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Picknick in Sodom


Picknick in Sodom

Short Stories
1. Aufl.

von: Janek Heinrich

4,99 €

Verlag: Universal Frame
Format: PDF
Veröffentl.: 15.10.2011
ISBN/EAN: 9783905960341
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 112

Dieses eBook erhalten Sie ohne Kopierschutz.

Beschreibungen

Janek Heinrich, der in einem Leuchtturm an der Nordseeküste lebt, schreibt nicht nur von der Waterkant. Seine Geschichten berühren unterschiedlichste Themen und sind voller Humor und Witz. Es geht um die Sucht moderner Teenager up to date zu sein, das Setzen eines Stents, Kinderspiele am Ostseestrand, Dienst bei der Bundeswehr, Spatzen, ein Picknick mit liebestoller Einlage in Köln, eine grässliche Geschichte mit einem Hai, einem geretteten, potentiellen Selbstmörder, Probleme mit einer Schweinezucht, eine Kartoffel, die eine wundersame Verwandlung auf dem Markt in Nürnberg erlebt, Erinnerungen an die Nachkriegszeit und Bella Italia, Demenz, Postkartenschreiben aus den Ferien und zuletzt auch um Sex.
Pale Sister

Ich steckte das Photo in meine Jackentasche zurück. 
Nur ein Junge, der im Sonnenschein einen Apfel aß, war darauf zu sehen, mehr nicht. 
Meine Güte, dachte ich, wie lange war das jetzt her, dass ich selbst einen echten Apfel gegessen hatte – dreißig Jahre oder mehr?
Ich schloss das Gartentor hinter mir und ging den Kiesweg entlang – der Rasen könnte auch mal wieder geschnitten werden, dachte ich.

„Guten Tag Commander Smith“. Die Haustür hatte mich identifiziert und schwang lautlos nach innen.
Ich begab mich, an der Küche vorbei, direkt zum Wohnzimmer. „Hallo Mädels, ich habe da was für euch“, sagte ich in den abgedunkelten Raum hinein, aber sie hörten mich nicht. 
 
Meine drei Grazien lagen vor dem Bildschirm.
Sie trugen diese dicken Plastikbrillen, die für den 3D – Effekt sorgten und Kopfhörer für den Ton in Surround.
Sie waren bleich wie chinesische Gräfinnen – bleich genug, um zu gefallen; kein Sonnenstrahl durfte sie treffen. Man wollte sich auf dem Schulhof schließlich nicht blamieren.
Die Augen hatten rot zu sein, die Lider bläulich, und wer es schaffte seine Haut in blasses Pergament zu verwandeln, hatte gute Chancen auf den ‘Pale Sister’.
Der ‘Pale Sister’ ist mehr als nur eine Auszeichnung für die Besten, es ist ein Award, der über die Namenlosen herrscht – der Traum und das Ziel.
Die Mädchen verglichen oft ihre Unterarme, um zu sehen, bei welcher wohl die Adern und Sehnen am deutlichsten hervor traten und ob sie auch die richtige Farbe hatten.
Es war nicht mehr die Frisur die zählte, nicht groß oder klein, und wenn Dünne auch immer gute Chancen hatten, so konnten trotzdem auch Üppige gewinnen, wenn nur eine Krampfader in der richtigen Farbe ihren Busen zierte.
Alles hatte sich überholt. Die Piercings, die Brandings und die Tätowierungen sowieso. Wie albern, wer damit herumlief.
Wie reizlos, wie muffig, wie abgeschmackt.

„Kultur ist das Gegenteil von Natur. Kultur kommt von Kunst. Kunst von künstlich. ‘Künstlich’ ist das Wort! Aus dem freien Geist der Freien geboren“, wie W.C. Cult immer so treffend sagt, „frei in dem Streben nach wahrer Schönheit, ohne göttliches Zutun“.
Viele hatten es versucht. Alle waren gescheitert.
Sie hatten sich bis zur Unerträglichkeit Farbe unter die Haut gejagt. Oder Stahlkugeln. Oder Nägel. Die Zunge gespalten, ein Auge ausgestochen oder die Lippen amputiert. Nur um der Wahrheit, der Individualität willen.
Sie waren Helden.
Sie waren lächerliche Helden, aber sie waren unsere Vorkämpfer und Sie hatten die Idee von ‘Pale Sister’ erst möglich gemacht.
HumART heißt die Gesellschaft, die den begehrten Preis verleiht und ihr Präsident und Vordenker ist: W.C. Cult.
Ein unscheinbarer kleiner Mann, der immer graue Anzüge trägt die keine Taschen haben, als Zeichen für seine Unbestechlichkeit. Er trägt keine goldenen Ringe und nicht einmal eine teure Armbanduhr, aber diese Unauffälligkeit ist es wohl, die seinen machtvollen Status umso mehr unterstreicht.
Der Preis geht an die ARTigen, wie man sagt. Je weniger die äußere Erscheinung dem Natürlichen ähnelt, desto ARTiger, desto besser. W.C. Cult spricht jeden Tag zu uns auf ARTV und die Sendung wird rund um die Uhr wiederholt; andere Sendungen gibt es nicht.
Alle zehn Minuten gibt es Werbung und da wird alles feilgeboten, was man braucht um das hohe Ziel zu erreichen. Von Implantaten, über entstellte Gliedmaßen, bis hin zu Medikamenten, die alle möglichen Störungen im Organismus verursachen.
„Gelenkte allergische Reaktionen“, waren bis vor kurzem noch auf jedem Wunschzettel zu finden, aber im Moment heißt die oberste Devise: „Durchscheinende Haut und Adern in leuchtendem Pastell.“
Die Mädchen klebten jede freie Minute in dämmriger Dunkelheit vor dem 3D-Schirm. Ich war besorgt.

Ich berührte den Taster und die Wände des Wohnzimmers wurden langsam hell.
„Hey, was soll das? Bist du verrückt? Mach’ das Licht wieder aus!“
„Ja, Papa, das Bild wird unscharf.“
Ich lächelte. „Nein, setzt mal die Brillen ab, ich will euch etwas zeigen.“
„Etwas zeigen? Hast du uns was mitgebracht?“
Ich nickte.
Sie warfen ihre Brillen beiseite. Was ist es? Was hast du uns mitgebracht? Blutdruckpillen? Austrocknungscreme? Antivitamin?“
„Nein, ich habe etwas auf dem Dachboden gefunden. Hier, seht mal.“
„Was soll das sein?“
„Das ist ein Photo von eurem Großvater.“
„Was ist ein Photo?“
„Ein Photo ist ein Bild.“
„Das ist kein Bild. Es bewegt sich nicht.“
„Früher war das so.“
„Aber das ist kein Großvater, das ist ein Kind. Ein hässliches Naturkind.“
„Oh nein, seht mal, er steht in der Sonne. Er wird eine ekelig braune Hautfarbe bekommen.“
„Er hat keine Augenringe, keine Narben und keine Implantate. Papa, warum zeigst du uns so was? Sollen wir schlecht schlafen, oder wie?“
„So sehen Menschenkinder eigentlich aus. Damals, zu Opas Zeiten jedenfalls“ sagte ich.
„Die Armen. Gut, das wir nicht mehr so gruselig natürlich sein müssen. Was isst der da eigentlich?“
„Das ist,“ ich griff in meine Jackentasche, „das ist ein Apfel – ein echter. Wollt ihr mal probieren?“
Sie wichen zurück, wie Vampire vor einem Kruzifix.
„Iiihh, Papa, nimm das weg!“
„Nimm es weg, bitte!“
„Das ist Natur, es ist ekelhaft!“
„Schon gut, schon gut“, ich steckte den Apfel in meine Tasche zurück und lächelte.
„Ich muss nochmal los“, sagte ich, „aber wenn ich zurück bin, ist erst mal Schluss mit Fernsehen, O.K.?“
Die Mädchen rollten sich zurück auf die Polster und gaben keine Antwort – sie wollten sich wohl nicht festlegen lassen.
Ich verließ den Raum und drückte auf den Taster damit das Licht wieder gedimmt wurde.
Erst nachdem ich das Haus verlassen hatte, öffnete ich die Klappe in meinem Unterarm. „Zentrale? Hier ZKNS2050. Die Mädchen sind sauber. Alles auf Linie. Muss eine Fehlinformation gewesen sein“.
Das Foto kam zurück in die Schutzhülle. Der Apfel in die Klimabox.
Ich ging ein paar Schritte in den Garten, dann schaltete ich die Tarnkappe aus. Ein Prototyp, aber sie funktionierte – ich würde einen Bericht schreiben müssen.
Ich ging langsam über den Kiesweg und schloss das Tor sorgfältig hinter mir.
Der echte Mr. Smith würde frühestens in einer viertel Stunde nach Hause kommen.

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