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Flieh zu den Sternen


Flieh zu den Sternen


1. Aufl.

von: Eduard Breimann

7,49 €

Verlag: Universal Frame
Format: EPUB
Veröffentl.: 02.04.2010
ISBN/EAN: 9783905960082
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 376

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Jetzt ganz aktuell: Die Geschichte eines Kindesmissbrauchs
Der dreizehnjährige Nick, ein notorischer Schuleschwänzer, rennt nicht nur physisch davon, wenn ihm immer wieder unsägliche Dinge geschehen und er wegen eines an sich belanglosen Körperschadens gekränkt wird, auch sein Geist entflieht der unerträglichen Realität; er sucht Zuflucht auf einem erdachten
Stern. Hier findet der Junge Trost durch Freunde und Beschützer, die ihn vor dem Zerbrechen bewahren.
Die Verhältnisse in denen er aufwächst sind katastrophal. Seine Mutter trinkt und geht anschaffen, sein Stiefvater, ebenfalls Trinker und arbeitslos, verkauft ihn immer wieder an einen Kinderschänder.
Halt findet er später in der Freundschaft zu dem zwei Jahre älteren Janosch,mit dem er sich eine Zuflucht im Keller eines Abbruchhauses schafft. Als er sich auf drastische Weise seines Peinigers entledigt, tritt eine grundsätzliche Wende in seinem Leben ein. Die Einweisung in ein Heim, vor der er sich immer gefürchtet hatte, bietet ihm aber die Möglichkeit, nicht nur seine Vorurteile abzubauen, sondern auch – trotz zahlreicher Komplikationen – zu einem liebenswürdigen jungen Mann heranzuwachsen, der den richtigen Beruf und wohl auch die Partnerin fürs Leben gefunden hat. Dieser spannende und ereignisreiche Roman – mit Mord, Brandstiftung und Gewalt, der Freundschaft mit einem Penner und dem schwierigen Prozess für Nick, zwischen Liebe und Freundschaft zu unterscheiden, ist anrührend zu lesen und bietet – nicht zuletzt – jungen Menschen Denkanstösse für ihr eigenes Leben.
Eduard Breimann wurde in Aachen geboren, wuchs im Münsterland auf und lebt seit vielen Jahren in einer rheinischen Kleinstadt. Als Informatiker war er lange Zeit in einem Grossunternehmen tätig.
Seine Leidenschaft galt schon immer dem Schreiben: ständig als Journalist für Zeitungen und Zeitschriften, dann als kenntnisreicher Historiker und Autor von drei Bänden über regionale Geschichte.
Es folgten zahlreiche Kurzgeschichten, preisgekrönt, in Anthologien und schliesslich in zwei Sammelbänden veröffentlicht, in denen Probleme des heutigen Lebens einfühlsam dargestellt, Schwierigkeiten des Miteinanders und die Existenz von Aussenseitern geschildert werden.
Im Frühjahr 2007 erschien mit „Das fremde Land“ sein erster Roman, in dem das Schicksal ehemaliger Zwangsarbeiter in Deutschland, während der Kriegszeit und bei einem heutigen Besuch in Deutschland, in anrührender Weise dargestellt wird.
Mit „Das Projekt Hannibal – Der Fall Barschel“ (erschinen im Herbst 2007) erreichte er ein neues Niveau seiner literarischen Tätigkeit und reiht sich ein in die Riege lesenswerter Thriller-Autoren. Aufsehen erregte dieser Roman vor allem, weil in ihm – anhand sorgsamer Recherchen – die Ermordung Uwe Barschels anhand von Fakten minutiös und wahrheitsgetreu, dargestellt wird. Heute zeigen sich in der Ermordung (20.01.2010) des Hamas-Mitgliedes Mahmud al-Mabhouch durch den israelischen Mossad in einem Hotel in Dubai eindeutige Parallelen zum Mord an Uwe Barschel.
In dem jetzt (2010) erschienen Jugendroman „Flieh zu den Sternen“ greift er das aktuelle Thema des Kindesmisbrauchs auf und schildert spannend den Weg eines im asozialen Mileu aufgewachsenen, missbrauchten Kindes zu einem jungen Mann, der auf dem rechten Weg ist.
Eins „Nick! Alte Lebensregel: Wenn du diese Scheißangst hast, dann lauf weg.“Die Stimme war laut, pochte und klopfte an die Schädeldecke, wiederholte ständig „… dann lauf weg!“. Einen Augenblick lang dachte er, sein Freund stünde neben ihm. Immer wieder beschwor ihn die Stimme und löste doch nichts aus. Die Beine bewegten sich Schritt für Schritt, führten ihn ohne sein Zutun auf das Tor zu. Die Halle, aus Beton errichtet, sah aus wie ein Bunker; nur das Tor und kleine Fenster, die verschmiert und undurchsichtig im Sonnenlicht lagen, lockerten die Front etwas auf. Er war noch ein Stück weit weg von dem Bau, schaute auf das Tor und das Dämmerlicht, das dahinter sichtbar wurde, je näher er kam. Er glaubte den Moder zu riechen, der stärker geworden war, seitdem die Arbeiter die Halle verlassen hatten. Schon von weitem sah er die ölig glänzenden Betonplatten, die Schleifspuren, die Bootskiele geritzt hatten, wenn sie von den Slipwagen heruntergezogen wurden. „Nie mehr! Nie mehr, geh ich da rein – nicht mit diesem Dreckskerl“, hatte er sich vorgenommen und das schwor er nach jedem Mal verzweifelter. Doch dann fühlte er umso schmerzhafter sein Versagen, begriff, dass seine Schwüre nur Luft waren, nichts als ein lauer Wind.„Eher sterbe ich“, hatte er einmal zu Janosch gesagt. „Das ist kein Scherz.“„Mach das lieber nicht. Dann fressen dich die Würmer und das macht auch keinen Spaß“, hat Janosch geantwortet und dabei seine langen Haare nach hinten geworfen und gegrinst. „Schlechter als tot sein geht gar nicht. Dann siehste auch nicht mehr so gut aus“.„Doch, geht wohl! Janosch weiß gar nichts. – Manchmal ist der so kalt, versteht einfach nicht, wie das hier ist“, dachte er. „Ich sehe doch jetzt schon Scheiße aus.“ Er wusste nur zu gut wie er aussah. ‚Dürr’ sagte seine Mutter, ‚Schlackes’ nannten ihn andere Jungen – wenn sie nicht Krüppel sagten. In seinem schmalen Gesicht dominierten die großen wasserblauen Augen; sein aschblondes Haar hing ihm in die Stirn. Für den Friseur gab er nie Geld aus, das machte Janosch kostenlos mit einer Nagelschere. „Bist ein hübscher Junge“, sagte der hinter der Tür immer – und darum fand er sich hässlich.Er spürte die Sonnenwärme auf dem Kopf und fror doch entsetzlich; Kälteschauer rannen vom Nacken bis zum Gesäß. Noch drei Schritte bis zum Toreingang, bis zum Dämmerlicht, und dann noch einmal gut fünfzig Schritte bis zur Hölle auf Erden. Er stockte, genau auf der Grenze zwischen Dunkel und Hell, zwischen Leben und Tod, zitterte von der Kopfhaut bis zu den Zehen. Er hasste das alles, diesen Körper, der gegen seinen Willen benutzt wurde.„Was wäre das schön, wenn man keinen hätte. Keiner könnte dann … Man würde einfach so ein Geist sein. Wofür braucht man den bloß? Für solche Schweine?“Der Speichel schoss ihm in den Mund. Er bemerkte es nicht, war schon fast körperlos. Als er in die Halle trat, riss er die Augen auf. Er wusste, dass er für Sekunden blind sein würde, schaute hoch zu den Stahlträgern, auf die das Licht aus den hohen Fenstern fiel und an denen Ketten und Drahtseile hingen. Langsam weiteten sich seine Pupillen; schemenhaft sah er die Holzkisten, die leeren Werkbänke, die ringsum an den Wänden standen. Er wusste genau, wie sie aussahen; ihre Arbeitsplatten waren schwarz, verbrannt von Schweißflammen, überall glitzerten Eisenspäne und Riefen zogen sich kreuz und quer über die Platten. Am anderen Ende der Halle glimmte eine von Staub und Fliegendreck halbblinde Lampe; ihr Licht fiel auf eine Eisentür und eine zweistufige Treppe. Wenn sie brannte, war Er da, der Stinker. Früher war dahinter das Meisterbüro gewesen. Früher! Jetzt war da das Grauen, das ihm die Albträume brachte. Im Raum hinter dieser Tür war Er.Wenn diese Lampe brannte, dann wartete Er. Er wusste es; es war so sicher wie die Tatsache, dass ihn seine Mutter niemals Nick, sondern nur Nikolaus nannte, obwohl er den Namen hasste – fast so sehr wie den Stiefvater, die Drecksau, die ihm gerade in den Hintern trat. „Nein, weniger. So viel wie den kann man gar nichts anderes hassen. Doch, kann man. Diesen da im Meisterbüro, den ja. Den noch viel mehr. Bis zum Himmel und zurück zur Hölle. Ich hasse beide. Ich hasse sie!“„Dann tu was! Schlag die Drecksau tot, wenn sie besoffen ist. Stich den Stinker ab.“„Oh, nein! Ich kann das nicht.“„Mach! Los, Nikolaus Bregulla! Lahmer Krüppel!“Am Anfang hatte er gedacht, der Mann, den er in Gedanken – und auch gegenüber Janosch – nur ‚Stinker’ nannte, der würde dort wohnen, hinter dieser Tür. Der Mann hinter der Tür war aber nur da, wenn er in diese ehemalige Bootswerkstatt ging – wenn er hinein gehen musste. Nur dann brannte diese Lampe, nur dann war die Tür nicht verschlossen. Das alles hatten Janosch und er längst festgestellt.Auf der Rückseite des Gebäudes gab es noch eine Tür; sah genau so aus wie diese. Zu der Tür führte ein Weg aus schwarzer Asche; er zweigte von der Straße ab, die von der Unterwarnow kam und vor dem breiten Werkstatttor endete. Hinter der Halle war Platz für zwei oder drei Autos. Janosch war sicher, dass der Stinker aus Warnemünde oder aus Rostock kam und genau hier sein Auto abstellte. „Bestimmt eine Edelkarosse, die so leise fährt, dass du sie erst hörst, wenn sie dich schon überrollt hat“, sagte Janosch, der diese Kisten angeblich hasste, aber hin und wieder den Wunsch äußerte, damit mal über den Sachsenring zu brettern, bis der Motor kotzen müsste.Nick schluckte die Spucke herunter und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. In den Oberschenkeln zuckten die Muskeln, in der Leiste spürte er ein Ziehen, das sich bis zu den Pobacken hinzog und in seinen Ohren rauschte das Blut so laut, dass er das Grunzen des Mannes kaum hörte. „Mach voran! Wachs nich an, Krüppel.“„Wenn du diese Scheißangst hast, dann lauf weg!“„Ja, ja. Aber wohin? Ich kann nur zu den Sternen fliehen, nur zu meinen Freunden.“„Du sollst nicht weglaufen. Tu was! Wehr dich. Oder willst du uns kaputt machen?“Die Hitze in seinem Kopf war kaum zu ertragen. Er fühlte sie wie die Sonne, dachte, dass sie sein Gehirn verbrennen würde. Er hatte Angst vor der Hitze, wusste nichts damit anzufangen. Er hasste diese Furcht, diese Scheißangst. Davon kam das doch alles.„Wenn du diese Scheißangst hast, dann lauf weg. Lauf einfach weg. Auch wenn deine Beine nicht wollen. Lauf! Du bist schnell. Hau einfach ab“, sagte Janosch immer wieder; einen anderen Rat konnte der ihm auch nicht geben.„Abhauen?“, fragte er sich flüchtig und ging trotzdem weiter, lief nicht weg. Wohin denn auch? Er musste es hinnehmen; abhauen war nicht. Wenn der Alte ihn einmal hatte, gab’s kein Entkommen mehr. Janosch hatte gut reden. Der da hinter ihm, der ihn mit den Fäusten durch die Halle trieb, dabei wie ein Schwein grunzte, der ihn Krüppel nannte und mit dem Knie in den Hintern stieß, der hatte hier und zu Hause das Sagen. Da gab’s nichts dran zu mäkeln. Nichts.Er ging langsam weiter, tat so, als müsse er Ölflecken und Putzwolle ausweichen. Einfach Zeit gewinnen, obschon es ja nichts brachte.„Zeit! Zeit! Vielleicht haut der Stinker ja ab, weil’s ihm zu lange dauert. Vielleicht fällt ein Flugzeug vom Himmel, direkt auf die Halle. Vielleicht geht die Welt unter. Vielleicht … Langsam, Nick!“Neben der Tür lagen dicke Taue, aufgerollt, verdreht, ordentlich hoch gestapelt, wie Reifen. Da konnte sich ein dürrer Junge, so einer wie er, durchaus drin verstecken, ohne dass auch nur ein Haarbüschel rausschaute. Daran hat er schon mal gedacht. Flüchtig. Nur für alle Fälle. Neben und hinter den Tauen lagen Flaschenzüge und eine Menge von diesen Holzkisten gab‘s, die überall in der Halle herum standen. Niemand holte die ab, interessierte keinen. War ja auch nur Zeug drin, was keiner gebrauchen konnte: nicht mal Janosch. Lange, grob gezimmerte Kasten waren das, deren Inhalt sie untersucht hatten. Absolut nicht, was sie gebrauchen konnten. Das hieß schon was, denn sie konnten eine Menge gebrauchen. Sachen, die andere einfach wegwarfen: Nägel Schrauben oder gebrauchte Putzlappen.Stattdessen waren da verbeulte Signalhörner, Ketten, Fallenstopper, verrostete Relingbeschläge, eine zerdepperte rote Positionsleuchte – „für Backbord“, hat Janosch gewusst–, abgenutzte Deckbürsten, Holzkeile und Eisenstangen für die Reling.Auf der vordersten Kiste, direkt neben dem Gang zur Tür, lag ein Stück Tau. Hatte er selber dort abgelegt, quasi als Prüfmerkmal, ob einer dran gewesen war an der Kiste. In der war allerdings was drin, was schon einer gebrauchen konnte, etwas, was da normal nicht rein gehörte. Nur ein Gegenstand. Den hat er beim letzten Mal dort versteckt, als er mit Janosch hier war, um was über den Stinker zu erfahren. Hatte aber nichts gebracht. Rein gar nichts brachte die Suche nach dem Stinker, es war wie verhext.Sie haben alles untersucht, nur den Raum am Ende der Halle nicht. Da kamen sie einfach nicht rein, der war durch diese Eisentür abgeschlossen – und innen zusätzlich noch mit Sperrbalken verrammelt. Bei der Tür draußen war’s genau so unmöglich.„Etwas gibt es aber. Jeder Gangster macht Fehler. Nur finden müssten wir das“, hat Janosch behauptet.„Beim nächsten Mal, also wenn ich davon weiß, dann flitze ich hinter die Werkstatt und versteck mich. Wenn dort eine Luxuskarre steht, schreib ich die Nummer auf. Dann haben wir das Schwein am Wickel. Wir erpressen den. Entweder der zahlt, oder wir zeigen den an. Der legt glatt eine Million hin, sollst sehen.“Während Janosch sich mit einem Kettenzug durch die Halle schaukelte und „Störtebecker“ schrie, hat er das Springmesser in diese Kiste gesteckt. Leise, sehr leise, hat er es in den Holzboden der Kiste gedrückt – griffbereit. Mit einem Öllappen hat er es zugedeckt, und das Taustück auf die Kiste gelegt. Wofür? Er hatte keine Ahnung – höchstens ein Gefühl. Wie bei den Taurollen. Für alle Fälle eben.Er schielte zur Kiste, berührte sie leicht mit der Außenseite des Turnschuhs, zwang sich, geradeaus zu schauen, auf den dreckigen Boden. Der Beton glänzte fettig. Ölschlieren färbten den Boden. Er dachte flüchtig an seine Turnschuhe, die nachher wieder diese elenden Flecken haben würden. Von der Decke hingen Ketten mit Haken. Eine Laufkatze ohne Motor endete direkt vor der Tür. Der Raum roch nach Öl, altem Fett und geschichtetem Dreck. Er saugte den Geruch tief ein; hinter der Tür würde er nicht mehr atmen. Er verharrte vor der Eisentreppe und blickte auf das Metall der Tür, von dem die Farbe abblätterte. Seine Beine zitterten wie verrückt und im Mund war jetzt keine Spucke mehr.„Mach! Los! Auf wat warteste?“, sagte der Mann hinter ihm und gab ihm einen Stoß zwischen die Schulterblätter. Er fiel nach vorne, stützte sich auf der Treppenstufe ab und wollte gerne sterben. Jetzt, sofort. Nichts als tot sein konnte er sich wünschen; der einzig denkbare Ausweg aus dieser Scheiße.„Sternenfreunde, wo seid ihr. Helft mir!“„Soll ick dir Beine machen, Krüppel?“Das Licht der Drahtgitterlampe reichte gerade, um die Tür und die zwei Stufen zu beleuchten. Er wusste, der Raum dahinter war fensterlos, würde noch dunkler sein als die Halle. Seine Hand war gefühllos, als er die Klinke herunter drückte; die Tür schwang lautlos auf. Der Raum war fast völlig dunkel. Die zwei Wandlampen mit roten, sehr dichten Schirmen, drüben an der anderen Wand, konnten die Dunkelheit nicht brechen; sie warfen rötliches Licht auf das Kopfkissen. Das Bett, fast so breit wie der ansonsten leere Raum, war das einzige Möbelstück.Undeutlich erkannte er den Umriss der anderen Eisentür, direkt neben dem Bett. Diese Tür war abgeschlossen. Beim ersten Mal hat er versucht zu türmen, hat wie irre an der Klinke gerüttelt. Das war, als der Stinker ihn angefasst hat, als er Sachen verlangt hat, die er nicht tun wollte. Er hat es dann doch getan. Aber erst, als er nicht mehr anders konnte, weil er sonst sterben musste. Ihm wurde immer schlecht, richtig übel, so vom Bauch her, wenn er daran dachte.„Komm her! Du bist spät dran, Kleiner. Hab nicht ewig Zeit.“„Ich sterbe. Ich kotze. Ich möchte eine kleine Maus sein, eine Schabe, eine Spinne. Weg! Weg!“„Steche ihm die Finger in die Augen. Mach was!“„Ich kann nicht.“Die Stimme von dem Stinker war eigentlich angenehm, nicht laut, hatte Volumen, klang harmonisch. Er hörte sie noch eine ganze Zeit danach und dachte immer, der Mann müsse riesig sein, mit einem Brustkorb, so groß wie ein Fass; nur wegen der Stimme.Die Luft im Raum war angefüllt mit diesem Geruch; ihm war, als schwimme er darin, als müsse er darin ertrinken. Es war das, was sein Alter, der jetzt draußen vor der Tür stand, ‚Nuttenparfüm’ nannte. Seine Mutter hatte mal so was in der Art drauf gehabt, als sie aus der Stadt kam. Hatte zwar anders gerochen als das hier, aber es hatte ihn genau so benebelt. Dafür hatte sie von ihrem Kerl ordentlich Prügel gekriegt. „Nutte“, hatte der Alte sie genannt und den Geruch deshalb „Nuttenparfüm“ geschimpft.Ihm war, als könne er ihn anfassen, ihn wegwischen oder wegpusten. Er hüllte ihn ein, drang durch die Nase und in den Rachenraum. Er wusste nicht, dass er diesen Duft in seinem ganzen Leben nicht vergessen würde, wusste nicht, dass die Duftstoffe über Riechepithel, bipolare Rezeptorzellen und Axone in sein Gehirn gelangen und sich dort einlagern würden – für sein ganzes Leben. Er ekelte sich vor dem ‚Gestank’, wie er ihn nur nannte – wie vor dem Mann, der im Dunkeln auf ihn wartete. Noch nie hat er den gleichen Geruch draußen bemerkt; nicht in ihrer Wohnung und nicht in der Siedlung. Aber er wusste, dass er ihn nie mehr vergessen würde. Nie! Das wusste er so sicher, wie sonst nichts.„Komm Kleiner, komm. Sei lieb zu mir.“Er atmete nicht mehr durch die Nase, zog die Luft flach durch den Mund, stakste voran, zögerte, setzte noch einen Schritt vor, wartete. Hinter ihm knallte die Tür zu; der Sperrriegel ratschte über das Blech. Er sah den Stinker nicht, fühlte den Luftzug, als er dicht an seiner linken Seite vorbei ging. „Gefangen! Keiner da, der mir hilft. Ich bin nicht mehr Nick. Doch! Ich fliehe. Ich geh zu meinen Sternenfreunden, zum Königsstern. Lass den hier machen, was er will. Ich bin nicht mehr hier. Er kann mich nicht festhalten.“In seinem Kopf tat sich was. Er spürte die heiße Hand, die ihn zog, an seinen Sachen zerrte. Im Kopf tat sich was. Eine Welle, heiß, irre heiß, schoss durch den Schädel.„Selbstmitleid hilft dir nicht. Du musst dich wehren. Hättest du bloß das Messer genommen, du Feigling. Ich hätte es ihm schon gesteckt.“„Nein! Ich kann so was nicht. Nicht so was!“„Tue’s! Verdammt, wir gehen sonst kaputt! Tue’s!“„Nein! Nein!“In seinem Kopf war Streit. Die Gedanken tobten wie wild und bewirkten nichts. Er wusste genau, was er tun musste – was. Er mit ihm tun würde. Er atmete nicht mehr.Das Tageslicht blendete ihn, die Sonne stand schräg am Himmel; es war wohl schon Nachmittag. Sein Stiefvater stand vor der Hallentür; der Schatten fiel lang in den Eingang. Nick hielt die Rechte auf die Brust gepresst, wo er die schlimmsten Schmerzen hatte; es brannte wie Feuer.„Brenne, brenne, Satan!“, hatte der Stinker gerufen, als er ihm das Kreuz in die Haut geritzt hatte. „Oh, mein Gott, wie schön“, hatte der Stinker gestöhnt, als das Blut an seinen Seiten herunter lief.Mit einem messingfarbenen Kreuz, mit gezacktem Querstück, hatte er ihm das Mal auf die Brust geschnitten und es danach bestimmt zehn Mal geküsst. Er hatte so starke Schmerzen gehabt, dass er vom Königsstern herunter kommen musste. Er hatte geglaubt sterben zu müssen und da wollte er lieber dabei sein, wenn’s soweit war.„Gib her, Bursche! Wat hatta dir gegeben, der Arsch?“Er ging steifbeinig durch die Halle auf den Mann zu, hielt ihm die beiden Scheine hin, die an seiner schweißnassen Hand klebten. Der Mann riss das Geld an sich, hielt es vor die Augen. Schwankend stand er da, zwinkerte mit den Augen, die ihm immer wieder wegrutschten.„Zzz, Zzz. Zwo Fuffzicher! Na also! Hat sich dat doch überlegt, die Sau, wat ick dem angedroht hab. Hätte dem auch wat erzählt, wenn der nich verdoppelt hätte. Kannst dir ’ne Cola holen. Da.“Der Mann, der sich sein Vater nannte, rülpste und schwankte, hielt ihm ein Geldstück hin; die Hand pendelte, bewegte sich vor seinem Gesicht hin und her, flatterte im gleichen Rhythmus wie der Stiefvater, der Mühe hatte, senkrecht zu stehen. Nick schlug die geballte Faust unter die Hand, blickte dem Geldstück nicht nach, das mit Lichtblitzen in die Luft flog, drehte weg und sprintete los, raus aus der Werkstatt, auf die ‚Tote Straße’. Die wütenden Schreie hinter ihm verhallten.Die ‚Tote Straße’. So nannten sie das Asphaltstück, die ehemalige Zufahrtsstraße, die jetzt nirgendwo hin führte und die bei der Bootswerkstatt immer schmaler wurde, weil Gras und Unkräuter sich Jahr für Jahr von den Rändern aus vorarbeiteten und den Asphalt zerbröselten.

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