend nach Isabellas Hand. »Du wirst schon noch eine Kraft bekommen, da bin ich mir sicher!« Aufmunternd zwinkerte sie ihr zu. »Aber jetzt fahren wir erst mal zu dieser Grotte und finden heraus, wo deine Familie steckt, okay?«

»Ich fürchte, daraus wird nichts …« Ohne dass sie es bemerkt hatten, war Tante Winnie in die Küche zurückgekehrt und sah die Mädchen betroffen an.

Polly und Isabella wechselten einen irritierten Blick. »Wie … wie meinst du das?«

Winifred seufzte und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Am Telefon … Das war deine Mama, Polly.«

»Meine Mama?« Polly runzelte besorgt die Stirn. »Ist was passiert?«

Tante Winnie nickte geknickt. »Deine Mutter braucht dringend einen Babysitter.«

Isabella biss sich auf die Lippen. »Einen Babysitter für die kleine Lotti?«

»Nein, viel schlimmer.« Missmutig blies sich Winifred eine Locke aus der Stirn. »Sie braucht einen Babysitter für … Cornelius!«

Eine halbe Stunde später schoben sich Polly und Isabella durch das dichte Gedränge in der Bahnhofshalle.

»Windpocken! Dass Papa ausgerechnet jetzt die Windpocken kriegen muss!« Verärgert presste Polly die Flaschen mit dem Blutorangensaft an sich, die sie eben in dem Supermarkt im Obergeschoss gekauft hatten. Isabella stieß sie vorsichtig mit dem Ellenbogen an.

»Ärger dich nicht zu sehr, sonst platzen noch die Flaschen in deiner Hand. Für einen weiteren Supermarktbesuch haben wir keine Zeit mehr.«

Polly blickte auf die große Bahnhofsuhr. Isabella hatte recht. Ihr Zug nach Kiel würde bereits in zehn Minuten abfahren. Wenn sie keinen fiesen Vampirschwindel riskieren wollte, musste sie gut auf die Saftflaschen aufpassen … Und trotzdem konnte Polly es sich nicht verkneifen, ein ganz klein bisschen wütend zu sein. Was war das nur für ein potzblitzblöder Tag? Erst die Suche nach Adlerauge, dann der ausgeschlagene Eckzahn – und zu guter Letzt auch noch der Anruf von Mama! Polly ärgerte sich, dass der erste Ferientag so eine unglückliche Wendung genommen hatte …

Isabella jedoch schien die Planänderung erstaunlich gut zu verkraften. Obwohl es um die Rettung ihrer Familie ging, hatte sie Polly nach dem Anruf von Antonia Schlottermotz tröstend den Arm um die Schultern gelegt.

»Ist schon gut, Polly. Wenn deine Mama unsere Hilfe braucht, sollten wir nach Kalifornien fahren. Du weißt doch: Nichts ist wichtiger als die Familie!«

Polly hatte betroffen den Kopf hängen lassen. »Aber wir wollten deine Familie retten! Darum ging es doch bei der Reise zur Grotte des Vergessens!«

»Wir fahren einfach in den nächsten Ferien zur Grotte!«, hatte Isabella erwidert. »Meine Familie ist seit zweihundert Jahren versteinert, da kommt es jetzt auf ein paar Wochen auch nicht mehr an.« Dann hatte sie ihre Mundwinkel zu einem breiten Grinsen auseinandergezogen. »Außerdem wollte ich schon immer mal Urlaub auf einem Ponyhof machen!«

Polly bewunderte Isabella dafür, dass sie in allem etwas Gutes sah. Selbst jetzt, mitten im dichtesten Bahnhofsgedrängel, schien sie etwas Lustiges entdeckt zu haben. Grinsend nickte sie in Richtung der großen Anzeigetafel.

»Da ist ja unser blinder Passagier.«

Verwundert blickte Polly in die Höhe und sah, was Isabella meinte: Adlerauge! Wie ein aufgescheuchter Glühwicht flatterte er vor der Anzeigetafel herum und versuchte zu entziffern, von welchem Gleis der Zug zur Grotte fuhr. Da er aber noch immer nicht besonders gut lesen konnte und sich die Anzeige jede Minute änderte, hatte er große Mühe, den Überblick zu behalten. Polly musste lachen. »Dieser Passagier ist wirklich blind!« Dann stieß sie einen schrillen Pfiff durch ihre Schneidezähne.

Adlerauge zuckte in der Höhe zusammen und vergaß vor Schreck, mit den Flügeln zu flattern. Quiekend stürzte er in den Pelzkragen einer Dame ab, die unterhalb der Anzeigetafel stand und sich den pinken Lippenstift nachzog. Als sie das Ergebnis in einem Schaufensterspiegel betrachten wollte, entdeckte sie den zappelnden Fledermäuserich in ihrem Nacken und stieß einen hysterischen Schrei aus!

»EINE RATTE! DA SITZT EINE RATTE AUF MEINEM KOPF!«

Nur mit Müh und Not konnte Adlerauge den langen, spitzen Fingernägeln entgehen, die im Pelz herumstocherten. Taumelnd stürzte sich der kleine Wicht aus dem Kragen in die Tiefe und flatterte zwischen den gehetzten Menschenbeinen hindurch. Dann endlich erreichte er die beiden Vampirmädchen und schlüpfte erleichtert in Pollys Jackentasche.

»Eine Ratte? Ich darf doch sehr bitten!« Entrüstet steckte Adlerauge sein feuchtes Näschen aus der Tasche und blickte zur schreienden Lippenstiftdame hinüber. »Ich bin ein Fledermäuserich – noch dazu ein besonders stattliches Exemplar! Und wenn diese Kreischhenne das nicht erkennt, braucht sie wohl dringender eine Brille als ich!«

Polly musste kichern und drängte sich an Isabellas Seite die Rolltreppe zu Gleis 8 hinab. »Du hast recht, Adlerauge. Jeder Blindfisch erkennt, dass du eigentlich ein Löwe im Gewand einer Fledermaus bist …«

Skeptisch blinzelte der kleine Flatterwicht seine Freundin an. »Machst du dich etwa über mich lustig? Ich erkenne so was, oh ja! Mit meinen höchstpersönlichen Adleraugen!«

Polly grinste und ließ ihren Blick über den Bahnsteig schweifen. »Nutz deine tollen Adleraugen lieber, um Tante Winnie zu finden.« Hunderte Menschen tummelten sich am Gleis. Sie trugen riesige Rucksäcke und zogen schwere Koffer oder quengelnde Kinder hinter sich her. Die Ostsee war offenbar ein sehr beliebtes Ferienziel. Polly seufzte. Wie sollten sie Winnie in diesem Gewühl nur finden …?

»Dahinten! Dahinten ist sie!« Isabella nickte aufgeregt über den Bahnsteig hinweg. Tatsächlich! Ganz hinten, am anderen Ende von Gleis 8, hüpfte Tante Winnie auf und ab und ließ ihre wilden Locken zwischen den Reisegästen hindurchtanzen.

Adlerauge hatte unterdessen eine Kleinigkeit bemerkt. »Aber … das ist das falsche Gleis! Dieser Zug hier fährt nach K-I-E-L. Nach Kiel. Und da wollen wir doch gar nicht hin!« Neugierig versuchte er aus Pollys Jackentasche zu klettern, doch Polly drückte ihn sanft mit dem Ellenbogen zurück.

»Es gab eine kleine Planänderung.« Mühsam folgte sie Isabella mit den Saftflaschen durchs Gedränge.

Adlerauge runzelte die Stirn. »Was denn für eine Planänderung?«

Polly atmete tief durch. »Papa hat Windpocken. Und Mama braucht dringend jemanden, der sich um ihn kümmert. Sie hat nämlich einen wichtigen Auftrag und letzte Nacht ist ein Teil des Bühnenbildes verschwunden.«

»Verschwunden?« Adlerauge hielt erschrocken die Luft an. »Du meinst … es wurde gestohlen?«

Polly zuckte mit den Schultern. »Alles, was ich weiß, ist, dass Mama alle Hände voll zu tun hat und Papa … na ja, du kennst ihn ja.« Sie seufzte. »Wir fahren also nach Hause und greifen Mama unter die Arme. Sonst bindet sie Papa am Ende noch auf einem Floß fest und setzt ihn auf der Ostsee aus.«

Adlerauge gluckste amüsiert. »Papa Schlottermotz auf einem Ostseefloß, das ist wirklich witzig. Vielleicht wird er dann ja doch noch ein waschechter Pirat!«

Polly allerdings war nicht zum Lachen zumute. Sie hatte sich diese Ferien ganz anders vorgestellt. Potzblitz! Es würde sicher kein Kinderspiel werden, ihren Vater eine Woche lang zu pflegen und zu beschäftigen, immerhin war Cornelius Schlottermotz ein Mann, der erstklassig leiden konnte. Der einzige Trost war, dass Polly Leni wiedersehen würde. Und natürlich ihre Ponys Gulasch und Suppe!

Hoch konzentriert schlängelten sich Isabella und Polly durch das Labyrinth aus Reisenden und duckten sich unter unzähligen schweren Rucksäcken hindurch. Schon bevor sie Tante Winnie erreichten, hörte Polly ihr fürchterliches Wanderlied. »… oder Tante Winnie fragen, die kennt immer einen Trick, die kennt immer einen Triiiiiiiiick!« Am liebsten hätte Polly sich die Ohren zugehalten, doch sie brauchte ihre Hände, um den Blutorangensaft nicht fallen zu lassen.

Als Winifred die beiden Mädchen entdeckte, hüpfte sie heiter auf sie zu und wedelte mit den Fahrkarten. »Der Zug ist restlos ausgebucht, aber heut ist unser Glückstag: Ich habe gerade noch die letzten zwei Tickets ergattert!«

»Zwei Tickets?« Isabella runzelte die Stirn. »Aber wir sind doch zu dritt.«

Winifred grinste. »Nicht, wenn ihr beide alleine nach Kalifornien fahrt.«

»Was?« Ungläubig sah Polly ihre Großtante an.

Winnie stupste ihr frech an die Nasenspitze. »Es heißt wie bitte, junge Dame.« Sie kicherte. »Gewöhn dich lieber schon mal daran, immerhin verbringst du die nächsten Tage mit deinem humorlosen Vater.«

Auch Isabella musste lachen. In der Tat legte Cornelius Schlottermotz viel Wert auf gepflegte Umgangsformen. Und dennoch fand Polly das alles kein bisschen witzig.

»Du kannst uns nicht einfach alleine fahren lassen! Wie stellst du dir das denn vor? Wir kümmern uns um Papa und du kochst zu Hause Kleebeerengelee?«

Winifred rieb sich den Ellenbogen. »Wer sagt denn, dass ich zu Hause bleibe …?« Polly und Isabella löcherten sie mit einem verständnislosen Blick. »Na ja, also …« Winnie biss sich kleinlaut auf die Lippe. »Wir haben ja immer noch die Fahrkarten zur Grotte und ich dachte mir …«

»Du willst alleine zur Grotte des Vergessens reisen?« Isabella fiel ihr überrascht ins Wort.

Winifred zuckte mit den Schultern. »Einen Versuch ist es wert, oder? Die nächsten Ferien sind erst in drei Monaten. Vielleicht verrät mir die Grotte ja auch ohne dich das Geheimnis, wo deine Familie ist.« Entschlossen verschränkte sie die dünnen Ärmchen vor der Brust. »Außerdem halte ich es keine zwei Tage an der Seite deines Vaters aus, Polly, das weißt du doch. Glaub mir, er wird viel schneller gesund, wenn ich nicht mit einem Schimpfwörter-Schluckauf hinter ihm herjage!«

Damit hatte Winnie sicherlich recht. Papa war ein sehr empfindsamer Mann, und der Schimpfwörter-Spuk, mit dem Winifred ihr Gegenüber verzaubern konnte, brachte ihn regelmäßig an den Rand der Verzweiflung.

Und trotzdem war Polly sich nicht sicher, ob sie den Plan ihrer Großtante wirklich gutheißen sollte. Eigentlich wollten sie dieses Abenteuer doch gemeinsam bestehen. Was, wenn Tante Winnie sich unterwegs verfuhr, zum entscheidenden Zeitpunkt die falschen Fragen stellte oder die anderen Grottenbesucher mit ihrem fürchterlichen Gesang vergraulte? Nein, sie sollten diese potzblitzwichtige Reise zu dritt unternehmen! Auf der anderen Seite … Was hatten sie schon zu verlieren? Vielleicht würde Winnie ja tatsächlich einen Hinweis erhalten, einen Hinweis, der die Suche nach Isabellas Familie beschleunigte …

Ratlos blickte Polly zu Isabella. Auch die schien zunächst zu zögern, dann aber schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen. »Ich finde, das ist eine wunderbare Idee, Winnie. So können wir Pollys Mama helfen und trotzdem nach meiner Familie suchen. Also … nur wenn du das Angebot wirklich ernst meinst natürlich.«

»Und ob ich es ernst meine!« Winifred klatschte begeistert in die Hände, da blies der Schaffner in seine Trillerpfeife. »Euer Zug fährt ab!« Vergnügt nahm Tante Winnie den Mädchen die Saftflaschen ab und stopfte sie in einen alten Jutebeutel, den sie Polly über die Schulter hängte. »Das wird wunderbar! Ein großes Abenteuer! Grüßt mir Papa Windpöckchen und …«

»Nicht so schnell!« Polly blickte ihre Großtante forschend an. »Isabella und ich steigen nur allein in diesen Zug, wenn du ein paar Bedingungen erfüllst!«

»Bedingungen? Was denn für Bedingungen?« Winifred legte überrascht den Kopf schief.

Polly prüfte sie mit einem strengen Blick. »Du rufst an, sobald du aus der Grotte raus bist!«

»Anrufen?« Verwundert blies Winnie sich eine Locke aus der Stirn. »Aber ich hab doch gar kein Handy.«

»Dann suchst du dir eben ein Münztelefon.«

Die Trillerpfeife ertönte zum zweiten Mal. Tante Winnie zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen. Ich ruf euch an. Jetzt müsst ihr aber dringend einsteigen, sonst …«

»Ich bin noch nicht fertig!« Entschlossen verschränkte Polly die Arme vor der Brust. »Wir steigen nur in diesen Zug, wenn wir in Zweierteams reisen.«